Fundamentalismus im Islam
Autor*in: | Bassam Tibi |
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Verlag: | Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000, 235 Seiten |
Rezensent*in: | Matthias Voigt |
Datum: | 10.07.2024 |
Jüngst beglückwünschte im Kulturteil der Welt der Historiker Michael Wolffsohn seinen Freund Bassam Tibi zum 80. Geburtstag. Zusammen mit den grausamen Ereignissen am 7. Oktober letzten Jahres war dies Anlass genug, das Buch Fundamentalismus im Islam (2000) erneut zu lesen. Obwohl der Text vor nun beinahe 25 Jahren erschienen ist, lohnt seine Lektüre heute mindestens so sehr wie vor einem Vierteljahrhundert.
Tibi wie auch sein Gratulant sind im Nahen Osten geboren und verfügen über Lokalkenntnis; beide verbindet eine kritische Liebe zur verlassenen Heimat. In seiner Geburtsstadt Damaskus gehörte Tibi einer alteingesessenen Familie an; Wolffsohn wurde in Israel geboren, von wo er mit seinen Eltern in den 50er-Jahren in die ursprüngliche Heimat Deutschland remigrierte. Tibis Wahlheimat ist das kleine Geismar bei Göttingen, der Universitäts-Stadt, in der er jahrelang als Soziologe und Begründer der Islamologie wirkte. Seine wissenschaftliche Reputation verschaffte ihm Rufe nach Harvard, Berkeley und Princeton. Dass er als Kind den Koran auswendig zu zitieren vermochte, um sich dann vom Licht der Aufklärung angezogen zu fühlen (er studierte unter anderem bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in Frankfurt am Main), ließ ihn nicht zum fanatischen Kämpfer gegen den früheren Glauben werden. Auch das eint ihn mit seinem jüdischen Freund.
Im Vorwort seines Buches über den Fundamentalismus im Islam verweist Tibi darauf, dass die religionssoziologischen Standardwerke von Martin Marthy und Scott Appelby (1991-1995) von der deutschen Konflikt- und Friedensforschung nicht ausreichend rezipiert worden seien. In den USA hingegen bildeten diese Texte die Grundlage einer im großen Stil betriebenen Islam-Forschung, an der Tibi maßgeblich beteiligt war. Auch das Buch des US-Soziologen Samuel Huntington The Clash of Civilizations (1996) wurde von Tibi wertgeschätzt, da darin das Konfliktpotenzial zwischen der westlich/christlichen und der islamischen Zivilisation ohne eindimensionale Schuldzuteilung beschrieben werde. Wie richtig Huntingtons Erwägungen in mancher Hinsicht waren, zeigte sich nicht nur 2001 beim schrecklichen Anschlag auf die Twin Towers in New York, sondern auch in seiner Kritik an der Reaktion darauf: Der Einmarsch in den Irak werde die Sache des Fundamentalismus vorantreiben.
In dieser nordamerikanischen historisch-soziologischen Forschungstradition steht Bassam Tibis Buch Fundamentalismus im Islam. Hier einige Gedanken und Thesen daraus: Der „Clash of Cultures“ hat Tibi zufolge eine innere religionssoziologisch bestimmbare Dimension sowie eine global-geopolitische. Wie das Christentum auch, ist der Islam kein einheitliches Gebilde, sondern umfasst verschiedenartige Strömungen. Die daraus resultierenden Konflikte besitzen eine Eigendynamik und dürften nicht reduziert werden als bloße Folge des westlichen Hegemonie-Streben aus kolonialen Zeiten; virulent geworden seien diese Probleme zuerst in den islamischen Ländern selbst.
Dort nämlich seien alle Versuche der Herausbildung säkularer Staatswesen nach westlichem Vorbild misslungen. Das wohl bedeutendste Beispiel ist die moderne Türkei. Sie ging 1920 aus den Resten des nach dem Ersten Weltkrieg untergegangenen Osmanischen Reiches hervor. Sein Sultanat war ein imperialistisches Erfolgsmodell, das über beinahe 600 Jahre expandierte. 1529 schloss das osmanische Heer sogar die Stadt Wien ein; doch zuletzt triumphierte die westliche Zivilisation. In den Fußstapfen eines Süleyman des Prächtigen versucht sich aktuell der türkische Staatspräsident zum Führer der islamischen Welt zu machen.
