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Verstehende Tiefenpsychologie
ITGG Berlin - Verstehende Tiefenpsychologie
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Verstehende Tiefenpsychologie
und Kulturanalyse

Was ist Verstehende
Tiefenpsychologie?

Verstehende Tiefenpsychologie und Kulturanalyse – so lautet der Doppelname, unter dem Josef Rattner seine Ansichten und Lehre im Hinblick auf die anderen Schulen des psychoanalytischen und tiefenpsychologischen Denkens und Handelns ergänzt.
Vor über 50 Jahren wurde in Berlin der Arbeitskreis für Tiefenpsychologie ins Leben gerufen. Dieser besteht heute weiter als Aus- und Weiterbildungsinstitut für psychologische und ärztliche Psychotherapeuten sowie als Akademie für Verstehende Tiefenpsychologie und Kulturanalyse, die auf der Josef Rattner Stiftung basiert.

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Das Verstehen

Verstehen ist eine Erkenntnisleistung. Sie erfordert viele Haltungen, Einstellungen und Fertigkeiten, die dem Menschen nicht von Natur gegeben sind; er muß sie erlernen. Daher ist es von großem Nutzen, wenn der Verstehende ein wissenschaftliches Training absolviert hat. Es soll geübt haben: Wie man Fakten sammelt, wie man diese vergleicht und ordnet, wie man sein Urteil lange in der Schwebe hält, wie man vorsichtig Hypothesen bildet und diese verifiziert oder falsifiziert, wie man induktiv, deduktiv und intuitiv vorgeht, wie man exakt im Detail arbeitet und doch große Zusammenhänge überblickt.

Verstehen ist daher auch ein kunstvoller Prozess. Dieser wird mit dem Einsatz der ganzen Persönlichkeit vollbracht. Das Gemüt spielt hierbei eine ebenso große Rolle wie der Verstand. Kunst ist schöpferisch. Also sollen nicht nur Fakten registriert werden; man soll aus Fakten das Bild einer Person aufbauen. Kühne Gedankenbewegungen sind hierbei unentbehrlich. Und doch muss dabei rationale Kritik obwalten, damit man nicht phantastische Erwägungen für Wahrheit hält. 

Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man für seinen eigenen Vorteil oder im Interesse des Du verstehen will; die meisten Menschen kennen nur das erstere. Es ist fast eine "kopernikanische Wendung", zum letzteren überzugehen.


Die eigene Lebensproblematik des Verstehenden kann im Verstehensprozeß nicht exkommuniziert werden. Wir gehen selber in die Diagnostik als "schwieriger Mensch" hinein; wir haben "blinde Flecke" in unserer Optik, und das beeinträchtigt das Verstehen. Gleichwohl sollen wir unser Bestes geben. Wir nähern uns einem "ruhigen, objektiv blickenden Weltauge" an; aber wir erreichen diesen Status nicht. Verstehen ist daher immer mit Mißverstehen verbunden. Wir sollen unsere Resultate mit Skepsis betrachten. In einem langdauernden Vorgang können wir allfällige Irrtümer korrigieren. Verstehen braucht Zeit!


Allerdings geben wir zu, daß eine gewisse "Unschärferelation" besteht (wie in der Physik). Die Beobachtung verändert das Beobachtete. So können zwei verschiedene Therapeuten am selben Patienten sehr verschiedenartige Befunde erheben. Es kommt eben darauf an, wer beobachtet und registriert. Der Patient gibt sich nicht nur anders bei mehreren Therapeuten; er ist auch anders. Damit muß man leben und arbeiten. Wir haben oben schon darauf hingewiesen, daß gute Qualifikationen des Verstehenden sein Gegenüber zu mehr innerer Freiheit und Lebensfülle animieren.

Das Verstehen erinnert an einen Meßvorgang; es soll bewertet und beurteilt werden. Derlei braucht ein Koordinatensystem ähnlich wie man beim Messen und Wägen ein Maß oder ein Gewicht benötigt. Diese Kriterien hat der Tiefenpsychologe in bestimmten Aspekten seiner Theorie.

Die tiefenpsychologischen Konzepte haben nicht die Schärfe naturwissenschaftlicher Begriffe. Wir arbeiten mit flexiblen Systemen; unser Gefühl wird eingesetzt, um derartige Befunde zu erheben und auszuwerten. Psychologie ist eben für uns keine harte, sondern eine "weiche Wissenschaft" wie die Geisteswissenschaften überhaupt.

