Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet
Autor*in: | Francis Fukuyama |
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Verlag: | Hoffmann und Campe, Hamburg 2018, 236 Seiten |
Rezensent*in: | Gerald Mackenthun |
Datum: | 23.05.2025 |
Critical Race Theory ist ein ursprünglich juristisches und soziologisch-akademisches Konzept, das untersucht, wie Rassismus systemisch in Gesetze, Institutionen und gesellschaftliche Strukturen eingebettet ist. In den letzten Jahren wurde diese Theorie zum kulturellen Zündstoff in der US-amerikanischen Politik. Konservative Politiker warfen den CRT-Verfechtern vor, Kinder zum Schuldgefühl gegenüber ihrer „weißen“ Identität zu erziehen und die Gesellschaft zu spalten.
Das deutsche „Selbstbestimmungsgesetz“ (in Kraft ab 2025) erlaubt es trans*, inter* und nichtbinären Personen, ihren Vornamen und Geschlechtseintrag durch einfache Erklärung beim Standesamt zu ändern. Darüber entstand ein intensiver Streit zwischen trans-affirmativen Aktivist*innen und sog. „genderkritischen“ Feministinnen (z. B. Alice Schwarzer). Feministische Gruppen und konservative Stimmen warnten vor geschlechtsidentischen Konfusionen bei Jugendlichen und fürchteten Bedrohungen von Frauen durch geschlechtsumgewandelte Männer. Beide Fälle zeigen exemplarisch, wie Identitätsprojekte – auch wenn sie ursprünglich auf Würde, Gleichberechtigung und Anerkennung zielen – im öffentlichen Diskurs schnell zu Stellvertretern tieferer gesellschaftlicher Konflikte werden: um Wahrheit, Normen, Gerechtigkeit, Zugehörigkeit und Autorität.
Dieses Thema analysiert der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyamas in seinem Buch Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet (Originaltitel Identity: The Demand for Dignity and the Politics of Resentment, 2018). Er befürchtet, dass die zunehmende Betonung von Gruppenidentitäten zu einer „Politik des Ressentiments“ führt, bei der sich Gruppen als Opfer sehen und Anerkennung auf Kosten anderer Gruppen fordern. Dies habe zu Polarisierung, Misstrauen und dem Aufstieg populistischer Bewegungen geführt, was die Grundlagen der liberalen Demokratie untergrabe.
Der Autor beginnt damit, dass das Streben nach Anerkennung und Würde – ein Konzept, das er mit dem griechischen Begriff Thymos bezeichnet – ein zentraler Antrieb menschlichen Handelns ist. Der Wunsch, als gleichwertig anerkannt zu werden, schlage jedoch leicht um in Megalothymia – dem Verlangen, als überlegen betrachtet zu werden. Fukuyama zeichnet die Entwicklung der Identitätspolitik nach, beginnend mit der Betonung individueller Rechte und Freiheiten in der Aufklärung über die Anerkennung kultureller und sozialer Gruppenidentitäten im 20. Jahrhundert bis hin zur heutigen Fokussierung auf spezifische Gruppenmerkmale wie Ethnie, Geschlecht, Opferstatus oder sexuelle Orientierung. Er argumentiert, dass diese Verschiebung von universellen zu partikularen Identitäten zur Fragmentierung der Gesellschaft beiträgt und den sozialen Zusammenhalt gefährdet.
Um die negativen Auswirkungen der Identitätspolitik zu mildern, schlägt Fukuyama vor, eine nationale Identität zu fördern, die auf gemeinsamen demokratischen Werten basiert, anstatt auf ethnischen, religiösen oder sexuellen Unterschieden. Es müsse eine „Leitkultur“ etabliert werden, die Vielfalt anerkennt, aber gleichzeitig den sozialen Zusammenhalt stärkt. Die Vereinten Staaten – Fukuyama betrachtet hauptsächlich sein eigenes Heimatland – sollten zu einer „Bekenntnisnation“ werden. Um zu funktionieren, brauche eine Demokratie zudem Tugenden, die nicht an bestimmte Gruppen gebunden sind. Nationale Identität bedarf eines Staatsbürgertums.
Fukuyamas Ansatz wurde sowohl gelobt als auch kritisiert. Befürworter schätzen seine Analyse der Herausforderungen, denen die liberale Demokratie gegenübersteht, und seine Betonung der Notwendigkeit eines gemeinsamen nationalen Narrativs. Kritiker hingegen werfen ihm vor, die Komplexität von Identitätsfragen zu vereinfachen und die Bedeutung struktureller Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zu unterschätzen. Eine nationale Identität berücksichtige nicht ausreichend die kulturelle Vielfalt. Deren Überbetonung ist aber genau das Problem für den Zusammenhalt in einer pluralen Gesellschaft.
Fukuyamas Analyse der Rolle von Identität ist fundiert. Er warnt vor den Gefahren einer übermäßigen Herausstellung von marginalen Gruppenidentitäten und plädiert für die Förderung einer inklusiven nationalen Identität, die auf gemeinsamen demokratischen Werten basiert. Sein Werk ist ein wichtiger Beitrag zur Debatte über die Zukunft der liberalen Demokratie in einer zunehmend fragmentierten Welt, die auf Gegnerschaft und Schuldzuweisungen beruht. Es ist jedoch nicht zu erwarten, dass die Warnung des renommierten Autors Widerhall findet. Die gesellschaftliche Fragmentierung wird von vielen Gruppen lustvoll betrieben. Alle Betonung von Gemeinsamkeit wird als Bedrohung von Vielfalt aufgefasst. Lachende Dritte sind populistische und rechtsradikale Gruppen und Parteien, die die Begriffe von Heimat und Nation für sich gekapert haben und auf eine vermeintliche Mehrheit setzen, die andere ausschließt. Die soziale Spaltung wird sich bis auf Weiteres fortsetzen.