Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man für seinen eigenen Vorteil oder im Interesse des Du verstehen will; die meisten Menschen kennen nur das erstere. Es ist fast eine "kopernikanische Wendung", zum letzteren überzugehen.
Die eigene Lebensproblematik des Verstehenden kann im Verstehensprozeß nicht exkommuniziert werden. Wir gehen selber in die Diagnostik als "schwieriger Mensch" hinein; wir haben "blinde Flecke" in unserer Optik, und das beeinträchtigt das Verstehen. Gleichwohl sollen wir unser Bestes geben. Wir nähern uns einem "ruhigen, objektiv blickenden Weltauge" an; aber wir erreichen diesen Status nicht. Verstehen ist daher immer mit Mißverstehen verbunden. Wir sollen unsere Resultate mit Skepsis betrachten. In einem langdauernden Vorgang können wir allfällige Irrtümer korrigieren. Verstehen braucht Zeit!
Allerdings geben wir zu, daß eine gewisse "Unschärferelation" besteht (wie in der Physik). Die Beobachtung verändert das Beobachtete. So können zwei verschiedene Therapeuten am selben Patienten sehr verschiedenartige Befunde erheben. Es kommt eben darauf an, wer beobachtet und registriert. Der Patient gibt sich nicht nur anders bei mehreren Therapeuten; er ist auch anders. Damit muß man leben und arbeiten. Wir haben oben schon darauf hingewiesen, daß gute Qualifikationen des Verstehenden sein Gegenüber zu mehr innerer Freiheit und Lebensfülle animieren.
Das Verstehen erinnert an einen Meßvorgang; es soll bewertet und beurteilt werden. Derlei braucht ein Koordinatensystem ähnlich wie man beim Messen und Wägen ein Maß oder ein Gewicht benötigt. Diese Kriterien hat der Tiefenpsychologe in bestimmten Aspekten seiner Theorie.
Die tiefenpsychologischen Konzepte haben nicht die Schärfe naturwissenschaftlicher Begriffe. Wir arbeiten mit flexiblen Systemen; unser Gefühl wird eingesetzt, um derartige Befunde zu erheben und auszuwerten. Psychologie ist eben für uns keine harte, sondern eine "weiche Wissenschaft" wie die Geisteswissenschaften überhaupt.
Spinoza sagt: "Das Wahre ist der Index seiner selbst und des Falschen!" Das bedeutet: Wer die Wahrheit kennt, begreift auch den Irrtum als solchen; wer aber im Irrtum drinsteckt, begreift weder den Irrtum noch das Wahre. Auf das Verstehen des Patienten angewendet: Der Therapeut muß eine umfänglichere Persönlichkeit als sein Gegenüber sein; er muß mehr Common sense als der Patient haben, mehr Tugenden, Lebenskenntnis, Selbstverständnis usw.
Die überlieferte Ethik gibt uns das Koordinatensystem, in welches wir die Patientenbefunde einordnen können. Natürlich muß diese Ethik nicht rigoros, sondern flexibel gehandhabt werden. Wir wollen unsere Patienten nicht verurteilen, müssen sie aber beurteilen; wir wollen nicht Richter sein, aber wir müssen klar und unbeschönigt sehen, was fehlt und was vorliegt.
Hermeneutik: Das ursprüngliche Anwendungsgebiet der Hermeneutik war die Textauslegung. Bei heiligen und profanen Schriften kam es darauf an, den Sinn und die Bedeutung des Textes genau zu erfassen. Im Verlaufe der Jahrhunderte entwickelten sich Regeln der Auslegekunst, die als "hermeneutischer Kanon" zusammengefaßt wurden. Die Hermeneutik beanspruchte bei sachgemäßer Anwendung, daß der Interpret den Autor besser verstehen könne, als er sich selbst verstand. Ähnlich behauptet der Psychoanalytiker, daß er durch geschickte Deutung den Patienten über sich selbst so aufklären könne, wie dieser es allein niemals vollbringen würde.
Zu den Regeln der Hermeneutik gehört ganz speziell die Befolgung des "hermeneutischen Zirkels". Der Interpret kreist häufig vom Teil zum Ganzen und vom Ganzen zu den Teilen. So begreift man eine Novelle von Goethe nur, wenn man das Gesamtwerk zu Rate zieht; das Gesamtwerk jedoch wird nur transparent, wenn man alle einzelnen Schriften sorgfältig liest und deutet.
Ein anderer Zirkel findet statt zwischen dem Deuter und seinem Deutungsobjekt. Um einen Menschen zu verstehen, müssen wir in uns selbst hineinblicken: Wir beurteilen seine Eigenschaften immer auch im Hinblick auf unsere eigenen Wesenseigentümlichkeiten. Andererseits wird uns vieles über uns selbst klar, wenn wir uns einem Du mit Erkenntnisbemühung zuwenden. Hermeneutische Interpretationskunst in der Psychotherapie bedeutet, daß der Analytiker an seinem Analysanden wachsen und reifen muß, wenn er sich in diesen wirklich einfühlen will. Am Ende einer Therapie müssen beide Protagonisten viel voneinander und aneinander gelernt haben.
Leider ist die Hermeneutik keine technische Disziplin, die jedermann ohne weiteres lernen kann. Wie alle Künste wird sie mit dem Einsatz der ganzen Persönlichkeit ausgeübt. Daher haben die Klassiker der Hermeneutik von Schleiermacher bis Dilthey, von Husserl bis Heidegger und Gadamer immer wieder betont, daß zu den Eigenschaften eines guten Interpreten u.a. Liberalität, Reichtum und Weite der Persönlichkeit, geschulte Sensibilität und umfassende Welterfahrung gehören. Begegnet man einem Menschen im Hinblick auf eine Verstehensarbeit, dann ist man gewissermaßen schon im Zirkel einer emotionalen und kulturellen Verbundenheit drin. Nur durch radikales Durchlaufen der bereits angebahnten Zirkelsituation mit wacher Intelligenz kann man nach und nach Aufklärung über sich selbst und das Du gewinnen.