Verlorenheit. Ressentiments und verletzte Bedürfnisse in Krisenzeiten
Autor*in: | Manfred Prisching |
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Verlag: | Psychosozialverlag, Gießen 2024, 169 Seiten |
Rezensent*in: | Gerald Mackenthun |
Datum: | 10.03.2025 |
Die Zahl der Kriseninterpretationen ist mittlerweile so unüberschaubar wie die Zahl der Krisen selbst. Einen neuen Versuch zum Verständnis des Zeitgeistes unternimmt der österreichische Soziologe Manfred Prisching in einem schmalen Band mit dem Titel Verlorenheit. Das Gefühl der Verlorenheit entstehe durch verletzte und nicht befriedigte Bedürfnisse. Findet Prisching damit einen neuen Ansatz, um die aktuelle Unordentlichkeit der Welt verständlich zu machen?
Der von vielen gespürte Aufruhr der Welt trifft die Menschen in ihrem Alltag. Die Normalität dieses Lebens steht nach Ansicht des Autors infrage, sie erodiert (S. 7). Unordnung und Unsicherheit gefährden Bedürfnisse. Der Autor identifiziert fünf „Bedürfniscluster“, die als unbeschützt empfunden werden: das Verständnis von der Welt, die normative Orientierung in der Lebenswelt, Gemeinschaftsgefühle, Wohlstand und Sicherheit. Diese Bedürfnisse „verflüssigen“ sich und schaffen diffuse Zustände der Unruhe, der Unsicherheit, der Besorgnis. Diese Gefühle können akkumulieren und sich in Gereiztheit, Wut, Aggression und Ressentiments entladen. Politische Machiavellisten greifen diese Ressentiments auf, verstärken sie und wenden sie gegen das „etablierte System“. Das „geschwundene Vertrauen in die Politik“ ist ein Ergebnis, nicht die Ursache. Aber warum sollte ausgerechnet rechtspopulistischen Diktatorenanwärtern Vertrauen geschenkt werden?
Prisching dekliniert diese fünf Besorgnisgebiete ausführlich durch. Der Leser erhält einen Überblick und eine Zusammenfassung der aktuellen Debatten anhand einschlägiger Autoren. Im Inneren befindet sich der Westen in einem Kulturkampf links gegen rechts, außenpolitisch bedrängen Autokratien und Diktatoren die liberale Demokratie. Prisching vermeidet die politischen Zuordnungen „links“ und „rechts“, die sich abgenutzt hätten. Ist die Meinung, die Schuldenbremse sollte eingehalten werden, eine linke oder rechte Position?
Prisching verlegt sich auf die Begriffe des Progressismus und der Progressisten. Diese hätten in den vergangenen 50 Jahren die kulturelle und politische Hegemonie innegehabt, die seit einiger Zeit durch rechtsgerichtete Bewegungen und Parteien wirkungsvoll infrage gestellt wird. Deren zentrale Anliegen wie Gemeinschaft, Heimat und Nation seien aber nur blasse Schemen, die keine tragfähige Orientierung böten. Einkommens- und Vermögensspreizung, tumultarische soziale Netzwerke, Bitcoins, künstliche Intelligenz, konkrete Kriege und aggressive Großmächte würden auch in Zukunft viele Menschen beunruhigen und verängstigen.
Soweit, so bekannt. Erscheinungsformen und Ursachen von „Unbehagen“ sind schon oft beschrieben worden. Eine neue Idee bringt der Autor durch den Hinweis auf die Normalität des Alltagslebens ein. Während sich aktuelle Zustandsbeschreibungen auf die negativen Seiten der Entwicklung konzentrieren, müsste nach Prisching die nach wie vor bestehende Normalität beachtet werden: Menschen gehen ihrer Arbeit nach, halten den Laden am Laufen, kümmern sich um ihre Kinder und fahren in den Urlaub. Diese Routinen hätten einen starken, beruhigenden Effekt. Erst wenn diese Ordnung gefährdet ist, wird die Lage prekär. Ob dieser Zustand schon eingetreten ist, möchte Prisching nicht entscheiden. Aber: „Es gibt keine Garantie für den Fortbestand der Epoche liberal-demokratischer Systeme“ (S. 143).
Der Autor beschreibt summarisch die aktuelle Krisensituation und wie Menschen darauf psychologisch reagieren. Was daraus folgt, muss sich der Leser selbst zusammenreimen. Prisching plädiert für eine „Fragilitätskompetenz“ (S. 155), ein recht vager Vorschlag. Man kann nur hoffen, dass sich die Mehrheit Nüchternheit und Realismus bewahrt.