
| Autor*in: | Wilhelm Keller |
|---|---|
| Kommentar: | Matthias Voigt |
| Datum: | 27.10.2025 |
Willst du Dich des Lebens freuen, musst der Welt Du Wert verleihn.
(Goethe)
Der Begriff Selbstwertstreben geht auf den Psychologen und Philosophen Wilhelm Keller zurück, der 1963 ein Buch zu diesem Thema geschrieben hat.
Mit Selbstwertstreben bezeichnet er die fundamentale Motivation des Menschen, sein Selbstwertgefühl möglichst hoch zu halten und sich selbst zu entwickeln. Anders ausgedrückt: Wir wollen, was immer wir tun oder meiden, uns selbst als wertvoll betrachten können. Das entspricht dem Gedanken Alfred Adlers, der davon gesprochen hat, dass der Mensch in allen seinen Verhaltensweisen das Gefühl des Eigenwertes anstrebe.
Aber wie kann das gelingen? Welche Art der Selbststeigerung ist zur Erhöhung unserer Selbstachtung und unseres Selbstwertgefühls geeignet?
Im Begriff (Selbstwertstreben) ist indirekt der Gedanke enthalten, dass Selbstwertstreben und Wertverwirklichung eine untrennbare Einheit bilden. Denn ein eitles, um sich selbst kreisendes Streben würde steril bleiben und könnte unseren Selbstwert nicht nachhaltig stützen. Daher steuern tätige und beziehungsfähige Menschen nicht primär Eigenwert an, sondern sie wollen Wertvolles schaffen und auf diesem Wege auch für sich Zufriedenheit und Glück erlangen. Wir können die Verwirklichung von Werten nie direkt anstreben, sondern wir stehen vor Aufgaben, die wir lösen wollen, und in diesen steckt, wenn man so will, der Wert. Das entspricht im Grunde auch wieder den Gedanken Alfred Adlers, der von den Lebensaufgaben Arbeit, Liebe, Gemeinschaft und Kulturschaffen sprach, die wir im Verlauf unseres Lebens in Angriff nehmen und bewältigen sollten.
Beim Selbstwertstreben geht es damit auch um die Übernahme von Verantwortung für die eigene Lebensgestaltung und um die Suche und das Ansteuern von sinnvollen Zielen. Man könnte es gleichsetzen mit dem Streben nach hochwertigen Eigenschaften, einem höheren Person-Niveau und nach Fülle des Daseins, was Keller allerdings inhaltlich nicht näher präzisiert. Auch verweist es auf das Phänomen der menschlichen Willensfreiheit und des Wollens überhaupt, womit sich Keller bereits in seinem Buch Psychologie und Philosophie des Wollens beschäftigt hatte. Durch unsere Fähigkeit zum Selbstbezug und zur Selbstreflexion haben wir die Möglichkeit, uns zu unserem Leben, zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen einzustellen. Dies impliziert die Annahme eines gewissen Freiheitsspielraums, den es bei der Realisierung von Selbstwertstreben auszubauen gilt.
Keller streift mit dem Begriff auch die Frage nach der Beschaffenheit des nur dem Menschen möglichen Selbstseins, die er unter Einbeziehung von Erkenntnissen der Existenzphilosophie Søren Kierkegaards und mit Hinweisen auf die Lebensphilosophie Friedrich Nietzsches abhandelt. Auch der von dem Phänomenologen Alexander Pfänder verwendete Begriff Selbstauszeugung der Person hat enge Verwandtschaft mit dem Phänomen Selbstwertstreben. Er grenzt sich ab von der partiell naturalistisch-mechanistischen Denkweise und dem Determinismus der Psychoanalyse und entwickelt seine Phänomenologie des Selbstwertstrebens auf dem Boden einer philosophischen Anthropologie unter Einbeziehung der Theorien Husserls, Heideggers, Aristoteles´ und Schultz-Henckes.
Um das Phänomen Selbstwertstreben entwicklungspsychologisch zu fundieren, knüpft Keller an die Antriebslehre von Harald Schultz-Hencke an, der von verschiedenen Grundantrieben ausging, die von frühester Kindheit an die Entwicklung eines Menschen anstoßen und herausfordern. Ob wir uns relativ gesund entwickeln und reifen können, hängt davon ab, ob wir die notwendigen phasenspezifischen Entwicklungsschritte möglichst ohne massiveres Hemmungsgeschehen absolvieren können.
