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ITGG Berlin - ITGG
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#6F6F79

Institut für Tiefenpsychologie
Gruppendynamik
und Gruppentherapie

Themen aus Tiefenpsychologie, Gruppentherapie und Kulturanalyse

Sonntagsspaziergang am 19.01.2025

von Matthias Voigt

© J. Lorenz

Die letzten Tage gab es einiges zu tun. Gestern war gerade der erste Seminartermin dieses Semesters in der Eichenallee absolviert worden. Es ging um den Spielfilm Don Juan DeMarco, dessen Protagonist an einer psychischen Störung leidet. Der ehemalige Psychotherapeut Jeremy Leven gab damit 1995 sein filmisches Debüt, zu dem es ihm gelungen war, Top-Schauspieler zu engagieren. Jonny Depp spielte die Rolle des Wahnkranken, mit dem alternden Marlon Brando war die des ausgebufften Psychiaters besetzt, dessen auch nicht mehr ganz junge Frau verkörperte Faye Dunaway. So vielschichtig wie der Plot waren dann auch die Anforderungen, aus dem Gesehenen zu gemeinsamen Einsichten zu gelangen. Für alle Beteiligten wurde deutlich, dass die therapeutische Beziehung – in diesem Falle die väterliche Zuneigung des Psychotherapeuten – ein zentraler Heilfaktor ist. Zufrieden mit dem lebendigen Verlauf des Gesprächs berichteten die beiden Seminarverantwortlichen davon beim anschließenden Mittagessen.

Der Blick aus dem Fenster am nächsten Morgen fand, heute sei Entspannung angesagt und dem Appell der Natur Folge zu leisten: Sonne und Raureif auf den Ästen vorm Fenster. Zu Fuß ging es daher vormittags über den Kolbe-Park zum Teufelsberg. Der Weg ist für uns beide ein Teil der Geschichte, die uns seit nunmehr bald fünfzig Jahren mit der „Eichenallee“, also der Arbeit Josef Rattners, verbindet. Vermutlich hätte er unserem Gespräch in manchem wohlgefällig zugestimmt: Es ging während unserer kleinen Wanderung nämlich um die schwierige Frage, was uns Menschen dazu befähigt, über richtig und falsch zu entscheiden. 

Bevor uns aber so viel Geist zu Kopfe steigen konnte, mussten wir den Gipfel des Teufelsbergs erklimmen - eine für Berliner Verhältnisse beeindruckende Höhe von 120,1 m über NN. Was sich dort oben für uns unvermittelt auftat, der Blick über die Weite der Stadt, die Palette an Grau-Silber-Tönen vor dem Blau des Himmels, war traumhaft schön. Der Eindruck machte all das Doppelbödige einer deutscher Trümmergeschichte vergessen, das sich unter dem darübergebreiteten Erdreich den Spaziergängern aufdrängte. Über die verrottende Skulptur der Radarstation der Amerikaner hinweg, nichts als ein unbewegtes Meer mit von Raureif überzogenen Bäumen und Gräsern. 

Eigentlich hätte diese beglückende Andacht einer verzauberten Natur gegenüber genug sein sollen. Doch mich ereilte der Impuls, das alles in einem Foto zu dokumentieren. Bislang habe ich mich vehement dagegen gewehrt, allenthalben das Handy zu zücken und die Bilder festzuhalten, um uns der Realität schöner Dinge versichern. Deshalb lag unser Handy vergessen zu Hause. In einiger Entfernung sah ich nun eine Gruppe, die dieses Gerät mit sich führte. Der nett aussehende Mann, dem ich mein Anliegen vortrug, brauchte einen Moment, um den Sachverhalt, „Mensch ohne Handy“ und dann auch noch mit solch einem merkwürdigen Wunsch, zu begreifen. Als Gegengabe machten wir ein Foto der Ausflügler vor dem selben Hintergrund.

Unser Abstieg vom Berg, dieses Mal auf verwegen-steilem Mountainbike-Trial, war bald erfolgreich absolviert. Das Gespräch ging jetzt von meinen durch die Kälte animierten Sehnsüchten nach Skiwanderungen in Mittelgebirgen über zu Episoden unseres gemeinsamen Lebens im Charlottenburg der letzten Jahrzehnte. Manches war deutlich verschönert, unübersehbar aber auch die Spuren des lieblosen Umganges mit unserer Lebenswelt. Der vereinsamte Junge hinter dem Don Juan DeMarco des Spielfilms hatte sich aus der unwirtlichen Welt Pittsburghs in eine Traumrolle geflüchtet, aus der ihn sein Psychoanalytiker heraus locken wollte. Als wir nun heute nachmittag per Email das erbetene schöne Foto erhielten, waren wir angesichts dieser freundlich-verbindenden Geste erfreut. Beim Betrachten war die Atmosphäre des Augenblicks wieder anwesend und wir fühlten uns bestärkt, der Schönheit dieser Welt unseren Dank abzutragen. Stendhal sagt über die Schönheit, sie sei ein „Versprechen von Glück“. Darin liegt vermutlich die Hoffnung, die uns Kraft schöpfen lässt, mit kleinen Bausteinen dazu beizutragen, manchem in der Welt die Schärfe zu nehmen.

Weihnachtsbotschaft aus dem ITGG
24.12.2024

Team des ITGG

© B. Kozlik-Voigt

Im Jahreslauf ziehen wir selten Bilanz und vergessen gewöhnlich die positiven Ereignisse unter den alltäglichen Herausforderungen und den bedrohlichen Nachrichten aus aller Welt. Bestenfalls am Jahresende halten wir unvermittelt inne und fragen nachdenklich, was lohnt es eigentlich zu erinnern und festzuhalten? Denn diese Erlebnisse sind das Verbindende zwischen uns Menschen.

Mit dem feierlichen Segen Urbi et Orbi, den der römische Papst am ersten Weihnachtstag an „die Stadt und den Erdkreis" richtet, will ich nun nicht konkurrieren und halte ich mich stattdessen an eine Wendung Alfred Adlers. Auf die Frage, was denn mit „Gemeinschaftsgefühl“ gemeint sei, sagte er, es beinhalte den Versuch, „mit den Augen des anderen zu sehen, mit den Ohren des anderen zu hören und mit dem Gefühl des anderen zu fühlen“. Mir gefällt diese Konkretisierung eines schwierigen Begriffs der Individualpsychologie. Noch prägnanter äußert er an anderer Stelle, unser aller Aufgabe sei es, dem Mitmenschen Freude zu bereiten.

Vielleicht fällt die folgende Weihnachtsbotschaft im Sinne Adlers aus, wenn ich mich nun im zu Ende gehenden 2024 frage, wo wir Freuden, auch in kleinen Gesten, geschenkt haben und uns selbst freuen konnten oder wann es Momente gab, in denen ein Gefühl von Freude und Dankbarkeit aufkam. Z.B. denke ich dabei an den verlässlichen Zeitungsboten, der die allmorgendliche Tageszeitung einwirft oder ich denke an unseren freundlichen Postzusteller, der auch unter widrigsten Bedingungen die schwersten Pakete anschleppt. Dann erscheinen vor meinem inneren Auge so einige unserer unermüdlichen Instituts-Mitstreiter, denen hier gedankt sei für den sichtbaren Einsatz, ohne den unser Institut nicht fortbestünde. Auch klingt in meinen Ohren noch die Stimme derer nach, die in unseren Gruppengesprächen den Mut aufbrachten, sich den anderen gegenüber emotional zu öffnen und so als Mitmenschen sichtbar zu werden. Das hat mich und noch viele ermutigt und mit Zuversicht für die weitere Arbeit erfüllt. Zuletzt sei an die vielen im Hintergrund Gebliebenen erinnert, die einfach das machten, was gerade anstand, weil es die Situation verlangte. Das gilt z.B. auch für all das Klinikpersonal, die in den „Kooperationskliniken“ unseren PIAs im heiß ersehnten Psychotherapie-Praktikum das „Überleben“ erleichtert haben, und das gilt ebenso für all die Mitarbeiter der übergeordneten gestrengen Institutionen, die sich in schwierigen Situationen dann doch als hilfsbereite Mitmenschen erwiesen.

Auch wenn die Weltlage für das kommende 2025 wenig hoffnungsvoll stimmen mag, gegen die Gültigkeit der Überlegungen Alfred Adlers spricht das keineswegs. Versuchen wir  insbesondere in schwierigen Zeiten den belastenden Dingen die emotionale Schärfe zu nehmen, indem wir das Schöne und Liebenswerte im Gemüt behalten. Dazu gehört auch, dass wir (wie sich Odysseus einst an den Schiffsmasten binden ließ) gemeinsam an unserer Sache festhalten. Uns allen neben dem Gefühl der Freude auch ein wenig Glück dabei!

Zum Samstags-Gespräch über den Traumabegriff
20.12.2024

von Babette und Matthias Voigt

© Verlag Karl Alber

Der letzte Termin unserer Gesprächsreihe am 14.12.2024 wurde von einem Vortrag abgerundet. Der Referent, Dr. med. Christian Schmidt, hatte unlängst seine zweite, eine philosophische Dissertation, über das Thema Vom Trauma zum bedeutungsvollen Ersterlebnis beendet. Er war ursprünglich als Mediziner zur Weiterbildung an das hiesige Institut gekommen; und nun stellte uns der frisch gebackene Psychotherapeut und Dr. phil. die zentralen Thesen aus seinem gerade veröffentlichten Buch vor. Es war wohl eine gewisse innere Verbundenheit, die ihn veranlasste, uns mit einer Kostprobe daraus für das, was er in diesen Jahren dazugelernt hatte, praktisch zu danken.

So viel war schnell zu bemerken, dieser Mann hatte ein gutes Gespür für die Zuhörenden; seine angenehm-ruhige Stimme war bis in die letzte Reihe gut vernehmbar. Und was er zu sagen hatte, zielte darauf ab, von allen, die dasaßen, verstanden zu werden. Also kein intellektualistisches Gehabe und kein Begriffsgeklingel. Man bekam schnell den Eindruck, da war einer darum bemüht, seinen Gedankengang so zu formulieren, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung möglich wird. Dennoch konnte das nicht ohne Schwierigkeiten erfolgen, da das von ihm umrissene Verständnis von Trauma für die Zuhörer etwas von einer Zumutung hatte. Gleich zu Beginn sprach er vom „inflationär gebrauchten Trauma-Begriff“, wie er heute gebräuchlich sei. Damit stand potenziell eine Kontoverse im Raum. Man musste bereit sein, den gedanklich-festen Schutzraum zu verlassen, sich in diese neue Perspektive vertiefen, damit ein echter Austausch entstehen konnte.

Im Zentrum des Vortrags stand das Begriffspaar „Geschehnis“ und „Erlebnis“, an das im Denken von Erwin Straus weitreichende Konsequenzen geknüpft sind. Mit Ludwig Binswanger, Eugène Minkowski und Victor Emil Freiherr von Gebsattel gehörte er einer Gruppe von Psychiatern an, dem sogenannten „Wengener Kreis“, der sich in der Zeit zwischen den Weltkriegen um eine phänomenologische Grundlegung ihres Faches bemühte. Man war gedanklich vereint durch das Anliegen, eine Psychologie zu schaffen, die ohne unnötige Abstraktionen vom Menschen sprechen sollte; ein Anliegen, wie es damals auch die Neopsychoanalyse verfolgte.

Heute stellen wir uns üblicherweise ein Erlebnis als die Repräsentanz eines umweltlichen Geschehens im Kopf des Individuums vor. Die Neurowissenschaftler sehen das ähnlich, meinen es noch genauer sagen zu können, wenn sie diesen Kopf biochemisch funktionieren lassen. Solche Erklärungen sind für Phänomenologen nur Scheinerklärungen, evoziert von der Magie eines Begriffs, der uns von der Last des Unverstandenen befreit. Sie zerteilen den Menschen in ein abstraktes Subjekt, dem dann eine Außenwelt gegenüberstehen muss. Und daraus ergibt sich erst das selbstgemachte Problem, wie denn eigentlich diese Welt in den Kopf gelangt. Solche Abstraktionen machen vergessen, dass es uns Menschen nur als Einheit mit unserer Lebenswelt gibt.

