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Institut für Tiefenpsychologie
Gruppendynamik
und Gruppentherapie

Blog

Themen aus Tiefenpsychologie, Gruppentherapie und Kulturanalyse

Sommerschool Born 2024

von Babette Kozlik-Voigt
15.06.2024

© R.Timm

Zwischen Sonne und Regengüssen – Auf der Suche nach dem Lebensstil: 
Das diesjährige Wochenend-Seminar auf dem Darss: 

Obwohl der Sommer-Kurs an der Ostsee beim sechsten Mal Routine sein könnte, ist dieses Unternehmen für uns Initiatoren doch jedesmal wieder eine Anstrengung. Eine uns liebe Anstrengung, in der Hoffnung, dieses Wagnis möge allen Beteiligten zu mehr Verbundenheit verhelfen. Thematisch geht es jedes Jahr um das Gleiche, jedoch sind die Inhalte dazu stets andere. Das Kernproblem an den Arbeitswochenenden heißt „Lebensstil“. Wer in der Individualpsychologie sozialisiert wurde, weiß, dass dieser Begriff von Alfred Adler geprägt wurde. Danach stößt jedes Kind im Laufe seiner Entwicklung auf Hürden, die es zu überwinden gilt. In der Weise, wie es diese Schwierigkeiten spontan meistert, bildet es sein Wesen heraus, seine „individuelle Meinung von sich und der Welt“. Mit dieser subjektiven Einstellung geht jeder Mensch künftige Lebensaufgaben an. Darin wird der rote Faden erkennbar, das „fiktive Endziel“, nach welchem alle das Leben mehr reaktiv als bewusst auf die je eigene Weise gestalten. Je schwieriger die Aufgabe desto sichtbarer wird diese individuelle „Gangart“.

Das galt auch für das Seminarprojekt selbst: Sechzehn recht gegensätzliche Persönlichkeiten gingen über gut drei Tage gewissermaßen auf Klassenfahrt. Worin nun liegt der „Aufgabencharakter“ solch einer kleinen Ferienreise? Er gleicht einem Test auf unser „Gemeinschaftsgefühl“ – wieder ein Begriff aus Adlers Lehre. Konkret: Verfüge ich über die Befähigung, gemeinsam in einer bunt zusammengewürfelten Gruppe – Menschen unterschiedlichsten Alters und Charakters – den durch die Umstände bedingten Zwang zur Kooperation und Geselligkeit zu bewältigen? Manche unserer Empfindlichkeiten werden unangenehm sichtbar; es zeigt sich, aus welchem Holze wir geschnitzt sind. 

Da es uns aber nicht primär um gruppendynamische Erlebnisse gehen sollte, sondern um ein gutes Zusammenwirken, hatten wir neben Plaudern, gutem Essen, Erkunden der Ostsee, dem Auftaktspiel der Fußball-EM sowie dem nächtlichem Am-Feuer-Sitzen einen gemeinsamen Arbeits-Gegenstand gewählt. Da zu unserer illustren Runde ein ehemaliger Physiklehrer zählte, der auch seinen Beitrag leisten wollte, musste Marie Curie auf die Couch. Begeistert von den bahnbrechenden Leistungen und dem Leben Marie Curies, hielt er uns einen Vortrag über ihre Vita. Konnte man an der Lebensbewegung dieser Frau, die sich so eigentümlich schwierige Aufgaben gesucht hatte, eine „Lebenslinie“ entdecken? Was mochte das „fiktive Endziel“ dieser überaus gebildeten Persönlickeit sein, der im 19. Jhdt. ein Studium  in ihrem Heimatland Polen verwehrt ist, und die es schließlich schafft, an der Sorbonne in Paris zu studieren, um dann auch noch als erste Frau gleich zweimal den Nobelpreis zu erhalten?

Wir ergänzten die berechtigte Bewunderung für diese Wissenschaftlerin durch Fragen zu ihrer Persönlichkeit, Gedanken zu familiärer und gesellschaftlicher Situation und stellten Überlegungen an, wie sie diese enorme Zielstrebigkeit erlangt haben mochte. Da wir uns auch mit einem Text über die „Theorie des Als-Ob“ des Philosophen Hans Vaihinger (1852-1933) befasst hatten, lag es nahe, von hier aus den Bogen zum Lebensweg und den Idealen von Marie Curie zu schlagen. Damit stand die These im Raum, die nicht schlecht dazu passen wollte, dass diese kluge und außergewöhnliche Forscherin sich aus Sicht ihrer Zeitgenossen so verhielt, als ob sie ein ‚richtiger‘ Mann wäre. 

Alfred Adler war vom 1911 veröffentlichten Werk Vaihingers beeindruckt. Dessen Ansatz half ihm die menschliche Seelendynamik fiktional und final zu verstehen. Vaihingers Theorie sagt sinngemäß, dass die menschliche Erkenntnis nicht nur ein Abbilden der Gegenstandswelt ist, sondern von uns auch geistig produziert wird, um Orientierung und Ordnung im Leben zu finden. Selbst falsche Annahmen als nützliche Ideengebilde helfen uns mit der Wirklichkeit umzugehen. Wir reagieren auf Anforderungen in einem Schema des Als-ob, also so, als ob wir schon einmal nach diesem uns vertrauten – „unbewussten“ – Muster durchgekommen seien. In Vaihingers Denkweise ist Wahrheit dann so etwas wie die zweckmäßigste Form des Irrtums. Doch Curies Entdeckungen beweisen nicht nur, dass eine Frau so etwas kann, sondern ergänzten auch faktisch das immer noch gültige „Periodensystem der Elemente“.

