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Rezensionen
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Wissenschaften

Republik der Angst

Autor*in:Frank Biess
Verlag:Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2019, 613 Seiten
Rezensent*in:Gerald Mackenthun
Datum:20.02.2021

Mit seinem Buch Republik der Angst möchte der an der University of California in San Diego lehrende Historiker Frank Biess eine Neuinterpretation der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bieten. Der Untertitel bezieht sich darauf, die Rolle von Emotionen zum Ausgangspunkt eines neuen Blicks auf die Geschichte Westdeutschlands zu machen. Gefühle werden von ihm als eigenständige, aus sich selbst heraus wirksame Kräfte betrachtet und behandelt. Vor diesem Hintergrund ist ihm die Geschichte der Bundesrepublik eine Geschichte von „Angstzyklen“ und „Angstkrisen“. Er konstatiert eine Spannung zwischen den von Historikern konstruierten optimistischen Erzählungen und einem grassierenden Pessimismus der Zeitgenossen. Die Historiker Axel Schildt, Edgar Wolfrum oder Heinrich August Winkler hätte die Geschichte der Bundesrepublik zu optimistisch beschrieben. Biess möchte die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik relativieren und in den breiten Strom der verbreiteten Untergangsstimmung einreihen. Sein Zeithorizont sind die Jahre 1945 bis zur Wiedervereinigung 1990. Die 30-jährige Geschichte der Berliner Republik berücksichtigt der Autor in einem Epilog.

Das Buch beinhaltet keine Aneinanderreihung der sich abwechselnden Angstthemen in der Bundesrepublik. Es geht zunächst um die normativen Rahmenbedingungen für die Artikulation von Angst. Zweitens interessiert sich der Autor für die sich verändernden Objekte von Angst. Grundsätzlich konzentriert sich die Darstellung auf das, was der Autor „politische Ängste“ nennt, also kollektive und gesellschaftlich wirksame Ängste. Aber wirken nicht auch „private“ Ängste, wenn sie nur genügend Menschen erfassen, gesellschaftlich? Können äußere von innerenÄngsten wirklich sauber voneinander getrennt werden? Drittens zielt die Untersuchung auf die Analyse der sozialen und politischen Funktionen von Angst unter jeweils veränderten Kontexten. Angst lässt sich funktionalisieren und mobilisieren, sowohl von „oben“ wie auch von „unten“. Angst „von oben“ war die Kommunistenangst der Adenauerregierung, Angst „von unten“ die Mobilisierung nuklearer Katastrophenängste durch die Umwelt- und Friedensbewegung.

Biess erkennt in seinen insgesamt acht Hauptkapiteln mehrere Angstzyklen: unmittelbar nach Kriegsende die Angst vor der Rache der NS-Verfolgten und der Alliierten, die Kriegsangst der 1950er Jahre und die apokalyptische Angst und Weltuntergangsfurcht der Umwelt- und Friedensbewegung ab 1980. Erneut bleiben Fragen offen: Gab es eigentlich eine Zeit ohne Angst? Welche Teile der Bevölkerung lebten in dieser Angst? Wessen Ängste lassen sich überhaupt analytisch erfassen? Gab und gibt es Unterschiede in der Angstwahrnehmung von Mehrheitsgesellschaft und Entscheidungsträgern?

In einem Epilog geht Biess auf die neuere Geschichte ein. Hier springen Globalisierungsängste ins Auge. Ohne Zweifel speist sich der politische Populismus der Gegenwart aus Ängsten und Verunsicherungen, beispielsweise vor Migranten und vor Überfremdung. Diese werden teils von Populisten selbst geschaffen, teils ausgenutzt und instrumentalisiert. Biess betont, dass die Emotion der Angst nicht einfach als Irrationalität gedeutet werden darf. Der etwas ältere Leser sieht sich bei der Lektüre sogartig in vergangene Zeiten hineingerissen. Wurden diese Aufgeregtheiten damals wirklich ernst genommen? Man mag es kaum glauben.

Entstanden ist eine material- wie thesenreiche Studie gesellschaftlicher Ängste seit 1945 von beeindruckender Dichte und beachtlichem Umfang (über 600 Seiten, mit einem Anmerkungsapparat von mehr als einhundert Seiten). Quellen sind Tagebücher, Briefe, Liedgut, Literatur, Zeitungs- sowie Regierungsberichte bis hin zu Umfragen von Meinungsforschungsinstituten. Aber handelt es sich wirklich um einen neuen und frischen Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik? Die Angstdisposition der Deutschen war schon öfter Thema von Büchern. Man kann die Geschichte der Bundesrepublik auch anhand anderer Emotionen betrachten, wie beispielsweise Eckart Conze, der 2009 die Geschichte der Bundesrepublik von 1949 bis in die Gegenwart anhand der „Suche nach Sicherheit“ untersuchte.