Für den Phänomenologen ist Erleben immer ein Hereingezogen-Werden in Situationen, durch die wir hindurch müssen. Erleben ist demnach ein Bewältigen-Können von Leben. Wo dies nicht gelingt, empfinden wir ein Bedrängt-Sein von etwas. Es geschieht etwas, ohne zu unserem Erleben zu werden.

Von hier tut sich für Straus ein weiteres Phänomengebiet auf – dass der Bedeutung: Von einem Geschehen überrollt zu werden, heißt, es nicht in das Bedeutungsmuster integrieren zu können. Damit steht die Erlebensfähigkeit im Zentrum der menschlichen Seinsweise: Erleben vollzieht sich immer als Wandlung unserer Person, denn sichtbar wird Personhaftigkeit darin, wie einer auf ein Geschehen reagiert.

Dieses Begriffspaar lässt sich erhellend auf Alfred Adlers Erklärung der neurotischen Reaktion beziehen; wer auf Schwellensituationen des Lebens mangelhaft vorbereitet ist (fehlende Resilienz), kann sie nicht sachgemäß bewältigen. Auf diese zum Menschenleben gehörigen Hürden trifft ein jeder irgendwann ein erstes Mal. Von jenem bedeutungsvollen Ersterlebnis bleiben immer unerlebte Reste zurück, die das Potenzial zur Neurose beinhalten. Schwellensituationen beinhalten für alle Mitglieder einer Kultur gleichartige Forderungen, auf die hin wir in Anspruch genommen sind. Wer diese Ansprache nicht ver-nehmen kann, (Straus spricht hier von Sinn-Ent-nahme) für den bleibt sie ein bloßes Geschehnis.

Wenn wir also eine Schwellensituation absolviert haben, konnten wir im Idealfalle das in ihr auf uns wartende Bedeutungspotenzial ausschöpfen; in der Sprache Adlers: „die richtige Antwort geben“ – Straus würde sagen, es in die Kontinuität unseres Erlebens integrieren. So wird es zum Teil unserer Lebengeschichtlichkeit; oder sie bleibt bloßes Geschehnis, dessen Bruchstücke sich als Fremdkörper störend aus einem inneren Niemandsland vordrängen. Meist sind es immergleiche Bilder, die sich unkontrollierbar ins Bewusstsein schieben (Flashbacks).

Insofern sind Träume und Kindheitserinnerungen Residuen von nur teilweise verarbeiteten Situationen, denen noch erlebnismäßig nicht Integriertes anhaftet. Adler spricht diesbezüglich vom Noch-nicht-Verstandenen, das dann auf dem Wege der Psychotherapie bearbeitet wird. Doch diese eher kognitive Benennung kann dazu verleiten, das Reden über die Sache schon mit dem Erwerben der fehlenden praktischen Kompetenzen zu verwechseln. Psychotherapie wird häufig so verstanden, dass im Sprechen miteinander emotional korrigierende Erfahrungen gemacht werden sollen. Woran aber würden diese sichtbar? Ich habe das Gehörte so verstanden, dass der Schritt über die reale Schwelle des Therapieraumes zurück in die Welt draußen erfolgt. Es ginge dann um ein Nachholen der unterbliebenen Vorbereitung auf den unterlassenen Schritt. Adler würde wohl sagen, dass man den Esel nur zu Brunnen führen kann; saufen müsse er schon selbst.

Über die Entstehungsbedingungen von Person und Personalität aus Sicht der medizinischen und philosophischen Anthropologie, so lautet das Oberthema der vorgestellten Dissertation. Diesen Zusammenhang rückte unsere gemeinsame Debatte nicht immer in den Mittelpunkt. Am Referenten hat das nicht gelegen. Sein Vortrag hat uns eine Schwelle in den Weg gelegt, für die wir uns hier mit unserem Überwindungsversuch antwortend bedanken möchten.

Wie werde ich Person
09.12.2024

von John Burns

© B. Kozlik-Voigt

Eine Meise, die durch das Fenster des Therapieraums in der Eichenallee beobachtet wurde, hätte vermutlich wenig Interesse am Gespräch über die Personwerdung gehabt, das uns am 7. Dezember 2024 eine Stunde lang beschäftigt hat. Mit buntem Gefieder und geschmeidiger Körperform ausgestattet, hüpfte die Meise von Ast zu Ast auf der Suche nach geeigneter Nahrung. Sie muss sich nur vor Feinden hüten, bei Gelegenheit ein Nest bauen und für Nachwuchs sorgen; hierbei ist sie der Umwelt gut angepasst und instinktgeleitet.

Anders als die Lebewesen der Tierwelt, die wir oft bestaunen und deren entspanntes Tun wir gern nachahmen würden, handeln wir Menschen nicht ganz nach dem Reiz-Reaktionsmuster anderer Organismen. Wir haben einen Handlungsspielraum und können entscheiden, was wir essen und trinken wollen, welchen Beruf wir ausüben, und wie wir unsere Freundschaften gestalten. Das klingt sehr einfach, aber unsere kulturelle und soziale Entwicklung wird uns nicht einfach geschenkt.

Am besten gelingt die Expansion in die soziale Umwelt hinein, wenn wir in einer Familie aufwachsen, die uns fürsorglich pflegt und fördert. Wird uns das Urvertrauen in der Kindheit vermittelt, werden wir uns vom Ich zum Selbst und schließlich zum Subjekt, zur Existenz und zur Person entwickeln. Wenn wir dagegen aufgrund negativer Erlebnisse in den ersten Kinderjahren eingeschüchtert werden, beginnen wir die soziale Umwelt als „Feindesland“ zu betrachten. Anstatt uns für die Vielfalt der Werte zu öffnen, verschließen wir uns vor den vermeintlichen Gefahren der Außenwelt, denen wir uns ausgesetzt fühlen. Der Philosoph Jean-Paul Sartre beschreibt diesbezüglich wie Unaufrichtigkeit und Abkapselung in Form von Hemmungen und Vorurteilen die Möglichkeit der freien Entfaltung der Persönlichkeit radikal eingrenzen.

Auf dem Weg zur Reife setzen wir uns mit der biologisch-kulturellen Entwicklung in der Pubertät auseinander. Wir erleben diese Phase als zweite Geburt, wobei wir uns von der engen Bindung an die Familie lösen. 

Selbstverständlich dürfen wir unsere werdende Person vor Übergriffen durch andere schützen, wie James Joyce in Das Porträt eines Künstlers als junger Mann (1916) anschaulich schildert.

Stephen Dedalus, Schüler am katholischen Internat Clongowes, wird von einem unachtsamen Mitschüler auf einem Fahrrad angefahren, wobei ihm die Brille von der Nase fliegt und auf dem Schotterweg zerschellt. Von seinem Lehrer Pater Arnell vom Schreiben schriftlicher Aufgaben befreit, wartet Stephen auf eine neue Brille, die ihm seine Eltern schicken werden. Als der sadistische Aufseher Pater Dolan den Klassenraum betritt, um mit seinem Lederriemen Schüler zu bestrafen, die faulenzen, unterstellt er Stephen, dass er nicht arbeite. Er lässt die gültige Ausrede des Schülers nicht gelten, sondern schlägt ihm auf die Hand, was ihm erhebliche Schmerzen verursacht. In seinem Stolz verletzt, wird Stephen von seinen Mitschülern ermutigt, zum Rektor zu gehen, um ihm den Vorfall zu melden. Der junge Schüler, der vor der Tür des Rektors zuerst seine Angst vor Autorität überwinden muss, überzeugt den Rektor, dass er zu Unrecht bestraft wurde. Der gütige Oberlehrer verspricht Stephen, dass er Pater Dolan wegen seines Fehlverhaltens rügen wird. Als Stephen zu seinen Mitschülern zurückkehrt, wird er jubelnd gefeiert.  

Anhand des Beispiels verstehen wir, wie sich die Person entwickelt. Wir geraten in Situationen, die uns herausfordern; wir können zwischen Wert und Unwert unterscheiden; unsere Gefühle leiten uns bei unseren Wertentscheidungen; wir sind Mitspieler und helfen anderen, wie die Mitschüler des jungen Stephen Dedalus.

Himmelwärts - Meine unvergessliche Reise zum Basislager des Mount Everest
28.11.2024

 
von Stefanie Hoffmann

© S. Hoffmann

Im September hatte ich die unglaubliche Gelegenheit, nach Nepal zu reisen und den Sagarmatha-Nationalpark sowie die pulsierende Stadt Kathmandu zu erleben. Fast vier Wochen durchstreifte ich das Herz des Himalayas, wanderte über 250 Kilometer und überwand etwa 13.000 Höhenmeter bis zum Sagarmatha – “Stirn des Himmels”, wie der Mount Everest von den Nepali genannt wird. Diese Reise war für mich ein körperliches Abenteuer und zugleich ein tiefgreifendes psychologisches und kulturelles Erlebnis. Die Einsamkeit der Berge, gepaart mit der Wärme der Gemeinschaft, schuf Raum für Reflexion und persönliches Wachstum.

Schon Alfred Adler betonte die Bedeutung sozialer Beziehungen und der Suche nach Gemeinschaft. Während meines Treks wurde mir bewusst, wie stark diese Prinzipien hier gelebt werden. Die Gastfreundschaft in den einfachen Unterkünften war überwältigend. Trotz bescheidener Verhältnisse teilten die Menschen ihr Weniges – eine Haltung, die tief in der nepalesischen Kultur verwurzelt ist. Darüber hinaus strahlten insbesondere die Träger und Guides eine inspirierende Stärke und Lebensfreude aus. Ich fühlte mich an Adlers Konzept des Gemeinschaftsgefühls erinnert. Sie zeigen, wie wichtig das soziale Miteinander und die gegenseitige Unterstützung sind, von der wir meines Erachtens ruhig noch einiges lernen können und dürfen. In der Individualpsychologie ist der Weg zur Selbstverwirklichung eng verknüpft mit der Fähigkeit, mit anderen zu interagieren und Verantwortung zu übernehmen – beides fand ich im Himalaya in voller Blüte.

Die atemberaubende Natur des Everest-Gebiets – endlose Gletscher, rauschende Wasserfälle und majestätische Adler – übt Jahr für Jahr eine unvergleichliche Anziehungskraft aus. Für viele symbolisiert der Everest nicht nur eine Herausforderung, sondern auch Möglichkeiten der Selbstfindung. Hier werden Grenzen getestet und die eigenen Fähigkeiten hinterfragt - jedoch nicht immer mit glücklichem Ausgang. Auf dem Weg von Dingboche nach Lobuche überquerten wir ein Tal voller Denkmäler für die Todesopfer der Everest-Besteigungen. Die mit Steinmännern errichteten Gedenkstätten erinnerten still an Verlust und Mut und schufen ein Bewusstsein für die Risiken dieser Umgebung. Der Everest fasziniert nicht nur durch die Herausforderung des Aufstiegs, sondern auch durch die Geschichten der Opfer und Träume, die mit ihm verbunden sind.

Rückblickend kann ich sagen, dass meine Reise zum Mount Everest Basislager ein prägendes Erlebnis war – sowohl individuell als auch kulturell. Sie hat mir die Augen geöffnet für die Bedeutung von Gemeinschaft, die Kraft der Natur und die Erkenntnis, dass der Weg, den wir gehen, oft genauso bedeutsam ist wie das Ziel, das wir erreichen möchten.

Vom Geist und anderen Wühlern
20.11.2024

von Matthias Voigt

 

© B. Kozlik-Voigt

Draußen herrscht Schietwedder – so heißt der vorpommersche Fachterminus für das novemberhafte Witterungsgeschehen; wir aber sitzen wohlig warm in unserer „guten Stube“ auf dem Darss. Nach Tee samt Früchtekuchen bei einbrechender Dunkelheit schauen wir auf jenen Blog, den der Leser gerade vor sich hat: Seit Mitte September kein Eintrag! Da es draußen regnet, spricht nichts dagegen, auf Abhilfe zu sinnen. Also, etwas Aktuelles und zudem Berichtenswertes gilt es zu formulieren! 

Zur Aktualität zählen in unserer ländlichen Einsamkeit die Maulwurfshügel. In voller Schönheit zeigen sie sich am ersten Morgen beim Blick über das Grundstück. Unsere Ambitionen in Sachen Garten-Kultur stehen mit diesen Wühltätigen unübersehbar im Konflikt! 