Auf unsere Situation in Born übertragen: Wir alle hatten uns hier an einem wunderschönen Urlaubs-Fleckchen in eine Konstellation begeben, die mit dem einhergehenden Zwang zur Nähe manches Risiko barg. Die liebenswürdigen Kommentare am Ende der Veranstaltung bekundeten, dass wir alle dazugelernt hatten. Gemeinsam hatten wir einander Rede und Antwort gestanden, aber auch zum leiblichen Wohle beigetragen. Anders als bei Klassenfahrten üblich, musste kein Lehrer für Ordnung sorgen. Wir trennten uns schließlich mit dem Gefühl, dass wir die uns gestellte Aufgabe alle gut bewältigt hatten. Und sogar das wechselhafte Wetter behandelte unsere Sache so, als ob die Sonne immer gewusst hätte, es sei an der Zeit mitzuspielen.

Sommerfest 2024

von Mareen Kötschau
08.06.2024

© Timm/Kötschau

Das diesjährige Sommerfest in der Eiche begann wie gewohnt mit einer Sitzung der Großgruppe, in der das Gemeinschaftsgefühl Adlers aus persönlicher, anthropologischer und philosophischer Sicht reflektiert wurde. Der common sense oder das Zugehörigkeitsgefühl einer Gemeinschaft gegenüber oder hinsichtlich eines gemeinsamen Ziels wird bereits früh in der Familie eingeübt und entwickelt. Es ist ein seelisches Empfinden.

Nach Hegel ist das Seelische die Bewegung, die aus bloßer Leiblichkeit Bewusstsein entstehen lässt. Die fühlende Seele kann sich bereits selbst zum Gegenstand nehmen und sich somit zum anderen in Beziehung setzen.

Doch es kann in einer Gemeinschaft nicht nur um das Bewusstsein und das Gefühl gehen. Das Gemeinschaftsgefühl weist auf die wesentliche Frage: Und nun, was tun? Die Handlung zählt. Die Handlung schafft Identität. Die Handlung schafft Freiheit. Zumindest wenn man den Existentialisten Beauvoir und Sartre folgt. Nur in der Handlung kann Freiheit erlebt werden.

So wurden einige der Handelnden gewürdigt. In diesem Jahr waren es keine ehemaligen Prüflinge, sondern Marion, die gute Seele des Büros, die im Herbst ihren Abschied nimmt. Sie war stetige Ansprechpartnerin für die PiAs in der Ambulanz und überhaupt bei vielen Fragen der Organisation.

Wir begrüßten außerdem jene, die zum Handeln bereitstehen, neue Mitglieder der Gemeinschaft, z.B. die Nachfolgerin von Marion sowie einen Techniker, der uns bei der Digitalisierung des Instituts unterstützen wird und einige andere. Und da die Welt mehr Grün vertragen kann, wurde ordentlich Grünzeug verteilt. Der Techniker erhielt eine Digitalis, die in Ruhestand Gehende künftige Kleingärtnerin eine Rose, der Financier einen Goldtaler, auch Dukatenblume genannt, unsere neue Büroangestellte ein „Vorschusslorbeergewächs“ und die fleißigen Gärtner*innen, die die Lücke der im letzten Jahr verstorbenen Buche wieder füllten je nach Gangart verschiedenartige Samen. Das Hegelsche Ich kann nicht anders, als sich in Beziehung zu setzen.

Doch weil der Leib nicht nur bloße Äußerlichkeit sein kann, egal wie entwickelt der Geist ist, sondern sehr konkret und fühlbar, gab es ein köstliches Buffet. Auch dies entstanden durch viele helfende Hände. So saßen wir bei Speis und Trank beisammen und in der warmen Atmosphäre sommerlich-leichter Jazzklänge lauschten wir der von der Gitarre getragenen Sängerin, die Geschichten über Liebe und Sehnsucht vortrug. Wir plauderten, neue PiAs lernten einander kennen, andere begegneten sich wieder, und das Gemeinschaftsgefühl wurde neu belebt.

 

 

 

 

Modigliani - Moderne Blicke
Museum Barberini - Potsdam

von John Burns 15.06.2024

Heute habe ich die Ausstellung Modigliani. Moderne Blicke im Museum Barberini besucht. Auf der Friedensinsel nicht weit vom Museum entfernt fand ein Schwimmwettbewerb statt, der von der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) organisiert wurde. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sollten einmal um die Insel schwimmen. Da ich zurzeit die Cartesianischen Meditationen des Philosophen Edmund Husserl lese, überlegte ich kurz wie solche Veranstaltungen auf mich wirken.

Husserl beschäftigte sich 1931 in seiner in französischer Sprache erschienenen Schrift mit der Frage der inneren Beschaffenheit des Ichs. Wie Sigmund Freud das Seelenleben ausgesprochen detailliert beschreiben konnte, kannte der Gründer der Phänomenologie das menschliche Bewusstsein in allen seinen Erkenntnisleistungen und Wahrnehmungen ganz genau.

Husserl ist wegen seiner eigenwilligen Begrifflichkeit schwer zu lesen. Der Philosoph wollte keine Erkenntnisse als evident hinnehmen, die er nicht selber geprüft habe. Wir sollten alles neu „sehen“.

Wie ich in der Psychotherapie einen Menschen verstehe, hängt von meiner Bereitschaft ab, alles von mir abzustreifen, was die Wahrnehmung meines Gegenübers stören würde. In einer Therapiestunde sind wir entspannt aber konzentriert, mit hilfreichen Theorien ausgestattet, aber wir halten zunächst unsere Einschätzung des Anderen  in der Schwebe. Ich weiß zu Beginn einer Therapie nicht, wer der Andere ist.

