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Rezensionen
ITGG Berlin - Rezensionen
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Ausstellungen

STOA 169

Künstler*in:Bernd Zimmer und 121 weitere Künstler
Ausstellung:Polling im Pfaffenwinkel
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:09.08.2023

Beim Namen und Begriff Stoa denken die meisten von uns wahrscheinlich an eine altgriechische Philosophenschule - und das zu Recht. Diese Gruppe von Denkern, die von dem Phönizier Zenon (336-264 v. Chr.) gegründet wurde, war derart mittellos, dass sie es sich nicht leisten konnte, wie die Platoniker und Aristoteliker eine eigene Akademie zu bauen. Die Stadt Athen erlaubte ihnen deshalb Zusammenkünfte in einer bunt bemalten Säulenhalle, die im Griechischen als Stoa bezeichnet wurde. Der Name für diese Philosophengruppe bezieht sich also auf den Ort ihrer Treffen.

Den Mittelpunkt vieler stoischer Lehren bildeten ethische Überlegungen, die um drei zentrale Begriffe angeordnet waren: Autarkie, Apathie (möglichst wenig Leiden und Leidenschaften) sowie Ataraxie (Seelenruhe des Gemüts). Die Stoiker fragten sich immer, wie Menschen tugendhaft werden können, und sie empfahlen, dass man zu möglichst vielen weltlichen Zielen Distanz halten sollte. Als Vorbild galt ihnen Sokrates, der stets darauf achtete, Herr seines Schicksals zu bleiben.

Alle Phänomene der Natur hingen für die Stoiker durch Sympathie zusammen. Ihnen zufolge gibt es eine Weltharmonie, die sich dem Denken erschließt. Hat man sie einmal erfasst, wird man danach trachten, im persönlichen Lebenslauf mit der Natur übereinzustimmen. Dieses sympathetische Empfinden bedeutete den Stoikern eine erstrebenswerte Tugend. 

Warum dieser kleine Exkurs in die griechisch-antike Philosophie? Nun, manches dieser stoizistischen Überlegungen findet sich als Atmosphäre in einer Künstlersäulenhalle wieder, die seit wenigen Jahren in Polling, einem kleinen Ort im oberbayerischen Pfaffenwinkel, zu bewundern ist. Zwischen Starnbergersee, Staffelsee und Ammersee gelegen, überrascht den unbedarften Besucher oder Wanderer eine griechisch anmutende Säulenhalle, die bei näherer Betrachtung aus Dutzenden (um genau zu sein: 121) ganz unterschiedlicher, künstlerisch gestalteter Säulen besteht, auf denen das Dach dieser Halle ruht.

Der Künstler, Bildhauer und Maler Bernd Zimmer (geboren 1948), der unter anderem in Polling lebt und arbeitet, trug schon seit Jahren die Idee einer solchen Säulenhalle in sich. Ab 2016 begann er - zum Teil gegen den erbitterten Widerstand seines Heimatortes - mit der Umsetzung seines Projekts, das schließlich 2020 eröffnet wurde. 121 eingeladene Künstler-Kollegen aus der ganzen Welt beteiligten sich mit je einer individuellen Säule, die allesamt im selben Abstand zueinander stehen und trotz oder besser aufgrund ihrer immensen Unterschiedlichkeit auf beeindruckende Art still miteinander kommunizieren.

Der gesamte Entstehungsprozess ebenso wie die fertige Säulenhalle mit ihrer staunenswerten Atmosphäre wurde vom Filmemacher Eike Fischer (der in Polling aufgewachsen ist) mit seiner Firma Choreocraft in einer 6-teiligen Filmserie dokumentiert. Fischer lässt viele beteiligte Künstler von ihrer Arbeit, ihrem Leben und ihrer Welt erzählen, wobei es ihm mit spektakulären Aufnahmen gelingt, berührend tief und intim an deren Dasein teilzuhaben, ohne je voyeuristische oder entblößende Blicke auf sie zu werfen.

Diese Dokumentations-Serie (erhältlich unter www.columns.de; dort sind auch Trailer zu sehen; jede der sechs 52-minütigen Episoden kostet 3 Euro, das Paket mit allen Folgen 15 Euro) ist ebenso lohnenswert wie ein Besuch der Säulenhalle in Polling. Mit beidem taucht man fasziniert in eine Welt ein, die auch die unsrige ist, die real existiert und die wir doch bei allem alltäglich-destruktiven Nihilismus um uns her so leicht aus den Augen verlieren: eine Welt des Humanen, der Diversität und des sympathetischen Common sense, der sich nicht nur auf unsere Zeitgenossen und unsere Kultur, sondern auch auf Gaia, auf Mutter Erde bezieht.