Spinoza sagt: "Das Wahre ist der Index seiner selbst und des Falschen!" Das bedeutet: Wer die Wahrheit kennt, begreift auch den Irrtum als solchen; wer aber im Irrtum drinsteckt, begreift weder den Irrtum noch das Wahre. Auf das Verstehen des Patienten angewendet: Der Therapeut muß eine umfänglichere Persönlichkeit als sein Gegenüber sein; er muß mehr Common sense als der Patient haben, mehr Tugenden, Lebenskenntnis, Selbstverständnis usw.

 

Die überlieferte Ethik gibt uns das Koordinatensystem, in welches wir die Patientenbefunde einordnen können. Natürlich muß diese Ethik nicht rigoros, sondern flexibel gehandhabt werden. Wir wollen unsere Patienten nicht verurteilen, müssen sie aber beurteilen; wir wollen nicht Richter sein, aber wir müssen klar und unbeschönigt sehen, was fehlt und was vorliegt.


Hermeneutik: Das ursprüngliche Anwendungsgebiet der Hermeneutik war die Textauslegung. Bei heiligen und profanen Schriften kam es darauf an, den Sinn und die Bedeutung des Textes genau zu erfassen. Im Verlaufe der Jahrhunderte entwickelten sich Regeln der Auslegekunst, die als "hermeneutischer Kanon" zusammengefaßt wurden. Die Hermeneutik beanspruchte bei sachgemäßer Anwendung, daß der Interpret den Autor besser verstehen könne, als er sich selbst verstand. Ähnlich behauptet der Psychoanalytiker, daß er durch geschickte Deutung den Patienten über sich selbst so aufklären könne, wie dieser es allein niemals vollbringen würde.


Zu den Regeln der Hermeneutik gehört ganz speziell die Befolgung des "hermeneutischen Zirkels". Der Interpret kreist häufig vom Teil zum Ganzen und vom Ganzen zu den Teilen. So begreift man eine Novelle von Goethe nur, wenn man das Gesamtwerk zu Rate zieht; das Gesamtwerk jedoch wird nur transparent, wenn man alle einzelnen Schriften sorgfältig liest und deutet.


Ein anderer Zirkel findet statt zwischen dem Deuter und seinem Deutungsobjekt. Um einen Menschen zu verstehen, müssen wir in uns selbst hineinblicken: Wir beurteilen seine Eigenschaften immer auch im Hinblick auf unsere eigenen Wesenseigentümlichkeiten. Andererseits wird uns vieles über uns selbst klar, wenn wir uns einem Du mit Erkenntnisbemühung zuwenden. Hermeneutische Interpretationskunst in der Psychotherapie bedeutet, daß der Analytiker an seinem Analysanden wachsen und reifen muß, wenn er sich in diesen wirklich einfühlen will. Am Ende einer Therapie müssen beide Protagonisten viel voneinander und aneinander gelernt haben.


Leider ist die Hermeneutik keine technische Disziplin, die jedermann ohne weiteres lernen kann. Wie alle Künste wird sie mit dem Einsatz der ganzen Persönlichkeit ausgeübt. Daher haben die Klassiker der Hermeneutik von Schleiermacher bis Dilthey, von Husserl bis Heidegger und Gadamer immer wieder betont, daß zu den Eigenschaften eines guten Interpreten u.a. Liberalität, Reichtum und Weite der Persönlichkeit, geschulte Sensibilität und umfassende Welterfahrung gehören. Begegnet man einem Menschen im Hinblick auf eine Verstehensarbeit, dann ist man gewissermaßen schon im Zirkel einer emotionalen und kulturellen Verbundenheit drin. Nur durch radikales Durchlaufen der bereits angebahnten Zirkelsituation mit wacher Intelligenz kann man nach und nach Aufklärung über sich selbst und das Du gewinnen.

Tiefenpsychologie

Die Tiefenpsychologie impliziert eine weitreichende Ethik. Sie geht davon aus, dass der Mensch nicht nur Faktum, sondern auch Seinsollen ist. Wir messen jeden Menschen daran, wie weit er den "Sinn des Lebens" begreift und erfüllt. Ethische Fehlschläge gehen in Neurosen, Psychosen und Perversionen über.