Das Sehen schulen wir unter anderem durch den Besuch einer Kunstausstellung. Während ich die Schwimmer und Lebensretter auf der Friedensinsel nicht wirklich kennen lerne, weil ich sie nur in ihren Rollen bewundere, bin ich beim Besuch einer Ausstellung ganz bei mir und bei den Bildern, die ich betrachte.  Ich kann nicht einfach die Kunstwerke kursorisch zur Kenntnis nehmen; ich muss sie aufmerksam anschauen. Offen und ohne Voreinnahmen betrete ich die Museumsräume und hoffe, dass die Gemälde  in mir eine emotionale Resonanz hervorrufen werden.

Husserl beschreibt das Vermögen des Menschen, sich und die Welt freimütig und vorurteilslos zu betrachten als Epoché. Wir beschränken uns hierbei auf das Nötigste, wenn wir etwas verstehen wollen. Wir rahmen den Gegenstand ein, den wir wahrnehmen und sehen möglicherweise das Wesen des Phänomens. So rahmt der Künstler sein fertiges Bild ein.

In der Ausstellung lese ich gern die Beschreibungen der Bilder, obwohl die zusätzliche Information zum Leben und Werk des Künstlers nur wenig zum Verständnis eines Werkes beiträgt. Der Sinn eines Bildes ist im Werke schon angedeutet und wird von uns bei ruhiger Betrachtung erschaut.

Ich begehre die Frauen nicht, die Modigliani gekleidet oder nackt darstellt, sondern staune eher über das Wechselspiel zwischen Leben und Kunst, das den Maler fasziniert hat. Freiheit in der Erscheinung, interesseloses Wohlgefallen (Kant), Staunen über die Schönheit des Leibes – ich schäme mich nicht, die dargestellten Frauenformen genau anzuschauen. 

Der Künstler sieht den Leib als Phänomen, wie sich Husserl in den Cartesianischen Meditationen für die Mannigfaltigkeit der Perspektiven begeistert, wenn er einen Würfel beschreibt. Die Frauenakte spiegeln die Lichtverhältnisse des Studios wieder; sie können erotisch wirken, sind aber auch Ausdruck des Leib-Seele-Geist-Verhältnisses der porträtierten Frau. Der Leib gehört ihnen, nicht dem Betrachter.  Selbstbewusst schauen die Akte in den Raum hinein. „Im Leibe wohnen“ empfahl einmal der Philosoph Friedrich Nietzsche.

Vor einem Bild blieb ich kurz stehen, wich aber zur Seite aus, als ich spürte, ich versperre anderen den Blick auf das Porträt. Eine Dame im mittleren Alter, die auf einer Bank saß, um das Bild auf sich wirken zu lassen, bedankte sich, dass ich auf sie Rücksicht genommen habe. So bekam das Bild in meinem Bewusstsein eine zusätzliche Bedeutung und ich kaufte eine Postkarte - Junge Frau in gelbem Kleid -im Ausstellungs-Shop.

Der Blick der jungen Frau im gelben Kleid ist etwas rätselhaft. Sie sitzt entspannt auf einem Stuhl; der rechte Arm liegt auf ihrem Schoß, der linke hängt gerade von der Schulter herunter. Ihr ovales Gesicht ist mit glattem schwarzem Haar umrahmt, der Hals im typischen Stil des Malers etwas gestreckt. Sie schaut nach links mit verschlossenem Mund, langweilt sich vielleicht, oder sieht die Absicht des Malers, sie in ihrem Wesen zu erfassen, als etwas müßig an. Ich versuche mich in das Porträt einzufühlen, indem ich mir ausmale, was die Frau eigentlich denkt, während sie den Maler skeptisch anschaut: „Ich sitze hier in meinem schönen Kleid, wenn du willst, habe eigentlich etwas Besseres vor. Das Porträt? Ob das mich zeigt, wie ich wirklich bin?“

Das letzte Husserlsche Thema in den Cartesianischen Meditationen  lautet der Andere. Wie ist der Andere in meinem Bewusstsein abgebildet? fragt der Philosoph. Modigliani begegnete seinen Sujets mit einem liebenden Blick. Er nahm sich die Zeit, andere Menschen genau anzuschauen, um das Einmalige an ihnen in Bildern festzuhalten.

Eine Ausstellung eröffnet immer einen neuen Horizont in meiner Erlebniswelt. So fuhr ich nachdenklich und vergnügt im überfüllten Regionalzug nach Berlin zurück. In Potsdam hatte ich viel gesehen und wurde von der DLRG  mit einer Bratwurst und einer Tasse Kaffee gut versorgt.

 

Ich ziehe es vor, es nicht zu tun

von Matthias Voigt
20.05.2024

© Reiter Kunstverlag, Ebmatingen/Schweiz

Mit dieser eindeutigen Ansage eröffnet Bartleby seinem Chef, dass ihm dessen Auftrag missfällt. Daran musste ich beim Fortbildungsgespräch am Samstag denken. Unser Thema drehte sich um die Funktion der Sprache in der Entwicklung des Kindes. Den oben zitierten Satz legt Herman Melville dem Angestellten eines amerikanischen Rechtsanwalts in den Mund. Dieser Bartleby ist offenbar ein Sonderling. Auf die ihm eigene höfliche Weise sorgt er dafür, dass sein Chef ihm zuletzt resigniert die eigenen Praxisräume überlässt. Die Geschichte endet schließlich tragisch.