Conze, der das Buch von Biess rezensierte, meinte, Bliess’ Buch stehe „beispielhaft für die Möglichkeiten einer politischen Emotionsgeschichte“. In ihr werden Gefühle „als eigenständige, aktive und kausale Kräfte“ verstanden (S. 40). Biess identifiziert die „Entwicklung von einem repressiven zu einem expressiven emotionalen Regime“ (35). Während die politische Kultur der jungen Demokratie expressive Gefühlsausdrücke ächtete und sich durch demonstrative Nüchternheit von nationalsozialistischen Gefühlsexzessen abzugrenzen suchte, setzte Ende der 1960er Jahre ein Wandel ein. Der Autor schreibt dabei der Studentenbewegung eine Schlüsselrolle zu. Über das linksalternative Milieu der 1970er Jahre seien die neuen emotionalen Normen dann in die Mehrheitsgesellschaft diffundiert. Die permanente Angstmobilisierung (Kernenergie, Atomwaffen, atomarer Krieg) bedeutet einerseits eine chronische Verunsicherung. Andererseits ist damit eine erhöhte politische Aufmerksamkeit verbunden, die nach Biess paradoxerweise auch zur Stabilisierung der Bundesrepublik beigetragen habe (S. 21). An dieser Stelle bleibt der Autor allerdings die Beweisführung schuldig. Doch die Angst vor einer Umweltkatastrophe kann als Motor für verstärkte Umweltschutzanstrengungen gesehen werden.

Das Buch lässt viele Fragen offen. Zwischen „Angst vor“ und „Angst um“ wird nicht präzise unterschieden. Noch weniger wird die Berechtigung von Angst, Sorge, Furcht und Pessimismus untersucht. Berechtigte Angst wird nicht von unberechtigter differenziert.  Sind die Deutschen signifikant ängstlicher als ihre europäischen Nachbarn? Lohnt sich bei globalen Themen überhaupt noch die Untersuchung nationaler Ängste? Gibt es eine spezifische deutsche Angst, jene German Angst, der sich Frank Biess im Epilog widmet? Waldsterben, Aufrüstung, AIDS, BSE, Amalgam, Automatisierung, Handystrahlung, Bildschirmarbeitsplätze und der Überwachungsstaat (Notstandsgesetze)als Angstszenarien der 1960er bis 1980er Jahre werden nicht oder nur am Rande thematisiert. Irgendwo grassierte immer eine Angst. Immer wieder fragte man sich, ob man „in diese Welt noch Kinder setzten kann“. Ein Wunder, dass die Bundesrepublik bis heute überlebte.

Der Begriff der Angst bleibt schwammig. War die Angst vor Vergeltung der frühen Nachkriegszeit und die Angst vor einem Atomkrieg nicht von einer anderen Qualität als die permanenten Warnungen von Fluorid in Trinkwasser oder Mobilfunkstrahlung? Viele Ängste erscheinen heute nur noch skurril. Litt die Bevölkerung wirklich unter den genannten Bedrohungen? Besteht eine Deckungsgleichheit zwischen Stärke der Angst-Empfindung und Stärke des Angst-Ausdrucks? Oder wird nicht immer wieder Panik gezielt geschürt, ohne tatsächlichen Grund?

In einer politischen Emotionsgeschichte spielt die gewollte Bewirtschaftung der Angst eine zentrale Rolle. Die Medien machten und machen dabei keine gute Figur (s. Krämer/Mackenthun: Die Panikmacher, 2000). Auch eingebildete Ängste können historische Kraft entfalten. Ihre Authentizität aber bleibt fraglich. Nicht zuletzt muss bedacht werden, dass oftmals Angst gegen Angst steht. Die Bevölkerung teilte sich in Angstblöcke unterschiedlichen Inhalts. Dem einen macht der starke Staat Angst, während dem anderen der Staat als zu schwach vorkommt. Wer hat im Einzelnen vor wem Angst? Welche Akteure lösen Angst aus und welche wiederum sind Träger der Angst? Und welchen Umfang nimmt die Angst ein im Verhältnis zu anderen Emotionen?

Die Angstgeschichte ist begleitet von einem unablässigen Strom apokalyptischer Voraussagen und Warnungen. Der greise Philosoph Karl Jaspers verglich die Bundesrepublik 1965 mit dem „Zustand der Zwanzigerjahre vor der Machtergreifung Hitlers“. Der Vergleich mit der Nazidiktatur kam regelmäßig zum Einsatz. Angesichts des Waldsterbens sprach die erstarkende grüne Bewegung 1982/83 vom „ökologischen Hiroshima“ oder vom „Holocaust des Waldes“. Die amerikanischen Pershing-Raketen nannte die prominente Theologin Dorothee Sölle „fliegende Verbrennungsöfen“. Unter Intellektuellen glaubte damals niemand, dass aus der Bundesrepublik etwas werden könnte. Die Angst war die Angst der Meinungsmacher.

Als politische Emotionsgeschichte hat Biess’ Vorhaben seine Berechtigung. Aber warum nicht einmal eine Geschichte der Zuversicht, des Optimismus, der Humanität, des Zusammenarbeit schreiben? „Warum eigentlich nicht ein bundesrepublikanischer Freudezyklus?“ fragt Tilmann Allert in einer Rezension für die Süddeutsche Zeitung (27. März 2019). Offenbar hat niemand Interesse daran, eine allzu entspannte Stimmung aufkommen zu lassen. Dann lieber in den Chor jener einstimmen, die die Bundesrepublik, Europa und die Welt schon immer am Rande des Abgrunds stehen sehen.