Mancher fragt sich vielleicht jetzt, wohin denn dieses Vorgeplänkel führen mag. Wer am Samstag zwischen zwölf und eins zur Fortbildung in der Eichenallee war, der ahnt, hier könnte ein Zusammenhang zum Thema liegen. Unmittelbar im Anschluss an diese Veranstaltung hatten wir uns an die Ostsee aufgemacht; ein behördlicher Termin stand an, der den Anlass zu diesem Kurztrip bot. Schwänzen des Sonnabend-Gespräches kam nicht infrage, da es das zweite eines Zyklus’ von insgesamt sechs thematisch fortlaufenden war. Diese Zusammenkünfte zählen zum eisernen Bestand unseres Arbeitskreises wie in meiner Jugend Werner Höfers sonntäglicher Frühschoppen mit meinem Vater. Damals war Fernsehen noch schwarz-weiß und kam mit einem einzigen Programm aus. Heute haben nun die neuen Medien auch in unserem Institut Einzug gehalten samt blog auf der Web-Site, für den ich gerade unter Zuhilfenahme von wenigen Fingern digital diese Gedanken fixiere.

Die A 19 am frühen Nachmittag war wenig befahren, Gelegenheit also, über das Gehörte und Gesagte laut nachzudenken. Das vorgegebene Thema war schwergewichtig. Wie fängt man es an, unter dem Motto Ich selbst bin immer im Werden über den Begriff der „Person“ ein substanzielles Gespräch zu führen? Einen ersten Zugang eröffnete der Hinweis auf Arnold Gehlens Diktum, der Mensch sei von Natur aus ein Kulturwesen; die Kultur berge das Geheimnis unserer Menschen-Natur. Allein mit der Auslegung dieses tiefsinnigen Satzes lässt sich demonstrieren, wie sich gerade in diesem Moment und in diesem Raum unser menschliches Wesen aktualisiert.

Philosophisch ausgedrückt, wir sahen uns in eine Situation (etymologisch kommt der Begriff vom Lateinischen situs: Stelle, Stellung, Sitz) involviert. Situationen verlangen handelnde Antworten, in denen sich unser Selbst, wie es unser Motto vorgab, immer nur als werdende Person in ihrer Eigen-heit vernehmbar macht. Von Situationen geht also so etwas wie eine Aufforderung zur Stellungnahme aus. Sogar der Versuch diesem Zwangsgefühl auszuweichen (Schweigen bedeutet oft ein Zustimmen), ist deshalb eine Stellungnahme. Von den anwesenden Ausbildungskandidaten wagten sich nur wenige Stimmen hervor. Ein Votum verwies auf die  bedeutsame Äußerung einer Neurowissenschaftlerin: Man möge Kindern „Zeiten der Langeweile“ einräumen, da ein junges Gehirn diesen Modus benötige, um sich funktional zu strukturieren. Damit war die Sprecherin auf einen Beitrag eingegangen, der ein ständig rastloses ‚Immer-nur-Werden-Sollen‘ problematisierte. Von hier aus entwickelten sich Überlegungen zur Resilienz-Thematik. 

Wir fragten uns nun während unserer Autofahrt, wie man es in einer gemeinsamen Gesprächsrunde noch besser machen könnte, die Aufgabe des Selbst-Werdens lebhaft und fesselnd zu gestalten. Die Theorie besagt, jenes Selbst lebe nur in der Wechselseitigkeit von Du und Ich. Wie lässt sich eine über viele Jahre gewachsene Gruppenstruktur den Noch-nicht-Zugehörigen aktiv öffnen, um möglichst vielen die Bedingungen zum Mitmachen zu erleichtern? Was könnte die Hingabe-Bereitschaft im Gespräch fördern, damit ein echter Dia-log (sinngemäß ‚Zwischengeist‘; logos meinte im Griech. ursprünglich Beziehung) stattfinden kann.

Ein solcher Dialog lebt vermutlich davon, dass wir ein selbst-entdecktes Problem beim Schopfe fassen, um es spontan weiterzudenken. Das gelingt vielleicht dann, wenn ich mich von dem verführen lasse, was urplötzlich als Idee zum Aufschein kommt. Und dieser Moment, in dem uns die Sache packt und wir uns um der Sache willen hineinbegeben, ist ein kostbares Erlebnis. Im Zwiegespräch der Therapie erleben wir zuweilen, wie unser Gegenüber unvermittelt von den oft immergleichen Klagen ablässt, um ein gerade aufscheinendes Problem aufzugreifen. Solche kleinen Wunder heißen in der Phänomenologen-Sprache Metanoia oder sinngemäß Geisteswandel.

Vielleicht sind auch solche Nachgedanken so etwas wie Gedanken-Wandlungen, die selbst bis ins ländliche Vorpommern reichen. Sie müssen Ostseewanderungen ersetzen, denn es herrscht ja gerade Schietwedder hier oben. Die Maulwürfe machen weiter, was sie ihrer Natur gemäß tun müssen. Die meine dagegen fühlt sich ein klein wenig in ihren kulturellen Intentionen beeinträchtigt. Als Tiefenpsychologe kann ich nicht ausschließen, dass die vorliegenden Ausführungen als Versuch „projektiver Abwehr“ im Konflikt mit diesen alles umwühlenden Erdbewohnern zu deuten ist. Vielleicht sollte ich mehr Sympathie für den Maulwurf aufbringen, denn nach Hegel ist der Menschengeist ein „Wühler“.

Troldhaugen - wo sich Natur und Kultur begegnen
11.09.2024

Barbara Gucek

© B. Gucek

Unweit der zweitgrößten Stadt Norwegens, Bergen, befindet sich die Sommerresidenz des berühmten norwegischen Komponisten Edvard Grieg und seiner Frau Nina, einer Pianistin und Sängerin. 1885 erfüllte sich der lang gehegte Wunsch des Ehepaars nach einem eigenen Zuhause in der norwegischen Natur. Die Villa trägt den Namen Troldhaugen, was in der norwegischen Sprache Trollhügel bedeutet. Ursprünglich sollte ein einfaches Bauernhaus entstehen, tatsächlich entstanden ist eine Villa mit Turm, Veranda und großen Fenstern. Bei der Besichtigung der authentisch bürgerlichen Einrichtung der Räume fiel mir auf, dass sie Behaglichkeit und Wärme ausstrahlen. Da Edvard Grieg nicht nur ein berühmter Musiker, sondern auch ein engagierter Zeitgenosse war, erhielt das Paar viel Besuch. Um sich vor dem Besucher-Ansturm zu schützen und um eine ungestörte Arbeitsatmosphäre zur Verfügung zu haben, ließ er sich eine Komponistenhütte erbauen.

Inzwischen neugierig auf Griegs Biografie geworden, erfuhr ich, dass Edvard Grieg 1843 in Bergen geboren wurde, dass der Vater ein begüterter Kaufmann, die Mutter eine ausgebildete Konzertpianistin war. Neben dem begabten Sohn hatte die Familie noch weitere vier Kinder. Noch besser als der Klavierunterricht, den Edvard von seiner Mutter erhielt, gefiel es ihm eigene Kompositionen zu schaffen. Fortan wusste er bald, dass er Künstler werden wollte. Auf Empfehlung fing der Fünfzehnjährige an, am Leipziger Musikkonservatorium zu studieren. Obwohl er in Leipzig an Tuberkulose erkrankte, deren Folgen ihn lebenslänglich begleiteten, beendete er 1862 sein Studium. Jahre später heiratete Edvard seine Cousine Nina Hagerup, die er seit seiner frühen Kindheit nicht gesehen hatte. Während der Wintermonate reiste Edvard Grieg als Dirigent durch Europa und begeisterte sein Publikum. Er trat auch mit seiner Ehefrau in Konzerten auf, Nina als Sängerin seiner Romanzen, Edvard begleitete sie am Flügel. Inzwischen hatte Edvard Grieg seine bekanntesten Werke komponiert, seine Suiten Peer-Gynt, Aus Holbergs Zeit und sein Klavierkonzert in a-Moll. In seinen Musikstücken bezog sich Grieg auf die norwegisch-skandinavische Volksmusik, die er mit Elementen aus der Romantik verband. Als Edvard Grieg 1907 verstarb, erwiesen ihm 30000 bis 40000 Menschen am Straßenrand die letzte Ehre.

Zum Wohnsitz des Komponisten kamen im Laufe der Jahre ein Museum und ein Konzertsaal  hinzu, dessen großes Fenster dem Publikum einen Ausblick auf das Komponistenhäuschen und den See ermöglicht. Als in diesem Saal der junge norwegische Pianist Thormod Rönning Kvam auf die Bühne trat, wurde er mit herzlichem Applaus empfangen. Er spielte Griegs Bauerntänze und dessen lyrische Stücke, wobei Solveigs Lied natürlich nicht fehlte. Kvam kommentierte mit seiner angenehmen Stimme das Programm. Durch die eindrucksvolle Musik und ihre sensible Wiedergabe, den Blick in die Natur und die absolute Konzentration des Publikums, entstanden bei mir tiefe Momente des Mitfühlens und der Dankbarkeit gegenüber den Kulturschaffenden.

Literatur: Dahl, Erling jr., Troldhaugen und Edvard Grieg Museum, Troldhaugen 2009

Modiglianiausstellung - in drei Teilen
29.06.2024

Mareen Kötschau

© R.Timm

Es ist einer der besonders heißen Sommertage, an dem sich eine kleine Gruppe von Kandidatinnen und Lehrenden vor dem Barberini trifft. Am Alten Markt in Potsdam steht der Palazzo Barberini oder auch Palais Barberini genannt. Sein Vorbild ist in Rom zu finden. Italienischen Vorbildern der Renaissance nachempfunden sind auch die beiden Bauwerke daneben, der Palazzo Chiericati und der Palazzo Pompei.

In der Renaissance hatte sich der Künstler als schaffendes Individuum entdeckt und damit war sein Werk nun untrennbar mit seinem Namen verbunden. Creatio ex nihilo: Aus dem Nichts etwas erschaffen, eine Idee haben und verwirklichen. Das war im Mittelalter nur Gott vorbehalten. Der mittelalterliche Künstler malte, um Gott und sein Werk zu ehren. Sein Name war irrelevant. In der Antike ahmte der Künstler die Natur nach. Bildhauer und Maler galten Platon als Handwerker. Die Kunst war ihm suspekt, zu viel Schein und zu wenig Wahrheit. Er fand, dass sich Künstler zu sehr mit irrigen Vorstellungen befassten und einfach nicht aus der platonischen Höhle herauskamen. Erst in der Renaissance gelang es dem Künstler, sich zum Göttlichen empor zu schwingen und die Legende vom Künstler entstand.

Der Analytiker Ernst Kris erforschte Legenden von Künstlern. Deren Biographie ließe sich so beschreiben: Der Künstler lebt Naturnah, z.B. als Hirte, hat keinen Vater, zeigt aber bereits als Kind ein Genius und wird zufällig von einem Lehrer entdeckt. Sozialer Aufstieg, göttliche Gabe und Zufall bestimmen die Legende vom Künstler, nicht Fleiß und Mühe. Die Romantik würde die Selbstzerstörung ergänzen: Der schöpferische Aufschwung verzehrt das Leben und führt zurück ins Nichts. Selbstverständlich ist zudem die Männlichkeit.

Zurück ins Nichts führt dementsprechend auch die männlich geprägte Kunstgeschichte: Für die damals berühmte Impressionistin Berthe Morisot (1841-1895), die Autodidaktin und alle Konventionen über Bord werfende Suzanne Valadon (1865-1938), die aus Chemnitz stammende und in Paris aufstrebende expressive Malerin Helene Funke (1869-1957) und die Portraitmalerin Julie Wolfthorn (1864-1944), die schwedische Erfinderin der Abstraktion Hilma af Klint (1862-1944) und viele andere mehr. Doch dies ist eine andere Geschichte.

Etwas aus dem Nichts zu erschaffen impliziert stets die Gefahr, ins Nichts zurückzufallen. Also wozu das Ganze? Wozu Kunst? Nietzsche, der das Individuum und die Umwertung aller Werte gepriesen hat, sagt über den Künstler, er lebe den einzig wahren Lebensstil: einen ästhetischen. Das altgriechische aísthesis bedeutet Wahrnehmen und Empfinden und diese stehen für Nietzsche über der Moral und dem Gemeinwohl. Gegen den unaufhaltsamen Rückfall ins Nichts gäbe es noch die Empfehlung des Existentialismus: Eine Kaskade von immer neuen Zielen.

