Gewalt – Ein interdisziplinäres Handbuch
Autor*in: | Christian Gudehus & Michaela Christ (Hrsg.) |
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Verlag: | J.B Metzler Verlag, Stuttgart 2013, 420 Seiten |
Rezensent*in: | Gerhard Danzer |
Datum: | 06.08.2013 |
Der Metzler-Verlag ist bekannt für seine gediegenen und gehaltvollen Handbücher zu literarischen, psychologischen, soziologischen, historischen, philosophischen und anthropologischen Themen. In dieser Reihe erschien unlängst das hier angezeigte Buch zum Topos Gewalt, das hinsichtlich der Qualität der darin enthaltenen Beiträge bestens zur Reihe der anderen Handbücher passt.
Die Fragen nach dem Wesen, der Entstehung, dem Umgang mit und der Prävention von Gewalt sind wesentlich für das Leben von Individuen wie Kollektiven. Je nachdem, was als Gewalt definiert wird, sind einzelne, viele oder fast alle Menschen davon betroffen. Daher sind Abhandlungen über Gewalt, die es seit Jahrhunderten gibt, sinnvolle und notwendige Beiträge etwa zur Soziologie, Psychologie und Anthropologie.
Ein erstes Problem besteht in der terminologischen Abgrenzung. Gewalt ist und wird assoziiert mit Macht, Aggression, Autorität, Sadismus, Durchsetzungsfähigkeit, Kampf, Stärke, Überlegenheit, Hierarchien, Zwang etc. Welche Überlappungen gibt es zwischen diesen Begriffen, wo bestehen Unterschiede und inwiefern handelt es sich regelrecht um Gegensätze?
Des Weiteren gibt es zumindest begrifflich körperliche, seelische, persönliche, institutionalisierte, staatliche, strukturelle und symbolische Gewalt – wobei sich die Experten streiten, inwiefern es klug ist, diverse und zum Teil sehr divergente Phänomene wie körperliche Attacken und symbolisch vermittelte Unterwerfung beide Male mit dem Terminus Gewalt zu belegen.
Ein wieder anderes Einteilungsschema verwendete Jan Philipp Reemtsma in seinem 2008 erschienenen Buch Vertrauen und Gewalt. Bei seiner Unterscheidung sind die Effekte der Gewalt maßgeblich für deren Diskriminierung: Die lozierende Gewalt intendiert, ein Du respektive dessen Körper zu entfernen, weil dieser den eigenen Interessen im Wege steht (Mord, Krieg); die raptive Gewalt bemächtigt sich des anderen Körpers zu eigenen Zwecken (erzwungene Prostitution, Vergewaltigung); die autotelische Gewalt findet Lustgewinn in sich selbst (Folter, Qualen).
Gewalt ereignet sich – vor allem, wenn nicht Einzelne, sondern die Vielen oder Massen gewalttätig werden – häufig innerhalb eines vorgegebenen ideologischen, institutionellen oder organisatorischen Rahmens. Zu den ideologischen Rahmenbedingungen zählen bevorzugt religiöse, fundamentalistische und/ oder totalitäre Weltanschauungen; in der Vergangenheit gehörten dazu etwa die christliche Religion (Kreuzzüge) sowie der Faschismus und der Bolschewismus.
Außerdem sind Organisationen wie Militär und Polizei prädestiniert, in gewalttätige Auseinandersetzungen entweder mit Militärangehörigen anderer Länder und Staaten (Kriege), in Partisanen- und Guerilla-Kriege oder in terroristische Scharmützel verwickelt zu werden. Ähnliche Rahmenbedingungen kennen staatliche Polizeieinheiten, die legalisierte Gewalt zum Beispiel gegen Verbrecher und Kriminelle, aber auch gegen Protestierende (Generalstreik) oder Revoltierende anwenden dürfen oder auf Befehl sollen.
Traurige Kapitel bedeuten auch die Themen familiäre und eheliche Gewalt. Hier vermuten die Experten zu Recht eine hohe Dunkelziffer, so dass von den bekannten Phänomenen (Deprivation etc.) nur auf das tatsächliche Ausmaß der Gewalt geschlossen und gemutmaßt werden kann. Auch die verschiedenen Spielarten der Gewalt gegen die eigene Person (Autodestruktion) sind in ihrem Umfang und in ihrer Häufigkeit nur schätzungsweise einzuordnen.
Obwohl das 2011 erschienene Buch Gewalt des amerikanischen Autors Steven Pinker anhand ausführlich recherchierter Statistiken zeigen kann, dass zumindest die kriegerische und die kriminelle Gewalt in den letzten Jahrzehnten einen Rückgang zu verzeichnen hat (gemessen an der Zahl der Toten), bleibt das oftmals fassungslos machende Faktum der zwischenmenschlichen Gewalt als eines der wesentlichsten Problem- und Themenstellungen für Wissenschaft, Philosophie, Anthropologie, Politik, Erziehung, Psychohygiene und öffentliches Leben weiter präsent.
Das von Christian Gudehus und Michaela Christ herausgegebene interdisziplinäre Handbuch stellt die eben aufgeführten und daneben noch viele weitere Gesichtspunkte zum Thema Gewalt ausführlich und verständlich dar. Allenfalls hätte man sich von den beiden an der Universität Flensburg tätigen Wissenschaftlern eine etwas umfänglichere Berücksichtigung tiefenpsychologischer Aspekte der Gewaltentstehung und -verhinderung gewünscht.