Wie hängt nun Melvilles Erzählung mit unserer Fortbildungsveranstaltung und dem Thema Sprache zusammen? Eine Teilnehmerin, wohl um die 80, hatte von folgender Äußerung eines etwa 4jährigen Mädchens berichtet. „Ich bevorzuge es hier zubleiben“, sei ihre Antwort auf den Appell der Eltern gewesen, sich dem gemeinsamen Spaziergang anzuschließen. 

Für uns als Psychotherapeuten stand gerade das Problem im Raum, was Kinder daran hindert, ihre Wünsche und Intentionen adäquat in Worte zu fassen. In unserem Gespräch wurde dies tendenziell dadurch erklärt, dass Eltern bzw. erwachsene Beziehungspersonen nicht angemessen auf die Bedürfnisse der Kleinen eingingen. Pädagogisches Ungeschick oder Ungeduld der Erwachsenen schränke den kindlichen Spielraum ein und damit die Befähigung zu individuellem Ausdruck. Derartige Einschränkungen scheint die Vierjährige offenbar nicht erfahren zu haben. Wem sie ihr beeindruckend elaboriertes Sprachvermögen verdankt, wissen wir nicht. Wir Erwachsenen schmunzeln über solchen Kindermund, ahnen jedoch auch, dass dieses Mädchen unter Gleichaltrigen nicht unbedingt auf Gegenliebe stoßen wird. 

Im Grundlagentext unserer Debatte hieß es zur Funktionsweise der menschlichen Sprache: Sie eröffne dem Kind einen virtuellen Raum, der es erst ermögliche, dass es sich gewissermaßen aus seiner Umwelt herauslöse. Indem es allem einen Namen gibt, verwandeln sich die damit benannten Umweltausschnitte zu Gegenständen. Mit diesen pflegt es dann Umgang. Es bleibt nicht allein bei der Benennung. In der Form von Sätzen erschließt sich dem Kind, wie diese Gegenstände mit anderen zusammenhängen; es eröffnet sich also deren Bedeutung. Die symbolischen Sprachgefüge repräsentieren demnach die ent-sprechenden Sachzusammenhänge. Wir ahnen, welch weltbewegende Dynamik in der Befähigung zum Sprechen liegt. Man muss nicht mehr mühsam auf alles deuten.

Zugleich mit dieser Ent-deck-ung der Außenwelt erwächst uns eine Innenwelt, die nach Ausdruck und Versprachlichung des eigenen Erlebens verlangt. Was hiermit angedeutet werden soll, ist die spezifische, nur dem Menschen eigene Weise, sich zielstrebig in seiner Welt zu orientieren. Wo das Tier durch Instinkte geleitet wird, muss unsereiner entscheiden, wohin die Reise gehen soll. Wonach entscheidet jedoch ein Mensch, ob er mitwandern will oder bevorzugt, es lieber nicht zu tun? Was entscheidet darüber, ob er Mitarbeiter wird oder die anderen in Dienst stellt? 

In der Psychotherapie versuchen wir, die Bartlebys unserer Tage zu verlocken, das Mitmachen vorzuziehen. Kooperation verlangt, dass wir uns mit anderen aufmachen, gemeinsam die Dinge ergreifen, um nachzuholen, was wir noch nicht konnten; denn das Menschenleben ist nur manchmal ein Spaziergang.

 

Der Menschenfeind oder der verliebte Melancholiker

Von Roswitha Neiss
01.05.2024

© Kozlik-Voigt

Am 30. April (2024) waren wir im Theater: Das Wir bestand aus einer ansehnlichen Schar von Psychotherapeuten (!), die im Deutschen Theater zusammentrafen, um sich Molières Menschenfeind anzusehen.

Für mich war dies zunächst ein überraschendes Ereignis, dem ich freudig zugestimmt hatte und das sich sogleich zu einer mehrschichtigen Unternehmung entfaltete: Es entführte mich schon bei der Hinfahrt mit der S-Bahn sehr anschaulich in die drei Dimensionen der Zeit, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Das Deutsche Theater ist mir sehr vertraut aus der Zeit nach 1989, als „die Mauer gefallen war“. Wie gern fuhren wir damals mit der S-Bahn „hinüber“, gingen Unter den Linden spazieren und erfreuten uns an den DDR-Theatern, die gediegen unsere Kulturgeschichte pflegten.

Nun fuhr ich endlich wieder diese Strecke. Aber was für ein Unterschied! Mir, die ich die letzten 20 in fast klösterlicher Abgeschiedenheit gelebt hatte, wurde das Schicksal der DDR drastisch vor Augen geführt: Aus dem schmerzlich-tragischen Opfer von Faschismus und Kommunismus war ein sauberer, geometrisch anmutender Gegenstand des Kapitals geworden.

Wir stiegen Friedrich-Straße aus, liefen über die wie damals steinern eingefasste Spree zum Theater in der Schumannstraße. Der Abend war warm. Sogar der ehemalige Reichsbahn-Bunker an der Albrechtstraße 24-25 sieht nun manierlich aus; er gilt als „Baudenkmal“ und hat eine Dachterrasse mit Räumen, in denen Kunstausstellungen stattfinden. Deswegen nennt man ihn „Kunstbunker“. Er wurde vermutlich 1943 fertiggestellt. Damals war ich drei Jahre alt, und es war mehr als ungewiss, ob ich die folgenden Jahre überleben würde.

Die Aufführung war eindrücklich und bot sich mir dar als ein Lehrstück zum Thema Gesellschaftsanalyse bzw. Charakter und Liebesleid. Und Molière? Er kam mir vor wie einer von heute. Die Schauspieler brachten ihn mir nahe: gleich am nächsten Tag habe ich sein Stück gelesen.