Der Bildhauer und Maler Modigliani, wegen dem wir gekommen sind, stand nicht still. In 35 Lebensjahren lebte, liebte, hämmerte und malte er wie ein Besessener.

In der klimatisierten Eingangshalle warten wir auf unsere Führung durch die Ausstellung. Und die beginnt rasant am Ende der Ausstellung. Wir machen Bekanntschaft mit seinen Frauenportraits und seinen Akten. Die Farben, so erfahren wir, sind in mehreren Schichten aufgetragen, so dass die Körper etwas Durchscheinendes haben und die klaren Umrisslinien lösen ihn vom Hintergrund. In natürlicher Pose, mal zwischen Wachen und Schlafen (Sitzender Akt, 1916), mal mit Seitenblick auf den Waden sitzend (Halbaufgerichteter Frauenakt, 1917) oder mit direktem Blick auf die Betrachtenden (Liegender Frauenakt auf weißem Kissen, 1917) oder der Tradition Anfang des 19. Jahrhunderts verbunden ein Blick über die Schulter (Auf der Seite liegender Frauenakt, 1917) schaut uns die moderne Frau an. Oft mit kurzem Haar, direktem Blick, den Betrachtenden betrachtend und – ein Affront gegen die bürgerliche Welt – mit Schamhaar. Auch andere provozieren damals. Valadon muss ihren ersten männlichen Akt (Adam und Eva, 1909) mit einem Feigenblatt übermalen, um 1920 im Pariser Salon ausstellen zu können. Der Galerist Léopold Zborowski (1889-1932) hatte Modigliani 1916 die Aktmalerei empfohlen, da sich seine Portraits nicht besonders gut verkauften. Die Pariser Galerie Berthe Weill stellte 1917 die Aktgemälde Modiglianis aus und löste einen Skandal aus. Die Polizei schloss die Galerie eine Stunde nach Öffnung.

 

Teil II
Wer war Modigliani?

Mareen Kötschau

 

© R. Timm

Amedeo Modigliani legte auf feine Kleidung Wert, hatte eine enge Bindung an die Mutter und eine schwache Gesundheit. Er lebte exzessiv und arbeitete präzise. Der Vater lebte im entfernten Sardinien und ging als Bergbauingenieur seinen Geschäften nach, während Mutter, Geschwister und der oft kränkelnde Jüngste in Livorno (Italien) lebten. Noch im Erwachsenenalter hat die Mutter die Aktivitäten ihres Sohnes finanziell unterstützt.

Amedeo Modigliani wurde am 12. Juli 1884 in Italien in eine jüdische, kulturinteressierte Familie geboren, die den Idealen der Aufklärung folgte. Man diskutierte die Werke von Oscar Wilde, Baudelaire, Rimbaud, Spinoza und Nietzsche, von dem er besessen gewesen sein soll. Die Mutter schrieb Literaturkritiken und trug als Lehrerin und Übersetzerin zum Familienunterhalt bei; von ihr erlernte Modigliani auch die französische Sprache.

Seine Gesundheit stand jedoch schon früh auf der Kippe. Mit 11 Jahren eine Rippenfellentzündung, mit 14 Jahren den damals tödlichen Typhus, den er knapp überlebt und mit 16 Jahren Tuberkulose. Er entrinnt dem Tod- vorerst. Die anhaltende mütterliche Fürsorge für den Jüngsten und Modiglianis starker Drang zu leben, zu lieben und alles intensiv zu empfinden, werden hier wahrscheinlich eine wesentliche Quelle haben. Mit 14 Jahren entschließt er sich eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen. Er bricht mit dem Einverständnis der Eltern die Schule ab und besucht eine Malschule in Livorno. Dort lernt er den Impressionismus kennen. Er unternimmt zahlreiche Reisen, zunächst in Begleitung seiner Mutter. In Neapel, Venedig, Capri, Rom und Florenz begibt er sich auf die Spuren der Antike und Renaissance. Er besucht diverse Schulen, lernt das Aktmalen, die Skulpturen Rodins und den Symbolismus kennen. Er wandelt durch die Galleria degli Uffizi, die Galleria dell` Accademia in Florenz, studiert die sakrale Darstellung mittelalterlicher Kunst, die leichte Neigung des Kopfes, den langgezogenen Hals der Madonnen und die Kunst des Michelangelos. Er will Bildhauer werden.

Mit 22 Jahren zieht er nach Paris und lässt sich u.a. von Cézanne und Gauguin, Munch und Picasso inspirieren. Er taucht ein in die Bohème von Paris und wird Teil der Avantgarde, die er später portraitieren wird. Doch zunächst verfolgt er seinen Traum, Bildhauer zu werden. Er besucht das ethnographische Museum am Trocadéro und bewundert afrikanische Masken, die Steinkunst der Khmer und die ägyptische Malerei. Mit dem rumänischen Bildhauer Constantin Brâncusi (1876-1957) wendet er sich gegen Rodins „Beefsteak-Kultur“, die Darstellung des muskulösen Körpers. Er interessiert sich für die Stilisierung, die Vereinfachung, die Dehnung von Formen und entwirft eine Reihe von Maskenhaften Köpfen. In der Welt tobt der Erste Weltkrieg, Massentötungen werden exerziert und verändern die Menschen. Sein Freund und früher Förderer Paul Alexandre kehrt gebrochen aus dem Krieg zurück; die beiden können nicht an ihre Freundschaft anknüpfen.

 

Teil III
Und wozu das Ganze?

Mareen Kötschau

© M. Kötschau

Nach 25 Figuren aus Stein wechselt er endgültig zur Malerei. Sie erlaubt ihm ein schnelleres Arbeiten und schont seine Lunge. Mit den Karyatiden, den Tempeltragenden Frauenskulpturen, folgt er zunächst noch dem italienischen Ideal der Bella Figura. Bald ist es die Portraitmalerei, die ihn fasziniert. Er malt, was er sieht und erlebt. Seine Galeristen, seine Freunde, seine Vorbilder und als er im November 1918 Vater wird, auch zahlreiche Kinder.

Die Erfindung der Farbfotographie Mitte des 19. Jh. befreite die Künstler von naturgetreuen Darstellungen und übte Druck zur Veränderung aus, vielleicht so wie die Künstliche Intelligenz heute. Die Avantgarde experimentierte. Auch Modigliani, von den verschiedenen Kunstrichtungen in Paris und seinen bisherigen Erfahrungen inspiriert, experimentiert. Seine Portraits zeigen die Bohème von Paris mit langen Hälsen und langen Nasen; die Augen ohne Pupillen wie die von antiken Skulpturen oder aber mit einem offenen und einem blinden Auge als Zeichen für den Blick nach innen und außen; der Hintergrund oft dunkel abstrahiert. Modigliani versucht die Persönlichkeit der Portraitierten einzufangen und hinterlässt auf den Bildern ihre Namen. Damit vertieft er deren Individualität.

Im Portrait der Maud Abrantès (1908) schaut uns eine mondän wirkende junge Frau an, der verhangene Blick drückt jedoch Abwesenheit aus, auf dem Gesicht liegen Erschöpfung und Anhedonie; die Farben sind düster. Dargestellt ist die Malerin Leontine Phipps, die durch Europa reist, in Paris ein weitschweifiges Leben führt und von Morphium abhängig ist. Die Folgen des Drogenkonsums frappieren. Auch Modigliani nimmt Drogen.  Als er 30 Jahre alt ist, begegnet er der älteren Dichterin und Kunstkritikerin Beatrice Hastings (1879-1943). Er malt sie mehrfach und sein Alkohol- und Opiumkonsum wird exzessiv. Sein letztes Modell Paulette berichtet, dass er nicht während des Malens trank, stattdessen sang er. Zwei Jahre dauert die Beziehung zu Hastings. Dann beginnt er eine Liebesbeziehung zu der 19jährigen Kunststudentin Jeanne Hébuterne (1898-1920), die ebenso Malerin ist und deren Arbeiten erst in jüngerer Zeit wiederentdeckt worden sind. Sie wird von nun an sein bevorzugtes Modell und sie inspirieren sich gegenseitig. 1918 wird die gemeinsame Tochter in Südfrankreich geboren, doch schon bald in Pflege gegeben, da beide mit der Betreuung überfordert sind. Die Zeit in Südfrankreich wird durch Cézannes Farbpalette inspiriert. Er versucht sich sogar an einer Landschaftsmalerei. Es wird sein einziger Versuch sein; er bleibt beim Portraitieren. Die Flucht aus Paris nach Südfrankreich, die Entbehrungen durch den Krieg und die Folgen des Alkohol- und Drogenkonsums zehren an seiner Gesundheit. Ende 1919 verschlechtert sich sein Zustand, die Tuberkulose bricht wieder aus und legt sich auf sein Hirn. Am 24. Januar 1920 stirbt er 35jährig in der Charité in Paris. Nur zwei Tage später suizidiert sich Jeanne Hébuterne.

Für Nietzsche war Kunst das Heilmittel gegen den durch die Wahrheit verursachten Pessimismus. Vielleicht wäre sie die Antwort auf die Frage: Wozu das Ganze? Modigliani schuf mit seiner Kunst ein Abbild jener Menschen, die uns stumm begegnen und in denen wir unser eigenes Schicksal erkennen können. Seine Kunst erscheint als Gegenbewegung zum stets drohenden Tod, zum Nichts, in das alles Lebendige zurückfällt. Modigliani malte die, die ihn umgaben. Er hielt sein Leben und seine Beziehungen fest und rang dem Nichts seine Schöpfung ab. Sich selbst malte er nur zweimal. Das erste Mal am Anfang seiner Laufbahn als Maler und das letzte Mal kurz vor seinem Tod. Im ersten Portrait ist er ein Pierrot mit einem offenen und einem geschlossenen Auge und kurz vor seinem Tod stellt er sich sitzend als Maler mit inwendig gerichteten Augen dar. Während der Pierrot vor dem Hintergrund düsterer Farben das Gesicht vom Betrachtenden abgewandt hat, sitzt der sterbende Modigliani aufrecht in einen leuchtend rostbraunen Mantel und einen hellgrauen Schal gehüllt, sein Gesicht dem Betrachter zugewandt, auch wenn der Blick undurchdringlich wirkt. Licht durchflutet das Bild. Draußen ist es immer noch drückend heiß. Wozu das Ganze? Genau deshalb.

 

Sommerlektüre

27.07.2024
John Burns

© J.Burns

Ich habe mich in den letzten Wochen mit zwei Büchern beschäftigt, mit einer leichten Sommerlektüre und einer schweren philosophischen Abhandlung über den Philosophen und Phänomenologen Edmund Husserl.

Christian Signol, der sehr poetisch und einfühlsam die heilsamen Kräfte der Natur in der ländlichen Gegend seiner Heimat der Cevennen preist, erzählt in Là où vivent les hommes (Albin Michel 2021) vom Schicksal eines erfolgreichen Bankkaufmanns, Etienne, der die Trauer um seine Frau nicht verarbeiten kann. Er leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, deren Hauptsymptom in flash backs besteht, in denen er immer wieder den Unfall seiner Frau bildhaft erlebt. Er beantragt ein Sabbatjahr, weil er sich beruflich überfordert fühlt, bricht alle Kontakte zu Freunden, Kollegen und Familie ab, und reist in die Provinz, wo es im Sommer nach Lavendel duftet und wo er nachts bei klarem Himmel die Sterne betrachten kann, so wie er sie in Paris nie gesehen hat. Etienne schließt mit einem einsamen Schäfer Achille Freundschaft, der ihn annimmt wie er ist, und dessen eigene Heilung nach einer ebenfalls traumatischen Zeit im Algerienkrieg in der Pflege und Gesellschaft der Schafe bestand. Das Leben auf dem Land hat eine andere Dynamik als die rastlose Geschäftswelt, an die sich Etienne in Paris gewöhnt hatte. Im Umgang mit dem wortkargen Achille lernt Etienne den natürlichen Rhythmus der Jahreszeiten schätzen. Er muss nicht mehr von Termin zu Termin hetzen, kümmert sich um die Lämmer im Frühjahr und erfährt, dass andere Menschen existentielle Krisen  und Schmerzen kennen. Er nimmt zum Beispiel am Schicksal der Pächterin Louise lebhaften Anteil, als diese an einem Herzleiden erkrankt.