Im Sechstagekrieg von 1967 wurden Jordanien, Ägypten und Syrien – allesamt säkulare Staatswesen nach westlichem Vorbild – vom israelischen Militär geschlagen. Diese unerwartete Niederlage lastete man einer „Verwestlichung“ an, dem Verrat am wahren Glauben. Diese Stoßrichtung des islamischen Fundamentalismus wurde hier erstmals sichtbar. Es sei eben nicht das iranische Modell eines Gottes-Staates gewesen, das den Fundamentalismus vorangebracht habe; denn der dort seit 1979 herrschenden schiitischen Minderheit verweigern die mehrheitlich sunnitischen Moslems (90% des weltweiten Islam) den Führungsanspruch.
Tibi betont, dass der Islamismus keineswegs als religiös motivierte Bewegung aufgefasst werden darf; er sei ein Instrument des politischen Aktivismus. Auch sei er nicht pauschal gegen den Westen gerichtet. Man habe nur dessen gesellschaftlicher Struktur den Kampf angesagt, wolle aber an seinem technischen Erfolg teilhaben. Die säkularen Staaten des Nahen Ostens seien daran gescheitert, weil ihre Verwestlichung nie über eine intellektuelle Schicht in den Metropolen hinausging. Es gelang nicht, deren strukturelle Voraussetzungen so zu verändern, dass auch die ländliche Bevölkerung von dieser Transformation hätte ergriffen werden können. Bis heute bildete sich in der Türkei bei aller Modernisierung keine Mittelschicht heraus; selbst Erdogans Erfolge sprechen nicht für die Realisierbarkeit eines kapitalistischen Wirtschaftsmodells mit islamischem Gesicht. Am Ende blieb ihm nur das Rezept aller Demagogen: Man macht äußere Feinde für das eigene Versagen verantwortlich.
Den Islamismus bezeichnet Tibi deshalb als ein letztlich defensives Gesellschafts-Modell. Es spricht dem Menschen die Möglichkeit ab, sein eigenes Schicksal aus selbsterworbener Kenntnis zu gestalten. Tibi spricht daher von einer „halben Moderne“ im Fundamentalismus; keineswegs handle es sich um eine traditionalistische Bewegung. Man brauche die beruhigende Gewissheit der Offenbarung und ängstige sich vor Reflexivität und Problemorientierung. Man wolle sich die erfolgreichen Instrumente des Westens aneignen, ohne die Zweifel und Unsicherheiten der Rationalität auf sich zu nehmen. Insofern sei dieser Fundamentalismus ein Kampf gegen Werte und Normen der Neuzeit. Tibis Fazit: „Diese Einstellung läuft auf einen Krieg der Zivilisationen im Sinne eines Krieges der Weltanschauungen hinaus.“
Tibis Forschungshaltung steht in der Tradition der Aufklärung. Eine „von der menschlichen Vernunft geleitete internationale kulturübergreifende Moralität“ ist sein Gegenmittel zu fundamentalistischen Ideologien. Und mit dem von ihm geprägten Begriff einer „europäischen Leitkultur“ versucht er uns daran zu erinnern, in welches kulturelle Erbe wir hineingeboren wurden. Damit stellt er das Problem menschlicher Wertorientierung ins Zentrum. Als Tiefenpsychologe in der Tradition Alfred Adlers frage ich mich allerdings, wo diese Moral ihren Ort haben mag. Ist sie in Einsicht fundiert? Jedem einsichtig ist die Idee einer universellen Moral, ebenso einsichtig wie Kants Kategorischer Imperativ. Doch etwas einzusehen ist noch lange nicht die Befähigung, auch nach dieser Überzeugung zu handeln.
Zum Schluss möchte ich mich der Würdigung Tibis durch seinen Freund Wolffsohn anschließen. Man hört darin die Solidarität zweier autonomer Denker heraus, deren hellsichtige Wahrnehmung das potentiell Bedrohliche erkennt. Abschließend heißt es jedoch, eine Kassandra habe man noch nie geliebt. Es ist in der Regel viel zu schwer, sich die eigene Furchtsamkeit einzugestehen, wenn uns deren Quelle unbekannt ist. Doch geteilte Furcht ist vielleicht der Anfang eines echten Dialoges und nicht notwendig doppelte Furcht. Insofern hat mich das traurige Buch ermutigt. Dafür mein Dank an den Verfasser für seinen Mut!