Der Menschenfeind ist autobiographisch und zeigt uns Molière als großen Dichter und kenntnisreichen Tiefenpsychologen. Zwei Paare werden geschildert: Alceste und Célimène sowie Philinte und Eliante. Letztere haben die Lektion des Lebens irgendwie gelernt; umsichtig und maßvoll geworden, können sie zueinander finden, werden eine Familie gründen und Kinder in die Welt setzen. Sie werden vor allem dem anderen Paar bei dessen unerbittlich-heftigen Konflikten zur Seite stehen.

Alceste ist der Idealist und Kritiker und erhebt für sich den Anspruch, ohne Heuchelei zu leben. Er bleibt unabhängig gegenüber dem königlichen Hof, ist zu Kompromissen mit der Wahrhaftigkeit nicht zu bewegen. Célimène lebt den Gegenpart in kluger Ebenbürtigkeit.

Freud und Molière sind sich einig: Die eigentlichen Mächte des Lebens sind Eros und Thanatos. Eros verbindet und braucht den kraftspendenden Gegensatz. Wo Eros fehlt, wirkt Thanatos, eine Gottheit von gleichsam passiv arbeitender Auflösung: Er ist durch und durch untätig und überlässt seine Arbeit den Mikroben, deren unendlich ausgedehntes Reich bis in die Anfänge des Lebens vor 3,8 Milliarden Jahren zurückreicht.

In Alceste schuf uns Molière den großen unbedingten Menschen, der zwischen Wert und Unwert zu unterscheiden weiß. Seine Empörung ist uns kostbar, in ihr finden „wir alle“ den notwendigen Spiegel. Und wie unausweichlich Célimène zu ihm passt und ihn liebt, sagt sie uns mit ihrem Ausruf „Ich will es, will es, will es!“ und noch deutlicher „… die meiste Zeit aber ist er mir fürchterlich zuwider.“

Hugo von Hoffmannsthal sagt dazu: „Die Liebe ist nicht süßlich.“

Internationaler Psychiatriekongress in Marrakech
(Teil I)

Von Gerald Mackenthun
5. Mai 2024

© Gerald Mackenthun

Psychiatrie und Psychotherapie einerseits, arabische Kultur andererseits – das war die Mischung, die mich bewog, mich für den 20. Weltkongress der World Association for Dynamic Psychiatry (WADP) in Marrakech anzumelden. Zudem kenne ich einige Leute aus dem deutschen Zweig der WADP, sodass ich in Marokko nicht allein sein würde. Er fand vom 16. bis 20. April in der Medizinischen Fakultät statt. Vorher und hinterher hatte ich je zwei Tage Zeit eingeplant, um Land und Leute kennenzulernen.

Die Altstadt von Marrakesch, die Medina, ist sehr groß; man kann sie keineswegs an einem Tag durchgreifen. Außerdem befinden sich dort wichtige Baudenkmäler, die zu besichtigen Zeit braucht. Zusammen mit deutschen Freunden und Kollegen durch streifte ich das Gassengewehr an mehreren Tagen. In unzähligen Geschäften werden Gewürze, Teppiche, Kleidung, Kupferwaren, Lebensmittel und Schmuck angeboten. Feilschen ist dort erlaubt und wird erwartet. Störend waren die vielen Mofas, die sich zusammen mit den Menschen durch die schmalen Gassen quetschen. Es gibt viele preiswerte Restaurants; empfehlenswert sind jene, die sich im ersten Stock oder auf dem Dach der Häuser befinden, da man dort relativ ungestört vom Lärm der Gassen essen kann.

Besonders schön und beeindruckend sind die alten Paläste, aber auch beispielsweise der „Geheime Garten“, eine erst vor wenigen Jahren restaurierte und bepflanzte Oase in der Mitte der Altstadt. Überhaupt gibt es viele große Parks mit Palmen, in denen man spazieren gehen und sich ausruhen kann. Die Moscheen und auch der arabische Friedhof dürfen von Ungläubigen nicht betreten werden, ein noch nicht überwundenes Relikt religiösen Eiferertums. Ich besuchte eine Synagoge und den jüdischen Friedhof. Vor 100 Jahren lebten in Marokko über 200.000 Juden, die nach dem Sieg Israels über die arabischen Aggressoren 1948 das Land verließen. Heute sollen noch 2000 Juden in Marokko leben.

Da ich die vier Kongresstage nicht durchgehend anwesend war, konnte ich mehrere Ausflüge unternehmen. Eine führte zu dem von André Heller gestalteten Garten „Anima“ südlich der Stadt, ein anderer, ebenfalls Richtung Süden Richtung Atlas-Gebirge, in die Agafay-Wüste und in die Berge hinein. Auf der Tour ritt ich zum ersten Mal auf einem Kamel; es wird wohl auch das letzte Mal gewesen sein.

Auffallend ist der Kontrast zwischen dem alten und dem neuen Marrakesch. Außerhalb der Altstadt entstehen im Süden riesige „Gated Communitys“ und Hotelkomplexe mit hohen europäischen Preisen. In der Altstadt und in einigen anderen Vierteln jedoch herrscht der ursprüngliche niedrige Lebensstandard, wovon der Tourist profitiert. Man kann für zwei Euro ein gutes Frühstück und für zehn Euro ein schmackhaftes Mittagessen bekommen. Gewöhnungsbedürftig ist der Straßenverkehr und insbesondere das Taxiwesen. Wer sich in Berlin über ruppige Autofahrer aufregt, sollte einmal den Straßenverkehr in Marokko genießen.