Die finanzielle Welt der Großstadt lässt aber das Landidyll nicht ganz in Ruhe. Wer soll die Schafsherde noch betreuen, wenn Achille aus Altersschwäche mit seinem treuen Schäferhund nicht mehr mithalten kann? Seine Pächterin ist inzwischen gestorben und ihre Erben wollen den kleinen Hof nicht übernehmen. Zum Glück ist Etienne vermögend und geschäftstüchtig, so dass er den Betrieb kaufen und Achille als Pächter einsetzen kann, solange er noch arbeiten will.

Mein zweiter Text ist eine akademische Monographie, die eine Philosophieprofessorin und Mitarbeiterin des Husserl-Archivs in Leuwen, Belgien, verfasst hat. In Husserl et Freud, un héritage commun (Classiques Garnier, Paris 2021) arbeitet Maria Gyemant den gemeinsamen intellektuellen Hintergrund von Edmund Husserl (1859-1938) und Sigmund Freud (1856-1939) auf.  

Der Philosoph Edmund Husserl scheint auf dem ersten Blick mit dem Gründervater der Psychoanalyse wenig gemeinsam zu haben. Während der Phänomenologe Husserl seine Lebensaufgabe in der detaillierten Beschreibung des menschlichen Bewusstseins gesehen hat, suchte Freud nach einer Methode, die über das Innenleben des Menschen Aufschluss geben würde.  Husserl war Philosoph, Freud Mediziner. Die akademische Psychologie, die Husserl kannte, war etwas Handfestes, wie die Autorin aufzeigt. Wilhelm Wundt beschränkte sich auf experimentelle Psychologie, von Franz Brentano hatte Husserl den Empirismus kennen gelernt.

Nach Brentano sind alle psychischen Phänomene intentional gerichtet. Sowohl Husserl als auch Freund würden eventuell in der Auffassung übereinstimmen, dass weder das Bewusstsein noch die Psyche statisch seien. Wir nehmen an unserer Umwelt Anteil und wollen sie immer beeinflussen.

Freud beschreibt aber anders als Husserl eine dynamische Interaktion zwischen dem Menschen, seiner Lebensgeschichte und seinem Innenleben. Wir können auch Aspekte der Wirklichkeit verdrängen.  In Träumen, Symptomen und Fehlleistungen erblickte Freud die Wirkung eines Unbewussten. Es ist fraglich, ob Husserl, der ursprünglich Mathematiker war, die Zielgerichtetheit menschlicher Wahrnehmungen, Emotionen und Gedanken so verstanden hat. 

Es scheint mir, dass wir von Edmund Husserl lernen, genau hinzusehen, wenn wir Menschen verstehen wollen. Sein Begriff der Einklammerung (epoché) ist sehr nützlich, wenn wir uns in die Biographie eines Menschen einfühlen. Wir streifen alle Nebenthemen und Vorurteile von der jeweiligen Biographie ab, um die eigentlichen Beweggründe eines Menschen zu erfassen.  

Die Intentionalität spielt auch eine bedeutende Rolle im Begriff des Lebensstils, den Alfred Adler (1870-- 1937) zu einem Grundbegriff der Individualpsychologie erklärte. 

Ich bin nicht überzeugt, dass Maria Gyemant die beiden Meisterdenker des 20 Jahrhunderts mit einander versöhnt hat. Freud las wenig Philosophie, wie er erklärte, weil er die Psychoanalyse als besonderes Werk betrachtete, welches die Philosophen nicht vereinnahmen sollten. Obwohl Husserl die Phänomenologie als Fundament aller Wissenschaften einschließlich der Psychologie verstand, erweckt sein Werk den Eindruck, dass er stets vom Primat der Philosophie ausging. Erst in seinem Spätwerk hat er sich der Zwischenmenschlichkeit zugewandt.

Wie Nicolai Hartmann ausführte, verbindet der Geist, während das Bewusstsein trennt.

Wie komplex psychische Phänomene sein können, kann ich an einem persönlichen Bespiel erläutern. Nach einem zehntägigen Aufenthalt bei meinem älteren Bruder und seiner Familie in Windsor, England, spürte ich starke Schmerzen am großen Zeh. Ich vermutete, es handele sich um einen Gichtanfall, den ich schon einmal erlebt habe. Wir hatten sehr lange gemeinsame Spaziergänge gemacht. Die Ernährung war nicht sonderlich falsch, obwohl die Mahlzeiten  meiner sonstigen Routine nicht entsprachen. In der Familie meines Bruders fühlte ich mich von meinen kulturellen Interessen hier in Berlin sehr abgetrennt; meine persönliche Umgebung hat mir gefehlt. Als ich in Berlin den Orthopäden konsultierte, stellte er eine leichte Erhöhung der Harnwerte fest. Eine einzige Ursache des Symptoms schien es nicht gegeben zu haben. So konnte ich mich medikamentös behandeln lassen und gleichzeitig über die möglichen Stressoren in meinem Leben nachdenken. Mit dem Leib-Seele-Geist-Verhältnis ist es nicht einfach.

Sommerschool Born 2024

von Babette Kozlik-Voigt
15.06.2024

© R.Timm

Zwischen Sonne und Regengüssen – Auf der Suche nach dem Lebensstil: 
Das diesjährige Wochenend-Seminar auf dem Darss: 

Obwohl der Sommer-Kurs an der Ostsee beim sechsten Mal Routine sein könnte, ist dieses Unternehmen für uns Initiatoren doch jedesmal wieder eine Anstrengung. Eine uns liebe Anstrengung, in der Hoffnung, dieses Wagnis möge allen Beteiligten zu mehr Verbundenheit verhelfen. Thematisch geht es jedes Jahr um das Gleiche, jedoch sind die Inhalte dazu stets andere. Das Kernproblem an den Arbeitswochenenden heißt „Lebensstil“. Wer in der Individualpsychologie sozialisiert wurde, weiß, dass dieser Begriff von Alfred Adler geprägt wurde. Danach stößt jedes Kind im Laufe seiner Entwicklung auf Hürden, die es zu überwinden gilt. In der Weise, wie es diese Schwierigkeiten spontan meistert, bildet es sein Wesen heraus, seine „individuelle Meinung von sich und der Welt“. Mit dieser subjektiven Einstellung geht jeder Mensch künftige Lebensaufgaben an. Darin wird der rote Faden erkennbar, das „fiktive Endziel“, nach welchem alle das Leben mehr reaktiv als bewusst auf die je eigene Weise gestalten. Je schwieriger die Aufgabe desto sichtbarer wird diese individuelle „Gangart“.

Das galt auch für das Seminarprojekt selbst: Sechzehn recht gegensätzliche Persönlichkeiten gingen über gut drei Tage gewissermaßen auf Klassenfahrt. Worin nun liegt der „Aufgabencharakter“ solch einer kleinen Ferienreise? Er gleicht einem Test auf unser „Gemeinschaftsgefühl“ – wieder ein Begriff aus Adlers Lehre. Konkret: Verfüge ich über die Befähigung, gemeinsam in einer bunt zusammengewürfelten Gruppe – Menschen unterschiedlichsten Alters und Charakters – den durch die Umstände bedingten Zwang zur Kooperation und Geselligkeit zu bewältigen? Manche unserer Empfindlichkeiten werden unangenehm sichtbar; es zeigt sich, aus welchem Holze wir geschnitzt sind. 

Da es uns aber nicht primär um gruppendynamische Erlebnisse gehen sollte, sondern um ein gutes Zusammenwirken, hatten wir neben Plaudern, gutem Essen, Erkunden der Ostsee, dem Auftaktspiel der Fußball-EM sowie dem nächtlichem Am-Feuer-Sitzen einen gemeinsamen Arbeits-Gegenstand gewählt. Da zu unserer illustren Runde ein ehemaliger Physiklehrer zählte, der auch seinen Beitrag leisten wollte, musste Marie Curie auf die Couch. Begeistert von den bahnbrechenden Leistungen und dem Leben Marie Curies, hielt er uns einen Vortrag über ihre Vita. Konnte man an der Lebensbewegung dieser Frau, die sich so eigentümlich schwierige Aufgaben gesucht hatte, eine „Lebenslinie“ entdecken? Was mochte das „fiktive Endziel“ dieser überaus gebildeten Persönlickeit sein, der im 19. Jhdt. ein Studium  in ihrem Heimatland Polen verwehrt ist, und die es schließlich schafft, an der Sorbonne in Paris zu studieren, um dann auch noch als erste Frau gleich zweimal den Nobelpreis zu erhalten?

Wir ergänzten die berechtigte Bewunderung für diese Wissenschaftlerin durch Fragen zu ihrer Persönlichkeit, Gedanken zu familiärer und gesellschaftlicher Situation und stellten Überlegungen an, wie sie diese enorme Zielstrebigkeit erlangt haben mochte. Da wir uns auch mit einem Text über die „Theorie des Als-Ob“ des Philosophen Hans Vaihinger (1852-1933) befasst hatten, lag es nahe, von hier aus den Bogen zum Lebensweg und den Idealen von Marie Curie zu schlagen. Damit stand die These im Raum, die nicht schlecht dazu passen wollte, dass diese kluge und außergewöhnliche Forscherin sich aus Sicht ihrer Zeitgenossen so verhielt, als ob sie ein ‚richtiger‘ Mann wäre. 

Alfred Adler war vom 1911 veröffentlichten Werk Vaihingers beeindruckt. Dessen Ansatz half ihm die menschliche Seelendynamik fiktional und final zu verstehen. Vaihingers Theorie sagt sinngemäß, dass die menschliche Erkenntnis nicht nur ein Abbilden der Gegenstandswelt ist, sondern von uns auch geistig produziert wird, um Orientierung und Ordnung im Leben zu finden. Selbst falsche Annahmen als nützliche Ideengebilde helfen uns mit der Wirklichkeit umzugehen. Wir reagieren auf Anforderungen in einem Schema des Als-ob, also so, als ob wir schon einmal nach diesem uns vertrauten – „unbewussten“ – Muster durchgekommen seien. In Vaihingers Denkweise ist Wahrheit dann so etwas wie die zweckmäßigste Form des Irrtums. Doch Curies Entdeckungen beweisen nicht nur, dass eine Frau so etwas kann, sondern ergänzten auch faktisch das immer noch gültige „Periodensystem der Elemente“.

Auf unsere Situation in Born übertragen: Wir alle hatten uns hier an einem wunderschönen Urlaubs-Fleckchen in eine Konstellation begeben, die mit dem einhergehenden Zwang zur Nähe manches Risiko barg. Die liebenswürdigen Kommentare am Ende der Veranstaltung bekundeten, dass wir alle dazugelernt hatten. Gemeinsam hatten wir einander Rede und Antwort gestanden, aber auch zum leiblichen Wohle beigetragen. Anders als bei Klassenfahrten üblich, musste kein Lehrer für Ordnung sorgen. Wir trennten uns schließlich mit dem Gefühl, dass wir die uns gestellte Aufgabe alle gut bewältigt hatten. Und sogar das wechselhafte Wetter behandelte unsere Sache so, als ob die Sonne immer gewusst hätte, es sei an der Zeit mitzuspielen.

Sommerfest 2024

von Mareen Kötschau
08.06.2024

© Timm/Kötschau

Das diesjährige Sommerfest in der Eiche begann wie gewohnt mit einer Sitzung der Großgruppe, in der das Gemeinschaftsgefühl Adlers aus persönlicher, anthropologischer und philosophischer Sicht reflektiert wurde. Der common sense oder das Zugehörigkeitsgefühl einer Gemeinschaft gegenüber oder hinsichtlich eines gemeinsamen Ziels wird bereits früh in der Familie eingeübt und entwickelt. Es ist ein seelisches Empfinden.

Nach Hegel ist das Seelische die Bewegung, die aus bloßer Leiblichkeit Bewusstsein entstehen lässt. Die fühlende Seele kann sich bereits selbst zum Gegenstand nehmen und sich somit zum anderen in Beziehung setzen.