Die überlieferte Ethik gibt uns das Koordinatensystem, in welches wir die Patientenbefunde einordnen können. Natürlich muss diese Ethik nicht rigoros, sondern flexibel gehandhabt werden. Wir wollen unsere Patienten nicht verurteilen, müssen sie aber beurteilen; wir wollen nicht Richter sein, aber wir müssen klar und unbeschönigt sehen, was fehlt und was vorliegt.

Die Lebensgeschichte eines Menschen ist ein wichtiger Charaktertest; denn: "Der Mensch ist nicht mehr als die Summe seiner Taten!" (J.-P. Sartre) Wie einer sein Leben gelebt hat, lässt erkennen, wer er ist, wo seine Schwächen und seine Vorzüge liegen. Daher soll man die Biographie des Patienten genau erforschen. Aber man bekommt von ihm selbst keinen authentischen Bericht; er erzählt "tendenziös". Das muss man wissen, damit man nicht irgendwelchen subjektiv verzerrten Berichten zum Opfer fällt. Der Patient als Historiker seiner selbst ist etwa ebenso objektiv wie nationalistische und religiöse Geschichtsschreiber, die die Geschichte ihres Landes oder ihrer Religion erzählen. Man muss immer relativieren, was man hört. Kennt man den Charakter des Erzählers, dann ahnt man, was er übertreibt, vernachlässigt, entstellt und verheimlicht. Das Verfahren der wissenschaftlichen Textprüfung (auch Persönlichkeitsanalyse) ist die

Tiefenpsychologische Hermeneutik. Im Unterschied zur geisteswissenschaftlichen Hermeneutik sind der tiefenpsychologischen Interpretationskunst bestimmte Themen vorgegeben, die aus der inneren Struktur des Menschen- und Gemeinschaftslebens erwachsen. Man deutet eine Patientenpersönlichkeit, indem man folgende Fragenkomplexe im Auge behält:

  1. Arbeitsfähigkeit
  2. Mußefähigkeit
  3. Liebesfähigkeit
  4. Sexuelle Potenz oder entsprechende Schwierigkeiten
  5. Stellungnahme zur Gemeinschaft überhaupt
  6. Kommunikationsfähigkeit
  7. Vernunft oder Unvernunft
  8. Teilhabe an Erkenntnissen von Wissenschaft, Kunst und Philosophie
  9. Lebensschicksale von früher Kindheit an
  10. Verhalten in Schwellensituationen des Lebens (Schulbeginn, Pubertät, sexuelle Erfahrung, Beruf, Altern usw.)
  11. Verhalten in der Therapiesituation
  12. Einstellung zum Geld, zur Politik, zur Freiheit usw.
  13. Weltanschauung
  14. Charakterstruktur und Charakteranomalien
  15. Ethische Gesinnung usw.
  16. Selbstbildnis, Minderwertigkeitsgefühle, Geltungsstreben, Selbstachtung

Kulturanalyse

Jede Form von wissenschaftlichem oder philosophischem Konzept benutzt bestimmte Begriffe mit einem je eigenen Bedeutungszusammenhang. Diesen Bedeutungszusammenhang explizit zu machen tut not, um wissenschaftliche oder philosophische Themen und Fragestellungen adäquat zu verstehen.

Begriffe und Konzepte

Jede Form von wissenschaftlichem oder philosophischem Konzept benutzt bestimmte Begriffe, um zu exemplifizieren.
Man will z.B. Depression verstehen oder als Störung behandeln

Affekte · Agression · Anamnese · Apperzeption · Charakter · Dressat · Einfühlung · Einheit der Persönlichkeit · Empathie · Fiktion · Finalität · Gewissen · Hypnose · Individualpsychologie · Kompensation · Konflikt · Phänomenologie · Selbstwertstreben · Situation · Traum · Verdrängung · Verwöhnung · Überkompensation

Anwendungen und literarische Beispiele

Begriff Kultur (lat. Cultura, das zu Pflegende aus LaWi, bei Römern als Idee /Ideelles)… Wachstum und Form… Hegel Phänomenologie ist Geistes- und Kulturgeschichte… Jakob Burckhardt = Kultur alles außer Staat, Kirche Militär… Simmel (Kultur als Weg der Seele zu sich selbst … Freud alles Menschengemachte und nicht Gewordene … Cassir

Henrik Ibsen: Nora – Eine Studie zur Hysterie
Zur Lebensgeschichte Helen Kellers – Worte, die die Welt bedeuten
Thomas Mann: Josef und seine Brüder – Zum Problem der personalen Existenz im 20. Jahrhundert