“Wo Ich war, soll Gemeinschaft werden.” - Gruppentherapie und therapeutische Gemeinschaften in der Individualpsychologie
Autor*in: | Roland Wölfle |
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Verlag: | Schriftenreihe der Sigmund-Freud-Privatuniversität, Band 11, Waxmann-Verlag, Münster 2015, 627 Seiten |
Rezensent*in: | Gerald Mackenthun |
Datum: | 17.08.2016 |
Das vorliegende Buch schließt eine Forschungslücke, denn ein Gesamtwerk über individualpsychologische Therapiegruppen oder Gruppentherapie existierte bislang nicht. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass Gruppenpsychotherapie eher kein Arbeitsschwerpunkt von Individualpsychologen ist. Der Autor, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, kommt von der Individualpsychologie Alfred Adlers her. Er blickte auf viele Stunden Gruppenerfahrung zurück, unter anderen war er zwölf Jahre lang Leiter einer therapeutischen Gemeinschaft suchtkranker Menschen.
Das, was Wölfle in dem 627 Seiten starken Werk zusammengetragen hat, ist profund. Er beginnt bei der Entwicklung von Gruppenpsychotherapie außerhalb und innerhalb der Individualpsychologie, stellt Alfred Adler als Pionier der Gruppenpsychotherapie vor, erörtert ausführlich die Begriffe Gemeinschaft und Gemeinschaftsgefühl als zentrale Bestandteile der Individualpsychologie und stellt anschließend die Weiterentwicklungen von individualpsychologisch inspirierten Gruppen nach 1945 vor, die direkt oder indirekt aus der individualpsychologischen Gruppenarbeit hervorgegangen sind.
Besonders interessant dürfte die Beschäftigung mit einigen Gruppenpsychotherapie-Einrichtungen sein, zu denen bislang kein systematisches Material vorlag. Besonders breiten Raum nimmt dabei die therapeutische Gemeinschaft der Therapiestation Lukasfeld für Drogenabhängige ein, in welcher Wölfle von 2002-2014 arbeitete. Lukasfeld ist eine Außenstelle der Stiftung Maria Ebene im österreichischen Bundesland Vorarlberg und existiert seit 1976 als stationäre und ambulante Suchtkrankenbehandlung.
Ein eigenständiges individualpsychologisches Konzept für eine Gruppentherapie gibt es nicht. Viele Einflüsse wurden integriert und haben sich zu verschiedenartigen Formen ausgebildet. Die Individualpsychologie hat allerdings immer schon viel mehr Wert auf die Rolle des Menschen in der Gemeinschaft gelegt, als dies bei anderen Schulen der Fall ist. Adler ging dabei sogar so weit, dass er den Begriff des Gemeinschaftsgefühls als Merkmal von Gesundheit und Wohlbefinden des Einzelnen und als Gütekriterium für ein Zusammenleben von Menschen ins Zentrum seiner Lehre rückte.
Diese Monokausalität versperrte für Jahrzehnte den Blick auf andere mögliche Ursachen und Gründe für psychische Störungen und behinderte unbewusst das Verstehen des Patienten. Auch hatte die Gemeinschaft immer Vorrang vor dem Ich, bis hin zur selbstlosen Nützlichkeit für das Kollektiv. „Gemeinschaftsgefühl“ blieb aber ein richtungsgebendes Ideal für alle Spielarten der Individualpsychologie.
Nachdem sich Wölfle zunächst mit einigen zentralen Konzepten der Individualpsychologie beschäftigt hat, wendet er sich den Protagonisten zu. Zu nennen sind neben der Gründerfigur Alfred Adler (Wien) Rudolf Dreikurs in den USA, Joshua Bierer in England, Friedrich Liebling in Zürich und Josef Rattner in Berlin. In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sind im deutschsprachigen Raum durch Individualpsychologen wie Günter Heisterkamp oder Rainer Schmidt gruppenpsychotherapeutische Methoden präsentiert worden, die gegenüber anderen Techniken wie Körpertherapie, Psychodrama oder Tanztherapie offen sind. Liebling in Zürich hat zwar mit Gruppen gearbeitet, aber kein elaboriertes Gruppenkonzept hinterlassen. Rattner hat für seine Großgruppentherapie in Berlin die Individualpsychologie als eine zentrale Quelle betrachtet, daneben aber die gesamte Tiefenpsychologie integriert.
In den Vereinigten Staaten gibt es in der individualpsychologischen Gemeinschaft im Gegensatz zum deutschsprachigen Raum eine lebendige gruppentherapeutische Szene. Dort wurden eine Reihe von Lehrbüchern und andere didaktische Literatur über individualpsychologisch ausgerichtete Gruppentherapie veröffentlicht. Das amerikanische Wort dafür, Group Counseling, beinhaltet den durchaus gewollten pädagogischen Effekt dieser Gruppen.
Die Gemeinsamkeiten von tiefenpsychologischen Gruppen sind schwer zu bestimmen. Viel hängt davon ab, wer in solchen Gruppen zusammengefasst wird. Ihre Struktur ist aber grundsätzlich demokratisch angelegt. Alle Gruppenmitglieder arbeiten von Anfang an auf der Grundlage von Gleichwertigkeit und Gemeinschaft. Der Therapeut ist hier ein Gesprächspartner, kein Analytiker. Oft geht es darum, aus Erfahrungen Einsichten zu ziehen. Es erfolgt weniger eine gleichzeitige Behandlung von Einzelnen in der Gruppe als vielmehr eine Behandlung des Einzelnen mit und durch die Gruppe.
Die Gemeinsamkeiten der „Marke“ Individualpsychologie könnten sein: das Konzept von Gemeinschaftsgefühl; die Lebensstilanalyse; Gleichwertigkeit und Wertschätzung; im begrenzten Umfang Mitbestimmung und Partizipation der Teilnehmer; Einsichten aus Erfahrungen gewinnen; Selbstdistanzierung bei gleichzeitiger Selbstakzeptanz; Anerkennung der gegenseitigen Abhängigkeit und universellen Verbundenheit; die Behandlung existenzieller Fragen; die Anerkennung unbewusster und unverstandener Dynamiken; Offenheit für unterschiedliche, auch unkonventionelle Techniken (Musik, Körperarbeit, Psychodrama); Ermutigung in allen Lebenslagen; geringe hierarchische Differenz zwischen Gruppenmitgliedern und Gruppenleiter; Psychoedukation (S. 342ff.).
In einem zweiten Anlauf werden 15 Elemente für eine therapeutische Gemeinschaft auf der Grundlage der Individualpsychologie und vor dem Hintergrund der langjährigen Erfahrungen des Autors formuliert (S. 578ff.). Der Band wird beschlossen mit Praxisbeispielen, Alltagsszenen und Fallvignetten zur individualpsychologischen Gruppenarbeit der Therapiestation Lukasfeld (Vorarlberg) aus den Erfahrungen von Wölfle selbst. Das Buch bietet damit den derzeit besten und umfassendsten Überblick über Gruppenarbeit und Gruppentherapie auf individualpsychologischer und tiefenpsychologischer Grundlage. Die Theorie spielt eine große Rolle, doch kommen die konkreten Erfahrungen nicht zu kurz. Aus Letzteren lassen sich sogar einige Hinweise für die eigene praktische Arbeit ableiten.