Doch es kann in einer Gemeinschaft nicht nur um das Bewusstsein und das Gefühl gehen. Das Gemeinschaftsgefühl weist auf die wesentliche Frage: Und nun, was tun? Die Handlung zählt. Die Handlung schafft Identität. Die Handlung schafft Freiheit. Zumindest wenn man den Existentialisten Beauvoir und Sartre folgt. Nur in der Handlung kann Freiheit erlebt werden.

So wurden einige der Handelnden gewürdigt. In diesem Jahr waren es keine ehemaligen Prüflinge, sondern Marion, die gute Seele des Büros, die im Herbst ihren Abschied nimmt. Sie war stetige Ansprechpartnerin für die PiAs in der Ambulanz und überhaupt bei vielen Fragen der Organisation.

Wir begrüßten außerdem jene, die zum Handeln bereitstehen, neue Mitglieder der Gemeinschaft, z.B. die Nachfolgerin von Marion sowie einen Techniker, der uns bei der Digitalisierung des Instituts unterstützen wird und einige andere. Und da die Welt mehr Grün vertragen kann, wurde ordentlich Grünzeug verteilt. Der Techniker erhielt eine Digitalis, die in Ruhestand Gehende künftige Kleingärtnerin eine Rose, der Financier einen Goldtaler, auch Dukatenblume genannt, unsere neue Büroangestellte ein „Vorschusslorbeergewächs“ und die fleißigen Gärtner*innen, die die Lücke der im letzten Jahr verstorbenen Buche wieder füllten je nach Gangart verschiedenartige Samen. Das Hegelsche Ich kann nicht anders, als sich in Beziehung zu setzen.

Doch weil der Leib nicht nur bloße Äußerlichkeit sein kann, egal wie entwickelt der Geist ist, sondern sehr konkret und fühlbar, gab es ein köstliches Buffet. Auch dies entstanden durch viele helfende Hände. So saßen wir bei Speis und Trank beisammen und in der warmen Atmosphäre sommerlich-leichter Jazzklänge lauschten wir der von der Gitarre getragenen Sängerin, die Geschichten über Liebe und Sehnsucht vortrug. Wir plauderten, neue PiAs lernten einander kennen, andere begegneten sich wieder, und das Gemeinschaftsgefühl wurde neu belebt.

 

 

 

 

Modigliani - Moderne Blicke
Museum Barberini - Potsdam

von John Burns 15.06.2024

Heute habe ich die Ausstellung Modigliani. Moderne Blicke im Museum Barberini besucht. Auf der Friedensinsel nicht weit vom Museum entfernt fand ein Schwimmwettbewerb statt, der von der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) organisiert wurde. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sollten einmal um die Insel schwimmen. Da ich zurzeit die Cartesianischen Meditationen des Philosophen Edmund Husserl lese, überlegte ich kurz wie solche Veranstaltungen auf mich wirken.

Husserl beschäftigte sich 1931 in seiner in französischer Sprache erschienenen Schrift mit der Frage der inneren Beschaffenheit des Ichs. Wie Sigmund Freud das Seelenleben ausgesprochen detailliert beschreiben konnte, kannte der Gründer der Phänomenologie das menschliche Bewusstsein in allen seinen Erkenntnisleistungen und Wahrnehmungen ganz genau.

Husserl ist wegen seiner eigenwilligen Begrifflichkeit schwer zu lesen. Der Philosoph wollte keine Erkenntnisse als evident hinnehmen, die er nicht selber geprüft habe. Wir sollten alles neu „sehen“.

Wie ich in der Psychotherapie einen Menschen verstehe, hängt von meiner Bereitschaft ab, alles von mir abzustreifen, was die Wahrnehmung meines Gegenübers stören würde. In einer Therapiestunde sind wir entspannt aber konzentriert, mit hilfreichen Theorien ausgestattet, aber wir halten zunächst unsere Einschätzung des Anderen  in der Schwebe. Ich weiß zu Beginn einer Therapie nicht, wer der Andere ist.

Das Sehen schulen wir unter anderem durch den Besuch einer Kunstausstellung. Während ich die Schwimmer und Lebensretter auf der Friedensinsel nicht wirklich kennen lerne, weil ich sie nur in ihren Rollen bewundere, bin ich beim Besuch einer Ausstellung ganz bei mir und bei den Bildern, die ich betrachte.  Ich kann nicht einfach die Kunstwerke kursorisch zur Kenntnis nehmen; ich muss sie aufmerksam anschauen. Offen und ohne Voreinnahmen betrete ich die Museumsräume und hoffe, dass die Gemälde  in mir eine emotionale Resonanz hervorrufen werden.

Husserl beschreibt das Vermögen des Menschen, sich und die Welt freimütig und vorurteilslos zu betrachten als Epoché. Wir beschränken uns hierbei auf das Nötigste, wenn wir etwas verstehen wollen. Wir rahmen den Gegenstand ein, den wir wahrnehmen und sehen möglicherweise das Wesen des Phänomens. So rahmt der Künstler sein fertiges Bild ein.

In der Ausstellung lese ich gern die Beschreibungen der Bilder, obwohl die zusätzliche Information zum Leben und Werk des Künstlers nur wenig zum Verständnis eines Werkes beiträgt. Der Sinn eines Bildes ist im Werke schon angedeutet und wird von uns bei ruhiger Betrachtung erschaut.

Ich begehre die Frauen nicht, die Modigliani gekleidet oder nackt darstellt, sondern staune eher über das Wechselspiel zwischen Leben und Kunst, das den Maler fasziniert hat. Freiheit in der Erscheinung, interesseloses Wohlgefallen (Kant), Staunen über die Schönheit des Leibes – ich schäme mich nicht, die dargestellten Frauenformen genau anzuschauen. 

Der Künstler sieht den Leib als Phänomen, wie sich Husserl in den Cartesianischen Meditationen für die Mannigfaltigkeit der Perspektiven begeistert, wenn er einen Würfel beschreibt. Die Frauenakte spiegeln die Lichtverhältnisse des Studios wieder; sie können erotisch wirken, sind aber auch Ausdruck des Leib-Seele-Geist-Verhältnisses der porträtierten Frau. Der Leib gehört ihnen, nicht dem Betrachter.  Selbstbewusst schauen die Akte in den Raum hinein. „Im Leibe wohnen“ empfahl einmal der Philosoph Friedrich Nietzsche.

Vor einem Bild blieb ich kurz stehen, wich aber zur Seite aus, als ich spürte, ich versperre anderen den Blick auf das Porträt. Eine Dame im mittleren Alter, die auf einer Bank saß, um das Bild auf sich wirken zu lassen, bedankte sich, dass ich auf sie Rücksicht genommen habe. So bekam das Bild in meinem Bewusstsein eine zusätzliche Bedeutung und ich kaufte eine Postkarte - Junge Frau in gelbem Kleid -im Ausstellungs-Shop.

Der Blick der jungen Frau im gelben Kleid ist etwas rätselhaft. Sie sitzt entspannt auf einem Stuhl; der rechte Arm liegt auf ihrem Schoß, der linke hängt gerade von der Schulter herunter. Ihr ovales Gesicht ist mit glattem schwarzem Haar umrahmt, der Hals im typischen Stil des Malers etwas gestreckt. Sie schaut nach links mit verschlossenem Mund, langweilt sich vielleicht, oder sieht die Absicht des Malers, sie in ihrem Wesen zu erfassen, als etwas müßig an. Ich versuche mich in das Porträt einzufühlen, indem ich mir ausmale, was die Frau eigentlich denkt, während sie den Maler skeptisch anschaut: „Ich sitze hier in meinem schönen Kleid, wenn du willst, habe eigentlich etwas Besseres vor. Das Porträt? Ob das mich zeigt, wie ich wirklich bin?“

Das letzte Husserlsche Thema in den Cartesianischen Meditationen  lautet der Andere. Wie ist der Andere in meinem Bewusstsein abgebildet? fragt der Philosoph. Modigliani begegnete seinen Sujets mit einem liebenden Blick. Er nahm sich die Zeit, andere Menschen genau anzuschauen, um das Einmalige an ihnen in Bildern festzuhalten.

Eine Ausstellung eröffnet immer einen neuen Horizont in meiner Erlebniswelt. So fuhr ich nachdenklich und vergnügt im überfüllten Regionalzug nach Berlin zurück. In Potsdam hatte ich viel gesehen und wurde von der DLRG  mit einer Bratwurst und einer Tasse Kaffee gut versorgt.

 

Ich ziehe es vor, es nicht zu tun

von Matthias Voigt
20.05.2024

© Reiter Kunstverlag, Ebmatingen/Schweiz

Mit dieser eindeutigen Ansage eröffnet Bartleby seinem Chef, dass ihm dessen Auftrag missfällt. Daran musste ich beim Fortbildungsgespräch am Samstag denken. Unser Thema drehte sich um die Funktion der Sprache in der Entwicklung des Kindes. Den oben zitierten Satz legt Herman Melville dem Angestellten eines amerikanischen Rechtsanwalts in den Mund. Dieser Bartleby ist offenbar ein Sonderling. Auf die ihm eigene höfliche Weise sorgt er dafür, dass sein Chef ihm zuletzt resigniert die eigenen Praxisräume überlässt. Die Geschichte endet schließlich tragisch.

Wie hängt nun Melvilles Erzählung mit unserer Fortbildungsveranstaltung und dem Thema Sprache zusammen? Eine Teilnehmerin, wohl um die 80, hatte von folgender Äußerung eines etwa 4jährigen Mädchens berichtet. „Ich bevorzuge es hier zubleiben“, sei ihre Antwort auf den Appell der Eltern gewesen, sich dem gemeinsamen Spaziergang anzuschließen. 

Für uns als Psychotherapeuten stand gerade das Problem im Raum, was Kinder daran hindert, ihre Wünsche und Intentionen adäquat in Worte zu fassen. In unserem Gespräch wurde dies tendenziell dadurch erklärt, dass Eltern bzw. erwachsene Beziehungspersonen nicht angemessen auf die Bedürfnisse der Kleinen eingingen. Pädagogisches Ungeschick oder Ungeduld der Erwachsenen schränke den kindlichen Spielraum ein und damit die Befähigung zu individuellem Ausdruck. Derartige Einschränkungen scheint die Vierjährige offenbar nicht erfahren zu haben. Wem sie ihr beeindruckend elaboriertes Sprachvermögen verdankt, wissen wir nicht. Wir Erwachsenen schmunzeln über solchen Kindermund, ahnen jedoch auch, dass dieses Mädchen unter Gleichaltrigen nicht unbedingt auf Gegenliebe stoßen wird. 

Im Grundlagentext unserer Debatte hieß es zur Funktionsweise der menschlichen Sprache: Sie eröffne dem Kind einen virtuellen Raum, der es erst ermögliche, dass es sich gewissermaßen aus seiner Umwelt herauslöse. Indem es allem einen Namen gibt, verwandeln sich die damit benannten Umweltausschnitte zu Gegenständen. Mit diesen pflegt es dann Umgang. Es bleibt nicht allein bei der Benennung. In der Form von Sätzen erschließt sich dem Kind, wie diese Gegenstände mit anderen zusammenhängen; es eröffnet sich also deren Bedeutung. Die symbolischen Sprachgefüge repräsentieren demnach die ent-sprechenden Sachzusammenhänge. Wir ahnen, welch weltbewegende Dynamik in der Befähigung zum Sprechen liegt. Man muss nicht mehr mühsam auf alles deuten.

Zugleich mit dieser Ent-deck-ung der Außenwelt erwächst uns eine Innenwelt, die nach Ausdruck und Versprachlichung des eigenen Erlebens verlangt. Was hiermit angedeutet werden soll, ist die spezifische, nur dem Menschen eigene Weise, sich zielstrebig in seiner Welt zu orientieren. Wo das Tier durch Instinkte geleitet wird, muss unsereiner entscheiden, wohin die Reise gehen soll. Wonach entscheidet jedoch ein Mensch, ob er mitwandern will oder bevorzugt, es lieber nicht zu tun? Was entscheidet darüber, ob er Mitarbeiter wird oder die anderen in Dienst stellt? 