Keller fügt den elementaren Schultz-Hencke´schen Kategorien des Besitz-, Behauptungs- und Kontaktstrebens den Betätigungs- und Schaffensdrang hinzu und führt als weitere Grundstrebung das Selbstwertstreben ein, das sich gewissenmaßen quer zu den anderen Strebungen realisiert, diese übergreift und sie imprägniert. Es kommt erst in einem späteren Abschnitt der Kindheit zum Tragen. Solange massivere Hemmungen in verschiedenen Antriebssphären bestehen, kreisen wir hauptsächlich um die Bewältigung unseres gehemmten Antriebserlebens und um dessen Kompensation. Dies zieht immer auch eine Hemmung des Selbstwertstrebens nach sich. Erst ein einigermaßen gut gelöster, kultivierter Umgang mit unserer Antriebswelt ist Voraussetzung dafür, dass wir uns mit der Frage nach Sinn, Wert und Gestaltung des eigenen Lebens befassen und damit auch Selbstwertstreben realisieren können.
Keller beschreibt in seinem Buch verschiedene Formen gehemmten Selbstwertstrebens, wie etwa unermüdliche Tätigkeit („Managerkrankheit“, Arbeitssucht), ein Übermaß an selbstlosem Verhalten (Helfersyndrom), ständige Gereiztheit oder mystische und asketische Haltungen, die für unsere Menschenkenntnis und für die psychotherapeutische Praxis wertvoll sind.
Wichtige Fragen stellt Keller auch in Hinblick auf die Thematik des Selbstwertgefühls. So versteht er dieses nicht in erster Linie als Ergebnis von erlebten und verinnerlichten guten Beziehungen, quasi als geronnene Form, sondern er betont den aktiven Anteil, uns Selbstwertgefühl erobern zu können, indem wir uns auf zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten ausrichten und diese in unser Leben einzuarbeiten versuchen. Seine Gedanken lassen damit die Thematik der Eigenverantwortlichkeit anklingen, mit der das Selbstwerterleben durch produktive Lebensgestaltung und Selbstentwicklung zum Wachsen gebracht werden kann.[1] Dies geht immer auch mit Unsicherheitsgefühlen einher; denn wir stehen hierbei vor Anforderungen und Aufgaben, denen wir uns oft noch nicht gewachsen fühlen. Aber nicht ein vorübergehendes, vordergründiges Abflauen des Selbstwertgefühls, sondern die Hemmung unseres Selbstwertstrebens macht uns für Unzufriedenheit, dauerhafte Minderwertigkeitsgefühle und neurotische Beeinträchtigungen anfällig. Wir kräftigen dagegen unser Selbstwertgefühl, wenn wir in unserem Bemühen um Selbsthaftigkeit nicht nachlassen. Geben wir diese Bemühung auf, bezahlen wir dies oft mit einem Selbstzerwürfnis, mit Leiden und Verzweiflung.
Josef Rattner knüpft im Rahmen seiner Verstehenden Tiefenpsychologie an Kellers Selbstwertstreben an. Er erweitert den Begriff und greift besonders die Fragestellung nach dem Zusammenhang von Selbstwertstreben und Wertverwirklichung auf. Er konkretisiert die Realisierung des Selbstwertstrebens, indem er es an unsere Lebensaufgaben bindet, und macht den Begriff zu einem zentralen Aspekt seiner personalen Psychologie. Rattner bezeichnet das Selbstwertstreben als die Achse und das Rückgrat der Seele und als eine untergründig wirkende Steigerung der eigenen Person.
Zunächst entfalten wir unser Selbstwertstreben in der Auseinandersetzung mit den von Adler genannten objektiven Lebensaufgaben Liebe, Arbeit, Gemeinschaft und Kulturschaffen und schaffen damit die Grundlage für unsere Entwicklung und die Kräftigung unseres Selbstwertgefühls. In Ergänzung zu diesen objektiven Lebensaufgaben beschreibt Rattner vier subjektive Lebensaufgaben, die Möglichkeiten unseres inneren Wachstums aufzeigen und unsere Selbstentwicklung begleiten und unterstützen.
Die erste subjektive Lebensaufgabe bezieht sich auf unser Verhältnis zu unserem Körper. Wir sollten lernen, unseren Leib zu beseelen, in ihm zu wohnen und einen möglichen Riss zwischen Körper und Seele zu schließen.