Internationaler Psychiatriekongress in Marrakech
(Teil II)

Von Gerald Mackenthun
5. Mai 2024

© Gerald Mackenthun

Am Kongress nahmen etwa 300 Menschen aus 21 Ländern teil. Dass Teilnehmer aus Russland und Iran nicht erschienen, wurde mit „Visaproblemen“ begründet. Interessant waren die Hauptvorträge von Manfred Spitzer über die Chancen und Risiken der Künstlichen Intelligenz oder Joachim Bauer über den Verlust von Realitätserfahrung durch exzessiven Video-Konsum und der ständigen Verbindung mit einem Smartphone. Driss Moussaoui von der Marokkanischen Psychiatriegesellschaft sieht eine Zukunft in der Video-Beratung, um Patienten auf dem Lande zu erreichen. Juan Mezzich aus den USA ging von der WHO-Definition für psychische Gesundheit aus, um für Patienten eine „totale Gesundheit“ zu skizzieren – ein für mich eher abwegiger Gedanke. Lea Dohm forderte Psychologen und Psychiater auf, sich neben der Berufstätigkeit für den Umweltschutz und gegen die Klimaerwärmung zu engagieren. Ich selbst hielt einen kleinen Vortrag über „Zukünftige Trends in der klinischen Psychologie“. Darunter verstehe ich Therapiestunden per Video und digitale Gesundheitsdienste, den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Psychotherapie, die Behandlung von immer mehr Migranten aus fremden Kulturen, die Anwendung neurobiologischer Erkenntnisse in der Psychotherapie, das neue Problem des „Unbehagens mit dem biologischen Geschlecht“ und die Schwierigkeiten mit Patienten, die Verschwörungserzählungen anhängen. Ein völliger Reinfall war das teure, als festlich gedachte Abendessen, welches in einem rot ausgeleuchteten Nachtklub mit wilden Tänzerinnen stattfand. Man konnte sein eigenes Wort nicht verstehen.

Da ich nun selbst zu den aktuellen Trends in der Psychotherapie recherchiert hatte, bot mir der Kongress inhaltlich nicht sonderlich viel. Aber ich lernte – für mich erstmals – ein orientalisches Land kennen. Zusammen mit Freunden und Kollegen durchstreifte ich die Altstadt, machte mehrere Ausflüge in die Umgebung, und die gemeinsamen Mahlzeiten boten Gelegenheit zum Gespräch. Beeindruckt hat mich vor allem auch die Ornamentik dieser Kultur, die aus einem für mich sinnlosen islamischen Bilderverbot resultiert. Aber es entstehen daraus farbenfrohe und filigrane Arbeiten, die man bewundern kann.

 

Autobiografie und Vortragstexte von Dr. Gert Janssen erschienen

Von Gerald Mackenthun
28. April 2024

© VTA - Verlag für Tiefenpsychologie und Anthropologie

Wie wirkt sich eine Psychotherapie, die nicht nur Krankenbehandlung sein will, sondern auch die geistig-kulturelle Entwicklung des Analysanden fördern will, auf ein Leben aus? Das wird deutlich in der Autobiografie des von uns sehr geschätzten, langjährigen Gruppenmitglieds Gert Janssen, die Anfang April erschienen ist und auf deren Erscheinen im April hier aufmerksam gemacht werden soll. Die Autobiografie wird ergänzt von Aufsätzen und Vorträgen, in denen er das Thema Entwicklung der Persönlichkeit theoretisch aufarbeitet. Seine psychologisch-philosophische Schulung erhielt Janssen durch den Berliner Arzt und Psychologen Josef Rattner, Gründer des Instituts für Tiefenpsychologie, Gruppendynamik und Gruppentherapie (ITGG) Berlin.

Bei ihm findet sich die nicht alltägliche Kombination einer Tätigkeit als Volljurist mit einem Engagement in Psychologie und Psychotherapie. Das Thema „Entwicklung der Persönlichkeit“ ist das verbindende Element seines Lebens als auch seiner Aufsätze und Vorträge, die er in den vergangenen Jahren im Rahmen des ITGG gehalten hat. Sie dienen dem Verständnis der wertorientierten, geistig aktiven Persönlichkeit, der „Person“ im Sinne der Philosophie. Neben dem Bezug auf Alfred Adlers Individualpsychologie werden Schriften von bedeutenden Psychiatern wie Ludwig Binswanger, Eugen Minkowski und Daniel Stern referiert. Von aktuellem Interesse ist schließlich der Vortrag über Ernst Cassirers Buch „Vom Mythus des Staates“, in dem sich der Philosoph mit dem Versagen des Rechtsstaats im Nationalsozialismus auseinandersetzt. 

Gert Janssen "Rückblick auf mein Leben"
Mit Aufsätzen und Vorträgen ab 2001
VTA-Verlag Berlin, April 2024
gebunden, 148 S., 19,90 €
Erhältlich überall im Buchhandel oder unter
https://buchshop.bod.de/rueckblick-auf-mein-leben-gert-janssen-9783946130536

 

„Dienst am Geist“ - frei nach Siegfried Lenz

von Babette Kozlik-Voigt
16.4.2024

© Behrenz

Im Folgenden geht es um die geistige Verbindungslinie zwischen dem Schicksal der schlitzblättrigen Buche aus der Eichenallee 6 und dem schlitzohrigen Eugen Boll, seines Zeichens Dorfschullehrer im masurischen Suleyken.