In der Psychotherapie versuchen wir, die Bartlebys unserer Tage zu verlocken, das Mitmachen vorzuziehen. Kooperation verlangt, dass wir uns mit anderen aufmachen, gemeinsam die Dinge ergreifen, um nachzuholen, was wir noch nicht konnten; denn das Menschenleben ist nur manchmal ein Spaziergang.

 

Der Menschenfeind oder der verliebte Melancholiker

Von Roswitha Neiss
01.05.2024

© Kozlik-Voigt

Am 30. April (2024) waren wir im Theater: Das Wir bestand aus einer ansehnlichen Schar von Psychotherapeuten (!), die im Deutschen Theater zusammentrafen, um sich Molières Menschenfeind anzusehen.

Für mich war dies zunächst ein überraschendes Ereignis, dem ich freudig zugestimmt hatte und das sich sogleich zu einer mehrschichtigen Unternehmung entfaltete: Es entführte mich schon bei der Hinfahrt mit der S-Bahn sehr anschaulich in die drei Dimensionen der Zeit, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Das Deutsche Theater ist mir sehr vertraut aus der Zeit nach 1989, als „die Mauer gefallen war“. Wie gern fuhren wir damals mit der S-Bahn „hinüber“, gingen Unter den Linden spazieren und erfreuten uns an den DDR-Theatern, die gediegen unsere Kulturgeschichte pflegten.

Nun fuhr ich endlich wieder diese Strecke. Aber was für ein Unterschied! Mir, die ich die letzten 20 in fast klösterlicher Abgeschiedenheit gelebt hatte, wurde das Schicksal der DDR drastisch vor Augen geführt: Aus dem schmerzlich-tragischen Opfer von Faschismus und Kommunismus war ein sauberer, geometrisch anmutender Gegenstand des Kapitals geworden.

Wir stiegen Friedrich-Straße aus, liefen über die wie damals steinern eingefasste Spree zum Theater in der Schumannstraße. Der Abend war warm. Sogar der ehemalige Reichsbahn-Bunker an der Albrechtstraße 24-25 sieht nun manierlich aus; er gilt als „Baudenkmal“ und hat eine Dachterrasse mit Räumen, in denen Kunstausstellungen stattfinden. Deswegen nennt man ihn „Kunstbunker“. Er wurde vermutlich 1943 fertiggestellt. Damals war ich drei Jahre alt, und es war mehr als ungewiss, ob ich die folgenden Jahre überleben würde.

Die Aufführung war eindrücklich und bot sich mir dar als ein Lehrstück zum Thema Gesellschaftsanalyse bzw. Charakter und Liebesleid. Und Molière? Er kam mir vor wie einer von heute. Die Schauspieler brachten ihn mir nahe: gleich am nächsten Tag habe ich sein Stück gelesen.

Der Menschenfeind ist autobiographisch und zeigt uns Molière als großen Dichter und kenntnisreichen Tiefenpsychologen. Zwei Paare werden geschildert: Alceste und Célimène sowie Philinte und Eliante. Letztere haben die Lektion des Lebens irgendwie gelernt; umsichtig und maßvoll geworden, können sie zueinander finden, werden eine Familie gründen und Kinder in die Welt setzen. Sie werden vor allem dem anderen Paar bei dessen unerbittlich-heftigen Konflikten zur Seite stehen.

Alceste ist der Idealist und Kritiker und erhebt für sich den Anspruch, ohne Heuchelei zu leben. Er bleibt unabhängig gegenüber dem königlichen Hof, ist zu Kompromissen mit der Wahrhaftigkeit nicht zu bewegen. Célimène lebt den Gegenpart in kluger Ebenbürtigkeit.

Freud und Molière sind sich einig: Die eigentlichen Mächte des Lebens sind Eros und Thanatos. Eros verbindet und braucht den kraftspendenden Gegensatz. Wo Eros fehlt, wirkt Thanatos, eine Gottheit von gleichsam passiv arbeitender Auflösung: Er ist durch und durch untätig und überlässt seine Arbeit den Mikroben, deren unendlich ausgedehntes Reich bis in die Anfänge des Lebens vor 3,8 Milliarden Jahren zurückreicht.

In Alceste schuf uns Molière den großen unbedingten Menschen, der zwischen Wert und Unwert zu unterscheiden weiß. Seine Empörung ist uns kostbar, in ihr finden „wir alle“ den notwendigen Spiegel. Und wie unausweichlich Célimène zu ihm passt und ihn liebt, sagt sie uns mit ihrem Ausruf „Ich will es, will es, will es!“ und noch deutlicher „… die meiste Zeit aber ist er mir fürchterlich zuwider.“

Hugo von Hoffmannsthal sagt dazu: „Die Liebe ist nicht süßlich.“

Internationaler Psychiatriekongress in Marrakech
(Teil I)

Von Gerald Mackenthun
5. Mai 2024

© Gerald Mackenthun

Psychiatrie und Psychotherapie einerseits, arabische Kultur andererseits – das war die Mischung, die mich bewog, mich für den 20. Weltkongress der World Association for Dynamic Psychiatry (WADP) in Marrakech anzumelden. Zudem kenne ich einige Leute aus dem deutschen Zweig der WADP, sodass ich in Marokko nicht allein sein würde. Er fand vom 16. bis 20. April in der Medizinischen Fakultät statt. Vorher und hinterher hatte ich je zwei Tage Zeit eingeplant, um Land und Leute kennenzulernen.

Die Altstadt von Marrakesch, die Medina, ist sehr groß; man kann sie keineswegs an einem Tag durchgreifen. Außerdem befinden sich dort wichtige Baudenkmäler, die zu besichtigen Zeit braucht. Zusammen mit deutschen Freunden und Kollegen durch streifte ich das Gassengewehr an mehreren Tagen. In unzähligen Geschäften werden Gewürze, Teppiche, Kleidung, Kupferwaren, Lebensmittel und Schmuck angeboten. Feilschen ist dort erlaubt und wird erwartet. Störend waren die vielen Mofas, die sich zusammen mit den Menschen durch die schmalen Gassen quetschen. Es gibt viele preiswerte Restaurants; empfehlenswert sind jene, die sich im ersten Stock oder auf dem Dach der Häuser befinden, da man dort relativ ungestört vom Lärm der Gassen essen kann.

Besonders schön und beeindruckend sind die alten Paläste, aber auch beispielsweise der „Geheime Garten“, eine erst vor wenigen Jahren restaurierte und bepflanzte Oase in der Mitte der Altstadt. Überhaupt gibt es viele große Parks mit Palmen, in denen man spazieren gehen und sich ausruhen kann. Die Moscheen und auch der arabische Friedhof dürfen von Ungläubigen nicht betreten werden, ein noch nicht überwundenes Relikt religiösen Eiferertums. Ich besuchte eine Synagoge und den jüdischen Friedhof. Vor 100 Jahren lebten in Marokko über 200.000 Juden, die nach dem Sieg Israels über die arabischen Aggressoren 1948 das Land verließen. Heute sollen noch 2000 Juden in Marokko leben.

Da ich die vier Kongresstage nicht durchgehend anwesend war, konnte ich mehrere Ausflüge unternehmen. Eine führte zu dem von André Heller gestalteten Garten „Anima“ südlich der Stadt, ein anderer, ebenfalls Richtung Süden Richtung Atlas-Gebirge, in die Agafay-Wüste und in die Berge hinein. Auf der Tour ritt ich zum ersten Mal auf einem Kamel; es wird wohl auch das letzte Mal gewesen sein.

Auffallend ist der Kontrast zwischen dem alten und dem neuen Marrakesch. Außerhalb der Altstadt entstehen im Süden riesige „Gated Communitys“ und Hotelkomplexe mit hohen europäischen Preisen. In der Altstadt und in einigen anderen Vierteln jedoch herrscht der ursprüngliche niedrige Lebensstandard, wovon der Tourist profitiert. Man kann für zwei Euro ein gutes Frühstück und für zehn Euro ein schmackhaftes Mittagessen bekommen. Gewöhnungsbedürftig ist der Straßenverkehr und insbesondere das Taxiwesen. Wer sich in Berlin über ruppige Autofahrer aufregt, sollte einmal den Straßenverkehr in Marokko genießen.

Internationaler Psychiatriekongress in Marrakech
(Teil II)

Von Gerald Mackenthun
5. Mai 2024

© Gerald Mackenthun

Am Kongress nahmen etwa 300 Menschen aus 21 Ländern teil. Dass Teilnehmer aus Russland und Iran nicht erschienen, wurde mit „Visaproblemen“ begründet. Interessant waren die Hauptvorträge von Manfred Spitzer über die Chancen und Risiken der Künstlichen Intelligenz oder Joachim Bauer über den Verlust von Realitätserfahrung durch exzessiven Video-Konsum und der ständigen Verbindung mit einem Smartphone. Driss Moussaoui von der Marokkanischen Psychiatriegesellschaft sieht eine Zukunft in der Video-Beratung, um Patienten auf dem Lande zu erreichen. Juan Mezzich aus den USA ging von der WHO-Definition für psychische Gesundheit aus, um für Patienten eine „totale Gesundheit“ zu skizzieren – ein für mich eher abwegiger Gedanke. Lea Dohm forderte Psychologen und Psychiater auf, sich neben der Berufstätigkeit für den Umweltschutz und gegen die Klimaerwärmung zu engagieren. Ich selbst hielt einen kleinen Vortrag über „Zukünftige Trends in der klinischen Psychologie“. Darunter verstehe ich Therapiestunden per Video und digitale Gesundheitsdienste, den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Psychotherapie, die Behandlung von immer mehr Migranten aus fremden Kulturen, die Anwendung neurobiologischer Erkenntnisse in der Psychotherapie, das neue Problem des „Unbehagens mit dem biologischen Geschlecht“ und die Schwierigkeiten mit Patienten, die Verschwörungserzählungen anhängen. Ein völliger Reinfall war das teure, als festlich gedachte Abendessen, welches in einem rot ausgeleuchteten Nachtklub mit wilden Tänzerinnen stattfand. Man konnte sein eigenes Wort nicht verstehen.

Da ich nun selbst zu den aktuellen Trends in der Psychotherapie recherchiert hatte, bot mir der Kongress inhaltlich nicht sonderlich viel. Aber ich lernte – für mich erstmals – ein orientalisches Land kennen. Zusammen mit Freunden und Kollegen durchstreifte ich die Altstadt, machte mehrere Ausflüge in die Umgebung, und die gemeinsamen Mahlzeiten boten Gelegenheit zum Gespräch. Beeindruckt hat mich vor allem auch die Ornamentik dieser Kultur, die aus einem für mich sinnlosen islamischen Bilderverbot resultiert. Aber es entstehen daraus farbenfrohe und filigrane Arbeiten, die man bewundern kann.

 

Autobiografie und Vortragstexte von Dr. Gert Janssen erschienen

Von Gerald Mackenthun
28. April 2024

© VTA - Verlag für Tiefenpsychologie und Anthropologie

Wie wirkt sich eine Psychotherapie, die nicht nur Krankenbehandlung sein will, sondern auch die geistig-kulturelle Entwicklung des Analysanden fördern will, auf ein Leben aus? Das wird deutlich in der Autobiografie des von uns sehr geschätzten, langjährigen Gruppenmitglieds Gert Janssen, die Anfang April erschienen ist und auf deren Erscheinen im April hier aufmerksam gemacht werden soll. Die Autobiografie wird ergänzt von Aufsätzen und Vorträgen, in denen er das Thema Entwicklung der Persönlichkeit theoretisch aufarbeitet. Seine psychologisch-philosophische Schulung erhielt Janssen durch den Berliner Arzt und Psychologen Josef Rattner, Gründer des Instituts für Tiefenpsychologie, Gruppendynamik und Gruppentherapie (ITGG) Berlin.

Bei ihm findet sich die nicht alltägliche Kombination einer Tätigkeit als Volljurist mit einem Engagement in Psychologie und Psychotherapie. Das Thema „Entwicklung der Persönlichkeit“ ist das verbindende Element seines Lebens als auch seiner Aufsätze und Vorträge, die er in den vergangenen Jahren im Rahmen des ITGG gehalten hat. Sie dienen dem Verständnis der wertorientierten, geistig aktiven Persönlichkeit, der „Person“ im Sinne der Philosophie. Neben dem Bezug auf Alfred Adlers Individualpsychologie werden Schriften von bedeutenden Psychiatern wie Ludwig Binswanger, Eugen Minkowski und Daniel Stern referiert. Von aktuellem Interesse ist schließlich der Vortrag über Ernst Cassirers Buch „Vom Mythus des Staates“, in dem sich der Philosoph mit dem Versagen des Rechtsstaats im Nationalsozialismus auseinandersetzt. 