Das Ich sitzt sozusagen verkrampft oberhalb des Leibes und sehnt sich danach, in ihn einzutauchen und in ihm unterzugehen. Davor aber steht die Barriere einer gewaltigen Untergangs- und Hingabeangst. Das stört im Dasein sowohl die Sexualität, das Walten der Gefühle, die Hingabe an Arbeit und Geselligkeit, an das Leibsein überhaupt und die menschliche Kreatürlichkeit.[2]
Überwinden können wir diese Zerrissenheit am ehesten durch Eros. Nur in der Nähe zum Du und Wir kann das Ich von seinem Leib Besitz ergreifen.
Die zweite subjektive Lebensaufgabe umfasst das Hineinwachsen in die Kultur und die Entfaltung von Geist. Rattner bezeichnet dies auch als unsere Seele „begeisten“. Geist ist ein Fakultativum am Menschen. Wir können ihn uns im Laufe unseres Lebens unter dem Einfluss der Eigentätigkeit, der Mitmenschlichkeit, der Gesellschaft und Kultur erobern. Durch die Entfaltung des Geistigen verlebendigen und erweitern wir unsere Seele. Der Ursprung der Entwicklung des Geistes, der intersubjektiv ist, liegt in der frühen Mutter-Kind Beziehung. Das Geistige muss durch jemanden erweckt werden, der bereits über etwas Geist verfügt.
Soll die Seele ‚begeistet‘ werden, dann muss das Menschenkind sorgsam in Sprache und Kultur eingeführt werden und unendlich viele Lernprozesse absolvieren, in denen ‚Lebendiges sich selbst und das Leben überhaupt versteht‘. (44)
Rattner bezieht sich in diesem Zusammenhang auch auf die Philosophie Nicolai Hartmanns, der in Das Problem des geistigen Seins (1932) mit Bezug auf Hegel beschrieben hat, wie sich der subjektive (personale) Geist in der Auseinandersetzung mit dem objektiven und objektivierten Geist entwickeln und schulen kann. Hegel nennt den Geist einen Wühler. Er wühlt nicht nur das Innere des Menschen auf und ermöglicht damit Lebendigkeit und Veränderung, sondern auch die menschlichen und kulturellen Verhältnisse, die immer veränderlich sein müssen.
Als dritte subjektive Lebensaufgabe nennt er Das Ich zum größtmöglichen Wir erweitern. Dies beinhaltet, eine möglichst glückliche Synthese von Ich-Selbst-Sein und Einfügung in die Gemeinschaft zu finden. Dabei sollten wir über konkrete Gemeinschaftsbildungen hinaus auch auf ein >ideales< Wir hinstreben, welches in Kunst, Wissenschaft, Politik und Philosophie zum Teil gegeben ist. Das bedeutet, sich Weltoffenheit zu erobern, die mit einer >Ehrfurcht vor dem Leben< einhergeht. Wo diese Ehrfurcht lebendig ist, können wir gewiss sein, dass ein Mensch die Schranken seiner Individualität durchbrochen hat und sich für die ganze biologische und materielle Welt zu öffnen vermag. (46)
Alle seelischen Erkrankungen sind durch eine zugespitzte Ichhaftigkeit gekennzeichnet und die Gemeinschaft bedeutet dann lediglich Schutzraum oder Ausnutzungsobjekt für den Einzelnen. Wir sollten hingegen lernen, uns für unsere Mitmenschen und die Mitwelt verantwortlich zu fühlen und konstruktive Wege zur Beitragsleistung zu finden.
Die vierte subjektive Lebensaufgabe ist schließlich das Selbstwertstreben, das parallel zu den anderen Lebensaufgaben wirksam ist. Es ist für unsere Entwicklung fast noch wichtiger als Triebe oder Antriebe. Denn es wirkt als eine treibende Kraft, als eine Art Motor, der uns auf unserer Entwicklungsbahn vorantreibt und uns motiviert, die objektiven und subjektiven Lebensaufgaben anzugehen. Stimuliert wird unser Selbstwertstreben durch Wertsichtigkeit und Wertrealisation. Wenn wir sie wenig entwickeln können, kann unser Streben nach Selbstwert steril, narzisstisch und selbstbezogen bleiben. Erst die Ausrichtung auf die Gemeinschaft („Gemeinschaftsgefühl“) und auf hohe und höchste Werte gibt dem Selbstwertstreben eine ethische Orientierung, die für einen konstruktiven Verlauf der Entwicklung notwendig ist. Rattner ergänzt seine Theorie des Selbstwertstrebens durch Gedanken aus den Wertphilosophien Nicolai Hartmanns und Max Schelers sowie durch die Kulturphilosophie Ernst Cassirers.
