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Wissenschaften

Elend und Emanzipation - Über die Politisierung des Leidens

Autor*in:Daniel Burghardt
Verlag:Psychosozialverlag, Gießen 2024, 145 Seiten
Rezensent*in:Gerald Mackenthun
Datum:13.01.2025

Längst sind die Zeiten vorbei, in denen Missernten und Kriegsgräuel, Krankheit und Tod dem Willen eines unbegreiflichen Gottes zugeschrieben und fatalistisch hingenommen wurden. Die Rationalität der Aufklärung ging davon aus, dass es für jedes Ereignis einen objektiven Grund gibt, und sei es der Zufall. Dieses Umdenken hat das Verhältnis der Menschen zu dem, was ihnen begegnet oder widerfährt, grundlegend verändert. Man versichert sich gegen das Unglück und verklagt die Schuldigen. Nichts wird mehr als gegeben hingenommen. Man sucht nach Verantwortlichen und Schuldigen, auch dort, wo keine zu erkennen sind, weil es immer wieder Zufälle und Ereignisse gibt, die sich der menschlichen Planung entziehen. Und doch wird dies immer weniger akzeptiert. 

Vom Staat wird eine aktive Rolle gefordert. Mit immer neuen Maßnahmen soll er Elend und Leid entgegenwirken. Kommt er dieser Aufgabe nicht ausreichend nach, wird sein Versagen lautstark angeprangert und Entschädigung gefordert. Der Opferstatus ist zu einer gesellschaftlich anerkannten Rolle geworden, was zu einer Konkurrenz unter den Opfern führt. Jeder will gesehen, versorgt und bezahlt werden. Mit anderen Worten: Die Verwaltung des Elends wurde zu einer allgemein beanspruchten politischen Aufgabe. Ebenso die Befreiung, die „Emanzipation“ von diesem Elend und Leid.

Der „Politisierung des Leidens“ widmet sich der schmale Band Elend und Emanzipation von Daniel Burghardt. Der Autor ist Professor für Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten soziale Ungleichheit und politische Bildung an der Universität Innsbruck. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kritische Theorie, Bildungsphilosophie, Psychoanalytische Pädagogik und Rassismusforschung.

In fünf Kapiteln werden Gestalten und Formen des Leidens dargestellt, um die Frage nach der Abschaffung von Übel, Unglück und Elend vorzubereiten. Können Bürger und Staat mehr tun, als materielle Entbehrungen auszugleichen? Das Buch entfaltet seinen Gegenstand jeweils am konkreten materiellen und seelischen Elend, um es entsprechend in einen größeren Leidenszusammenhang einzubetten. Burghardts Grundannahme ist, dass „Elend“ immer auch in Herrschaftsverhältnisse eingebettet ist. Von diesen kann sich der Mensch prinzipiell emanzipieren. Wobei Herrschaftsverhältnisse immer als Fremdbestimmung angesehen werden, die beseitigt oder zumindest gemildert werden können. Die Demokratiebewegung des Bürgertums und die Arbeiterbewegung scheinen ihm Recht zu geben.

Das erste Kapitel beschäftigt sich mit dem Erdbeben von Lissabon 1755, das den Gottesglauben zutiefst erschütterte. Das zweite Kapitel geht von Friedrich Engels' Studie über das Elend der Arbeiterklasse in England aus. Anhand des Briefwechsels zwischen Sigmund Freud und Albert Einstein wird im dritten Kapitel ein Zusammenhang zwischen dem psychischen Elend „in der Kultur“ und der Entstehung des „autoritären Charakters“ (Adorno/Horkheimer) hergestellt. Das 4. Kapitel ist überschrieben mit „Das Elend der Herkunft“. „Herkunft“ bezieht sich auf Milieu- und Schichtunterschiede und herkunftsbedingte Bildungschancen. Das fünfte Kapitel beschreibt die „Auslagerung des Elends an die Außenposten des globalen Kapitalismus“. Der westliche Mensch sorgt sich nun auch um das Elend der Menschen in einer globalen Dimension. 

Das Buch schließt im Nachwort mit einer Analyse der Versuche einiger westlicher Intellektueller und pro-arabischer Aktivisten, das Leid des 7. Oktober 2023 - den Überfall der Hamas auf Israel - zu relativieren und zu leugnen. Insbesondere Judith Butler zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden der Juden aus. Ob sich Israel von den arabischen Terrorgruppen „emanzipieren“ kann, bleibt offen.

Das Buch will keine Handlungsanweisungen oder -empfehlungen geben. Diskutiert werden vielmehr historische Entwicklungen innerhalb der Opferbewegungen und die unzulänglichen Versuche der Emanzipation von Leid, Elend, Übel und Unglück. Ist die „Abschaffung des Leidens“ überhaupt eine realistische Perspektive? Vielleicht mit einer „grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Zustände“, die Burghardt andeutet, ohne konkret zu werden? Als Vertreter der Kritischen Theorie und damit des Marxismus neigt er dazu, alle Ursachen des Elends im „Kapitalismus“, einer sehr unbestimmten Größe, zu sehen. Damit verbunden ist der Glaube, „der Staat“ könne alles richten, wenn er nur wolle. Die Verantwortung des Einzelnen für das Elend wie für seine Überwindung tritt in den Hintergrund.

Unabhängig von diesen diskussionswürdigen Auffassungen fächert Burghardt klug und kenntnisreich die Verschiebungen in der Leiddebatte und die Reaktionen darauf auf. Der Leser erhält wertvolle Anregungen, über die verschiedenen Quellen des Leidens nachzudenken, die sich im Laufe der Jahrhunderte verändert und neu interpretiert haben. Am fruchtbarsten sind die Überlegungen Sigmund Freuds in seinem Werk Das Unbehagen in der Kultur (1930). Darin benennt er drei Ursachen des Leidens: Die Grausamkeit der Natur, die Unzulänglichkeit der Staatsverfassung und das „allgemeine Elend“ von Krankheit, Tod, Verlust und Versagen. Nicht in allen Fällen wird „der Staat“ helfend eingreifen können.