Gert Janssen "Rückblick auf mein Leben"
Mit Aufsätzen und Vorträgen ab 2001
VTA-Verlag Berlin, April 2024
gebunden, 148 S., 19,90 €
Erhältlich überall im Buchhandel oder unter
https://buchshop.bod.de/rueckblick-auf-mein-leben-gert-janssen-9783946130536

 

„Dienst am Geist“ - frei nach Siegfried Lenz

von Babette Kozlik-Voigt
16.4.2024

© Behrenz

Im Folgenden geht es um die geistige Verbindungslinie zwischen dem Schicksal der schlitzblättrigen Buche aus der Eichenallee 6 und dem schlitzohrigen Eugen Boll, seines Zeichens Dorfschullehrer im masurischen Suleyken.

Im letzten Herbst musste unsere wunderschöne Buche im stolzen Alter von etwa 150 Lebensjahren gefällt werden. Ihr Naturschutz-Status half ihr auch nicht mehr. Mit einem einsamen grünen Ästchen hatte sie bereits im Vorjahr ihren letzten Lebenstrieb bekundet. Und der Garten heute: ein trauriger Anblick zerstörter Ordnung. Der überbordende Frühling diesen Jahres gemahnte nun daran, neue Formen der Trauerarbeit zu leisten. Wir beschlossen eine gemeinsame Pflanz-Aktion: Felsenbirne, Kolkwitzie, Blutpflaume, Brautspiere, Goldregen, Duftjasmin, Deutzie und Flieder sollten in die Erde – kein wirklicher Ersatz, aber ein erstes Aufbegehren, bevor im Herbst ein Baum seinen Platz finden wird.

Am 13. April trafen wir uns im Garten nach der Samstags-Theorie über das Erstgespräch und anschließender Fortbildungs-Veranstaltung über Carl Spittelers früheste Erlebnisse. Die Sonne stand bereits hoch im Zenit, als wir in bester Stimmung mit Spaten, Schaufeln, Schubkarre, Gießkannen zur Tat schritten. Es gab genug Garten-Beflissene, die zur „Oralen Phase“ von Jungpflanzen Auskunft geben konnten. Also: Pflanzlöcher mindestens dreimal so groß wie der Ballen der Gehölze, dazu Kompost und vor allem viel Wasser. Die psychologisch geschulte Schar wusste sogar mit Spaten und Schaufel umzugehen, doch im Laufe des Nachmittags verlangte das Buddeln bei fast sommerlichen Temperaturen einiges an Körpereinsatz. Nur ein Busch war noch nicht versenkt, als es endlich Baguette, guten Käse, Wasser, Saft, Kaffee und sogar frisch gebackenen Apfelkuchen gab. 

Da saßen wir nun als eine kleine zufriedene Gruppe. Und in dieser Stimmung fielen uns die urkomischen Kurzgeschichten von Siegfried Lenz ein. Vierzig Jahre ist Eugen Boll schon Lehrer, vierzig Jahre steht er in Suleyken "im Dienst am Geist". Allerdings hält er von der Praxis mehr als von der Theorie und lässt seine Schüler ausschwärmen, um in der Natur fürs Leben zu lernen. Daselbst wird eines Frühlingsmorgens Eugen Boll samt gelehriger Kinderschar jenseits des Klassenzimmers überrascht: Eine Schulinspektion! Es kostet unseren Schulmeister einige Beredsamkeit, dem Besucher aus der fernen Stadt den Erkenntniswert der gerade ins Werk gesetzten Latrinen-Vertiefung einsichtig zu machen: „Sozusagen Dienst am Geist“ – das kann sogar einen Stadtschulrat überzeugen. Vielleicht wurde ja auch seine Einsicht durch den Gestank gefördert.

Die Sonne stand schon im Westen, als schließlich auch dem Sommerflieder der Standort zugeteilt war. So trennten wir uns im Gefühl, unseren Beitrag geleistet zu haben. Dankbar für die erlebte Gemeinschaft, beglückt, dass das Miteinander so leicht sein kann, ging jeder seines Weges. Der Garten war um ein gutes Stück mehr zu unserer Heimat auf Erden geworden. Vielleicht war auch dies „sozusagen Dienst am Geist“.

Siegfried Lenz, So zärtlich war Suleyken, dtv 2011

 

Was ist die Seele?

von John Burns
15.04.2024

© Kozlik-Voigt

Als wir neulich über Carl Spitteler und seine Kindheitserinnerungen sprachen, wurde gefragt: Was ist die Seele? Die Antwort, die der Schweizer Nobelpreisträger in seinem Buch Meine frühesten Erlebnisse gab, lautete:

Folgendes muss ich denken: Inwendig im Menschen gibt es etwas, nenne man es Seele oder meinetwegen X, das von den Wandlungen des Leibes unabhängig ist, das sich nicht um den Zustand des Gehirns und um die Fassungskraft des Geistes kümmert, das nicht wächst und sich entwickelt, weil es von Anbeginn fertig da war, etwas, das schon im Säugling wohnt und sich zeitlebens gleich bleibt. Sogar sprechen kann das X, ob auch nur leise. Es sagt, wenn ich seinen fremdländischen Dialekt recht verstehe: „Wir kommen von weitem her.“

Seit der Mensch begonnen hat über „das Verhältnis, das sich zu sich verhält“ (Kierkegaard) nachzudenken, hat es unzählige Versuche gegeben, die Seele zu definieren. Emotionen und Wertungen scheinen den Kern der Seele auszumachen, die, wie Friedrich Nietzsche in Also sprach Zarathustra ausführt, etwas am Leibe ist. Während die positivistische Wissenschaft die Seele auf die Tätigkeit des Gehirns reduzieren möchte, und religiöse Denker von einer Seele sprechen, die nicht am Leib gebunden ist, gehe ich davon aus, dass wir es immer mit einer Leib-Seele-Geist-Synthese zu tun haben. Während die Materie uns sehr kompakt erscheint, ist unsere Seele ein kostbares Geschenk der Evolution, das wir vor Angriffen und Übergriffen durch die oft etwas aggressiv gestimmte soziale Umwelt schützen müssen. Die Seele zeichnet sich, wie Spitteler wusste, durch ihren schöpferischen Geist und ihre sichere Wertempfindung aus. In einer vertrauensvollen Beziehung sprechen wir „aus der Seele“.  

Während meiner Schulkarriere fühlte ich mich von meiner Aufgabe, schwierige junge Menschen zu unterrichten, oft überfordert. Ich klagte in einer Therapiestunde über Schlafstörungen und körperliche Anspannung. „Wie viel ist Ihre Seele wert?“ fragte der Therapeut am Ende der Sitzung. Darauf wusste ich keine Antwort. „Und wieviel Salär bekommen Sie?“ lautete die nächste Frage.

Seit dieser Therapiestunde weiß ich, was gemeint ist, wenn wir von „Seele“ sprechen, auch wenn ich die Erkenntnis nicht in Worten fassen kann. Die Seele ist unser kostbarstes Gut, das wir schützen und pflegen sollen. Was die Seele uns auf „Fremdländisch“ und in „leiser Stimme“ sagt, können wir im Laufe des Lebens verstehen lernen.

Tartuffe von Molière oder Wissen Sie noch, was ein Alexandriner ist?

Über eine Aufführung im Berliner Renaissance-Theater
von Matthias Voigt
am 27.3.2024

RT TARTUFFE vl Stefan Jürgens, Emese Fay, © Foto Ann-Marie Schwanke-Siegersbusch

Es gibt wohl kaum ein Versmaß, das auf der Bühne für uns heute so unpassend klingt, wie eben der „Alexandriner“ des klassischen französischen Dramas. Molières Komödie aus dem Barockzeitalter des 17. Jhdts. mit der Hauptfigur des „Tartuffe“ bis zur Kammerzofe „Dorine“ brachte im Renaissance-Theater für die Zuschauer über knappe zwei Stunden keinen Moment des Überdrusses an der gestelzt daherkommenden Sprachakrobatik. In einer unterhaltsamen Inszenierung wurden uns die Mechanismen der Verführung vorgeführt: Was bringt das Familienoberhaupt Orgon dazu, dem scheinheiligen Hochstapler Tartuffe zu verfallen. In seiner Ich-Schwäche macht er in überzogener Bewunderung den selbsternannten Seelenführer zu seinem moralischen Leitstern um ihm schließlich sogar alles, was sein Eigen ist, zu überlassen. Nur bleibt in dem ungleichen Tausch der ersehnte innere Frieden aus.

Molières Alexandriner ließen uns also im Berliner Renaissance-Theater in der Figur des gerissenen Tartuffe und in dessen willigen, aber auch widerwilligen Opfern die ersten Vertreter der modernen Welt erblicken. Wir Zuschauer, das waren drei gestandene Psychotherapeuten und fünf Ausbildungskandidatinnen, waren begeistert von der Aufführung. Aber wir gingen auch mit gemischten Gefühlen nach Hause, unsicher, was dieses Bühnenstück bei den jungen Leuten ausgelöst haben mochte.

Das gemeinsame Nachgespräch einige Tage später nahm uns die Unruhe. Aus der Kandidatengruppe kam wie von selbst die Frage auf, was uns Menschen denn eigentlich so anfällig macht, dass wir uns magisch angezogen fühlen von rettenden Vaterfiguren, die dann als Demagogen ihr Spiel treiben. So wurde unser Gespräch zu einem unerwartet lebendigen und sehr persönlichen Gedankenaustausch. Diese zwischenmenschlich nahe Situation bewirkte für mich ein Gefühl der Dankbarkeit, wie ein Heimatgefühl in einer manchmal wackelnden Welt.

 

Malwida von Meysenbug - Wegbereiterin der Emanzipation im 19. Jahrhundert

Vortrag am 14. März 2024 in Kassel
von Regina Timm

Mit freundlicher Genehmigung von Freiherr Carl-Erdmann von Meysenbug

Die Malwida von Meysenbug-Gesellschaft in Kassel hatte mich eingeladen über meine Dissertation zu berichten. Für Malwida von Meysenbug, aufgewachsen zwischen Adel und Bürgertum, war ein angepasstes Leben im Kreise der Familie vorgesehen. Früh nahm sie das Leben um sich herum bewusst wahr, sowohl gesellschaftliche Zusammenhänge als auch die politische Situation. Sie solidarisierte sich mit den demokratischen Bewegungen des Vormärz und der Revolution von 1848. Dadurch geriet sie in Konflikt mit ihrer Familie, blieb aber entschieden und nahm sogar in Kauf, als politisch Verfolgte nach England emigrieren zu müssen.

Den Schwerpunkt für meinen Vortrag legte ich auf die psychologischen Aspekte meiner Arbeit. Ich hatte mir selbst die Frage gestellt, wie es der Person Meysenbug gelungen ist, sich zum einen aus den engen Familienstrukturen zu lösen und zum anderen, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen und zu dieser besonderen Individualität zu reifen. Welche spezifischen Entwicklungen und Charakterzüge haben sie geprägt und wie ist es ihr gelungen, den für Frauen zur damaligen Zeit vorbestimmten Weg zu verlassen und die eigene Selbstwerdung anzustreben. Mit Hilfe von Alfred Adlers Theorie wurden einige Kindheitserinnerungen von Meysenbug dargestellt und das Gemeinsame dieser Erinnerungen herausgearbeitet. Karen Horneys Typenmodell vom selbstverleugnenden, expansiven und distanzierten Typen stellte eine weitere Möglichkeit dar, Meysenbugs Persönlichkeit genauer zu verstehen und nachzuvollziehen, welche Zielrichtung ihr Leben hatte, ohne sie jedoch zu pathologisieren.

Der Vortragsabend fand in einer aufgeschlossenen Atmosphäre statt und das Publikum zeigte sich sehr interessiert. Wie erwartet, stellte die psychologische Betrachtungsweise einen neuen Aspekt dar und einige Teilnehmer*innen begannen sogar, über ihre eigenen Kindheitserinnerungen nachzudenken.