In Erziehung und Psychotherapie kommt es daher darauf an, Menschen auf soziale und kulturelle Aufgaben vorzubereiten und eine Haltung zu vermitteln, die befähigt, die untergründig wirkende Steigerung der eigenen Person im Auge zu behalten. Das können hauptsächlich Personen, die diese Haltung vorbildhaft verkörpern und selbst in Entwicklung sind.
Es ist schwer möglich, ein positives Selbstwertgefühl direkt anzustreben. Dieses wichtige Gefühl entsteht immer nur indirekt und zwar dann, wenn wir uns mit unserem ganzen Dasein für einen hohen Wert und ein wertvolles Ziel engagieren. Daher müssen alle, die sich hochwertig fühlen wollen, ihr Sensorium für Kultur- und Daseinswerte schulen, bis sie erstrebenswerte Ziele sehr deutlich vor sich sehen. Der erkannte Wert mobilisiert Kraft und Bereitschaft, ihn zu verwirklichen. Und erst im Lichte der Wertvermehrung der Welt empfinden wir uns selbst als Wertträger.
Wir sollten daher die Patienten in der Psychotherapie darauf aufmerksam machen, dass sie Selbstwertgefühl genauso benötigen wie Wasser und Brot, Schlaf und Betätigung; aber dieser Selbstwert ist nur zu finden in der Übernahme von >menschengemäßen Aufgaben<, und diese reichen von Beziehungsfragen (zwischenmenschlich) bis zur unendlichen Aufgabe der Menschheit, einen geistigen >Weltinnenraum< zu konstituieren, in dem alles Seiende via Sprache und Kultur ins Humane eingehen kann. >Der Mensch ist Hirt und Hüter des Seins<. (M. Heidegger)[3]
Mit Rattners Anbindung des Selbstwertstrebens an unsere Lebensaufgaben, an die Kultur und Ethik wird es Bestandteil eines umfassenden Bildungsbegriffs, der in seiner personalen Psychologie eine zentrale Rolle spielt. Rattners Gesundheitsideal ist die Person, die offen ist und werdend.
Quellen/ Literatur:
Kaminski, K.: Selbstwertstreben und Selbstwertgefühl. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1914
Keller, W.: Das Selbstwertstreben. Reinhardt, München1963
Rattner, J.: Kritisches Wörterbuch der Tiefenpsychologie für Anfänger und Fortgeschrittene. Quintessenz, Berlin, München 1994
Rattner, J./Danzer, G.: Meisterwerke der Tiefenpsychologie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1998
Rattner, J.: Vier subjektive Lebensaufgaben. In: Psychotherapeutica und Psychohygienica. Miteinander lebenlernen. Verlag für Tiefenpsychologie, Persönlichkeitsbildung und Kulturforschung. 1/1997. Verlag für Tiefenpsychologie, Berlin 1997
Rattner, J.: Über die hauptsächliche Motivation des Menschen. In: Thesen und Texte. Miteinander lebenlernen. Verlag für Tiefenpsychologie, Persönlichkeitsbildung und Kulturforschung. 6/2005. Berlin 2006
[1] Die Begriffe Selbstwertstreben und Selbstentwicklung überschneiden sich in mancher Hinsicht; Selbstwertstreben bezeichnet allerdings eher die Antriebsseite des Geschehens der Selbstentwicklung, während dieses stärker den Prozess der Entwicklung selbst meint.
[2] Rattner, J.: Vier subjektive Lebensaufgaben. In: Psychotherapeutica und Psychohygienica. Miteinander lebenlernen. Verlag für Tiefenpsychologie, Persönlichkeitsbildung und Kulturforschung. 1/1997. Verlag für Tiefenpsychologie, Berlin 1997, S. 41
[3] Rattner, J.: Kritisches Wörterbuch der Tiefenpsychologie für Anfänger und Fortgeschrittene. Quintessenz, Berlin, München 1994, S. 267