Im letzten Herbst musste unsere wunderschöne Buche im stolzen Alter von etwa 150 Lebensjahren gefällt werden. Ihr Naturschutz-Status half ihr auch nicht mehr. Mit einem einsamen grünen Ästchen hatte sie bereits im Vorjahr ihren letzten Lebenstrieb bekundet. Und der Garten heute: ein trauriger Anblick zerstörter Ordnung. Der überbordende Frühling diesen Jahres gemahnte nun daran, neue Formen der Trauerarbeit zu leisten. Wir beschlossen eine gemeinsame Pflanz-Aktion: Felsenbirne, Kolkwitzie, Blutpflaume, Brautspiere, Goldregen, Duftjasmin, Deutzie und Flieder sollten in die Erde – kein wirklicher Ersatz, aber ein erstes Aufbegehren, bevor im Herbst ein Baum seinen Platz finden wird.

Am 13. April trafen wir uns im Garten nach der Samstags-Theorie über das Erstgespräch und anschließender Fortbildungs-Veranstaltung über Carl Spittelers früheste Erlebnisse. Die Sonne stand bereits hoch im Zenit, als wir in bester Stimmung mit Spaten, Schaufeln, Schubkarre, Gießkannen zur Tat schritten. Es gab genug Garten-Beflissene, die zur „Oralen Phase“ von Jungpflanzen Auskunft geben konnten. Also: Pflanzlöcher mindestens dreimal so groß wie der Ballen der Gehölze, dazu Kompost und vor allem viel Wasser. Die psychologisch geschulte Schar wusste sogar mit Spaten und Schaufel umzugehen, doch im Laufe des Nachmittags verlangte das Buddeln bei fast sommerlichen Temperaturen einiges an Körpereinsatz. Nur ein Busch war noch nicht versenkt, als es endlich Baguette, guten Käse, Wasser, Saft, Kaffee und sogar frisch gebackenen Apfelkuchen gab. 

Da saßen wir nun als eine kleine zufriedene Gruppe. Und in dieser Stimmung fielen uns die urkomischen Kurzgeschichten von Siegfried Lenz ein. Vierzig Jahre ist Eugen Boll schon Lehrer, vierzig Jahre steht er in Suleyken "im Dienst am Geist". Allerdings hält er von der Praxis mehr als von der Theorie und lässt seine Schüler ausschwärmen, um in der Natur fürs Leben zu lernen. Daselbst wird eines Frühlingsmorgens Eugen Boll samt gelehriger Kinderschar jenseits des Klassenzimmers überrascht: Eine Schulinspektion! Es kostet unseren Schulmeister einige Beredsamkeit, dem Besucher aus der fernen Stadt den Erkenntniswert der gerade ins Werk gesetzten Latrinen-Vertiefung einsichtig zu machen: „Sozusagen Dienst am Geist“ – das kann sogar einen Stadtschulrat überzeugen. Vielleicht wurde ja auch seine Einsicht durch den Gestank gefördert.

Die Sonne stand schon im Westen, als schließlich auch dem Sommerflieder der Standort zugeteilt war. So trennten wir uns im Gefühl, unseren Beitrag geleistet zu haben. Dankbar für die erlebte Gemeinschaft, beglückt, dass das Miteinander so leicht sein kann, ging jeder seines Weges. Der Garten war um ein gutes Stück mehr zu unserer Heimat auf Erden geworden. Vielleicht war auch dies „sozusagen Dienst am Geist“.

Siegfried Lenz, So zärtlich war Suleyken, dtv 2011

 

Was ist die Seele?

von John Burns
15.04.2024

© Kozlik-Voigt

Als wir neulich über Carl Spitteler und seine Kindheitserinnerungen sprachen, wurde gefragt: Was ist die Seele? Die Antwort, die der Schweizer Nobelpreisträger in seinem Buch Meine frühesten Erlebnisse gab, lautete:

Folgendes muss ich denken: Inwendig im Menschen gibt es etwas, nenne man es Seele oder meinetwegen X, das von den Wandlungen des Leibes unabhängig ist, das sich nicht um den Zustand des Gehirns und um die Fassungskraft des Geistes kümmert, das nicht wächst und sich entwickelt, weil es von Anbeginn fertig da war, etwas, das schon im Säugling wohnt und sich zeitlebens gleich bleibt. Sogar sprechen kann das X, ob auch nur leise. Es sagt, wenn ich seinen fremdländischen Dialekt recht verstehe: „Wir kommen von weitem her.“

Seit der Mensch begonnen hat über „das Verhältnis, das sich zu sich verhält“ (Kierkegaard) nachzudenken, hat es unzählige Versuche gegeben, die Seele zu definieren. Emotionen und Wertungen scheinen den Kern der Seele auszumachen, die, wie Friedrich Nietzsche in Also sprach Zarathustra ausführt, etwas am Leibe ist. Während die positivistische Wissenschaft die Seele auf die Tätigkeit des Gehirns reduzieren möchte, und religiöse Denker von einer Seele sprechen, die nicht am Leib gebunden ist, gehe ich davon aus, dass wir es immer mit einer Leib-Seele-Geist-Synthese zu tun haben. Während die Materie uns sehr kompakt erscheint, ist unsere Seele ein kostbares Geschenk der Evolution, das wir vor Angriffen und Übergriffen durch die oft etwas aggressiv gestimmte soziale Umwelt schützen müssen. Die Seele zeichnet sich, wie Spitteler wusste, durch ihren schöpferischen Geist und ihre sichere Wertempfindung aus. In einer vertrauensvollen Beziehung sprechen wir „aus der Seele“.  

