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Wissenschaften

Warum Nationen scheitern. Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut

Autor*in:Daron Acemoglu und James A. Robinson. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
Verlag:S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013, 608 Seiten
Rezensent*in:Gerald Mackenthun
Datum:28.09.2024

Wie erklären sich die zum Teil erheblichen Wohlstandsunterschiede zwischen Ländern? Warum herrscht in manchen Ländern seit langer Zeit wirtschaftlicher Wohlstand, während andere Länder in Armut verharren? Rund 15 Jahre lang haben die beiden renommierten Autoren Daron Acemoglu (Massachusetts Institute of Technology) und James A. Robinson (Harvard University) zu dem Thema geforscht und einige Fachartikel dazu veröffentlicht. Das vorliegende Buch ist die Quintessenz ihrer Arbeit.

Das Thema ist nicht neu. Adam Smith hatte bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Bestimmungsgründe wirtschaftlichen Wohlstands in seinem berühmten Wohlstand der Nationen behandelt. Max Weber erklärte die protestantische Arbeitsethik als entscheidend für den Aufstieg westlicher Staaten. Der Evolutionsbiologe Jared Diamond sieht die Ursachen vornehmlich in den natürlichen Gegebenheiten der Geografie und des Klimas (Arm und Reich, 2006).

Acemoglu und Robinson verwerfen alle bisherigen Ansätze und treten mit dem Anspruch auf, eine neue Erklärung gefunden zu haben. Der Unterschied liege in den Institutionen. Sie unterscheiden „inklusive“ und „extraktive“ Wirtschaftsinstitutionen. Inklusive sind solche, die den Schutz von Eigentumsrechten durchsetzen, faire Wettbewerbsbedingungen herstellen sowie Investitionen in neue Technologien fördern. In diesen Gesellschaften wird politische Macht auf pluralistische Art geteilt, und es gibt eine gewisse politische Zentralgewalt, die Recht und Ordnung durchsetzt und eine soziale Marktwirtschaft schützt.

Extraktive Wirtschaftsinstitutionen sind jene, wo eine Oligarchie oder einzelne Familien die vorhandenen Ressourcen an sich reißen, die politische Opposition eliminiert wird, Eigentumsrechte nicht geschützt werden und es keine Anreize für wirtschaftliches Engagement gibt. Extraktive Wirtschaftsinstitutionen konzentrieren die Macht in den Händen einiger weniger (S. 505).

Der einflussreiche Soziologe Peter Schumpeter hat vor Jahrzehnten die Überzeugung vertreten, eindimensionale Erklärungen komplexer sozialer Phänomene seien trügerisch. Das trifft auf dieses Buch zu. Die These, wonach der wirtschaftliche Wohlstand eines Landes durch die wirtschaftlichen Institutionen bestimmt wird und eigentlich durch nichts anderes, klingt verlockend einfach, und sie ist sicherlich nicht falsch. Ihre Grundannahme führen die beiden Autoren in einer beeindruckenden Fülle von ausführlich erzählten Fallbeispielen aus. Dadurch erklärt sich der Umfang von 608 Seiten. Er ist Ausdruck von umfassender Recherche und unbezweifelbarer Kompetenz, enthält aber auch eine Fülle von Wiederholungen.

Die Erzählung führt den Leser fast durch die ganze Welt: in den Kongo, nach Costa Rica, Mexiko, Thailand, ins Russland des 19. Jahrhunderts, in das Römische und das Habsburger Reich, zu den Maya und dem Sklavenhandel in Schwarzafrika, nach Nord- und Südkorea bis in die Bundesrepublik und DDR. Nord- und Südkorea sowie West- und Ostdeutschland sind Paradebeispiele für die Institutionen-These der Autoren. Die Länder unterscheiden sich nicht in den geografischen und klimatischen Gegebenheiten und haben doch völlig verschiedene wirtschaftliche Wege eingeschlagen, mit entsprechendem Wohlstandsgefälle.

Mit diesen Beispielen erweist sich ihre Grundthese zugleich als zu eng. Sie räumen selbst ein, dass inklusive und extraktive Wirtschaftsinstitutionen nicht für sich existieren, sondern von einem Kranz stützender politischer rechtlicher Institutionen umgeben sind. Die Europäische Union könne als Bollwerk für Frieden und Stabilität bezeichnet werden (S. 17). Die Unterschiede liegen im Grad der Korruption, der politischen Unterdrückung und der Qualität der Ausbildung. Armut hängt eng zusammen mit der Politik korrupter politischer Eliten, die Macht monopolisieren und kein Interesse daran haben, andere Bevölkerungsschichten zu beteiligen.

Die Menschen in den wohlhabenden Ländern sind gesünder, leben länger und erhalten eine bessere Ausbildung. Auch haben sie Zugang zu etlichen Angeboten und Möglichkeiten, etwa Urlaubsaufenthalten und Karrieren, von denen die Menschen in den armen Ländern nur träumen können. Die Bürger in den vermögenden Ländern fahren zudem auf Straßen ohne Schlaglöcher und verfügen über Toiletten, Strom und fließendes Wasser in ihren Häusern. Typischerweise haben sie Regierungen, die sie nicht willkürlich verhaften oder schikanieren. Im Gegenteil, die Regierungen sorgen für Dienstleistungen wie Erziehung, Gesundheitsversorgung, Straßenbau und Recht und Ordnung (S. 66).

Die zunehmend bewusster wahrgenommene Ungleichheit zwischen armen und reichen Ländern erzeugt unter anderem einen stetig zunehmenden Migrantenstrom von Süd- nach Nordamerika und von Nordafrika und dem Nahen Osten nach Europa. Von grünen Politikern wird gelegentlich gefordert, zur Eindämmung dieser Wanderungsbewegung müssten die „Fluchtursachen bekämpft“ werden. Betrachtet man die äußerst vielfältigen Bedingungen für gesellschaftlichen Wohlstand, so erscheint der Versuch der reichen Länder einschließlich der Europäischen Union, die Fluchtursachen in den armen Ländern einzugrenzen oder zu beheben, als aussichtslos. Auslandshilfe ist kein wirkungsvolles Mittel, um dem Scheitern von Nationen, wo auch immer auf der Welt, entgegenzuwirken.

Der Wohlstand von Nationen unterliegt also einer ganzen Fülle von Bedingungen: Rechtssicherheit, Schutz des Privateigentums und von Patenten, gute Schulbildung, Freiheit der Forschung und der Medien, Parteienwettbewerb und politische Machtverteilung, Reisefreiheit und freie Wahl des Wohnortes, starke öffentliche Dienstleistungen. Diese Freiheitsbedingungen schaffen Raum für Innovationen und technologischen Wandel. Die Autoren erinnern daran, dass nicht wenige Menschen die damit verbundene „schöpferische Zerstörung“ fürchten. Angst vor Unruhe und Jobverlust ist ein starkes Motiv, sich Neuerungen zu verschließen. 

Löst man sich von der einseitigen Hypothese und lässt alle Erklärungsmodelle gelten, zeigt sich Warum Nationen scheitern als anregende und anekdotenreiche Lektüre. Ob es allerdings 600 Seiten gebraucht hätte? Nach einem Drittel des Buches kennt man das Hauptargument der Autoren.