Während meiner Schulkarriere fühlte ich mich von meiner Aufgabe, schwierige junge Menschen zu unterrichten, oft überfordert. Ich klagte in einer Therapiestunde über Schlafstörungen und körperliche Anspannung. „Wie viel ist Ihre Seele wert?“ fragte der Therapeut am Ende der Sitzung. Darauf wusste ich keine Antwort. „Und wieviel Salär bekommen Sie?“ lautete die nächste Frage.

Seit dieser Therapiestunde weiß ich, was gemeint ist, wenn wir von „Seele“ sprechen, auch wenn ich die Erkenntnis nicht in Worten fassen kann. Die Seele ist unser kostbarstes Gut, das wir schützen und pflegen sollen. Was die Seele uns auf „Fremdländisch“ und in „leiser Stimme“ sagt, können wir im Laufe des Lebens verstehen lernen.

Tartuffe von Molière oder Wissen Sie noch, was ein Alexandriner ist?

Über eine Aufführung im Berliner Renaissance-Theater
von Matthias Voigt
am 27.3.2024

RT TARTUFFE vl Stefan Jürgens, Emese Fay, © Foto Ann-Marie Schwanke-Siegersbusch

Es gibt wohl kaum ein Versmaß, das auf der Bühne für uns heute so unpassend klingt, wie eben der „Alexandriner“ des klassischen französischen Dramas. Molières Komödie aus dem Barockzeitalter des 17. Jhdts. mit der Hauptfigur des „Tartuffe“ bis zur Kammerzofe „Dorine“ brachte im Renaissance-Theater für die Zuschauer über knappe zwei Stunden keinen Moment des Überdrusses an der gestelzt daherkommenden Sprachakrobatik. In einer unterhaltsamen Inszenierung wurden uns die Mechanismen der Verführung vorgeführt: Was bringt das Familienoberhaupt Orgon dazu, dem scheinheiligen Hochstapler Tartuffe zu verfallen. In seiner Ich-Schwäche macht er in überzogener Bewunderung den selbsternannten Seelenführer zu seinem moralischen Leitstern um ihm schließlich sogar alles, was sein Eigen ist, zu überlassen. Nur bleibt in dem ungleichen Tausch der ersehnte innere Frieden aus.

Molières Alexandriner ließen uns also im Berliner Renaissance-Theater in der Figur des gerissenen Tartuffe und in dessen willigen, aber auch widerwilligen Opfern die ersten Vertreter der modernen Welt erblicken. Wir Zuschauer, das waren drei gestandene Psychotherapeuten und fünf Ausbildungskandidatinnen, waren begeistert von der Aufführung. Aber wir gingen auch mit gemischten Gefühlen nach Hause, unsicher, was dieses Bühnenstück bei den jungen Leuten ausgelöst haben mochte.

Das gemeinsame Nachgespräch einige Tage später nahm uns die Unruhe. Aus der Kandidatengruppe kam wie von selbst die Frage auf, was uns Menschen denn eigentlich so anfällig macht, dass wir uns magisch angezogen fühlen von rettenden Vaterfiguren, die dann als Demagogen ihr Spiel treiben. So wurde unser Gespräch zu einem unerwartet lebendigen und sehr persönlichen Gedankenaustausch. Diese zwischenmenschlich nahe Situation bewirkte für mich ein Gefühl der Dankbarkeit, wie ein Heimatgefühl in einer manchmal wackelnden Welt.

 

Malwida von Meysenbug - Wegbereiterin der Emanzipation im 19. Jahrhundert

Vortrag am 14. März 2024 in Kassel
von Regina Timm

Mit freundlicher Genehmigung von Freiherr Carl-Erdmann von Meysenbug

Die Malwida von Meysenbug-Gesellschaft in Kassel hatte mich eingeladen über meine Dissertation zu berichten. Für Malwida von Meysenbug, aufgewachsen zwischen Adel und Bürgertum, war ein angepasstes Leben im Kreise der Familie vorgesehen. Früh nahm sie das Leben um sich herum bewusst wahr, sowohl gesellschaftliche Zusammenhänge als auch die politische Situation. Sie solidarisierte sich mit den demokratischen Bewegungen des Vormärz und der Revolution von 1848. Dadurch geriet sie in Konflikt mit ihrer Familie, blieb aber entschieden und nahm sogar in Kauf, als politisch Verfolgte nach England emigrieren zu müssen.

Den Schwerpunkt für meinen Vortrag legte ich auf die psychologischen Aspekte meiner Arbeit. Ich hatte mir selbst die Frage gestellt, wie es der Person Meysenbug gelungen ist, sich zum einen aus den engen Familienstrukturen zu lösen und zum anderen, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen und zu dieser besonderen Individualität zu reifen. Welche spezifischen Entwicklungen und Charakterzüge haben sie geprägt und wie ist es ihr gelungen, den für Frauen zur damaligen Zeit vorbestimmten Weg zu verlassen und die eigene Selbstwerdung anzustreben. Mit Hilfe von Alfred Adlers Theorie wurden einige Kindheitserinnerungen von Meysenbug dargestellt und das Gemeinsame dieser Erinnerungen herausgearbeitet. Karen Horneys Typenmodell vom selbstverleugnenden, expansiven und distanzierten Typen stellte eine weitere Möglichkeit dar, Meysenbugs Persönlichkeit genauer zu verstehen und nachzuvollziehen, welche Zielrichtung ihr Leben hatte, ohne sie jedoch zu pathologisieren.

Der Vortragsabend fand in einer aufgeschlossenen Atmosphäre statt und das Publikum zeigte sich sehr interessiert. Wie erwartet, stellte die psychologische Betrachtungsweise einen neuen Aspekt dar und einige Teilnehmer*innen begannen sogar, über ihre eigenen Kindheitserinnerungen nachzudenken.