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Wissenschaften

Die soziale Eroberung der Erde. Eine biologische Geschichte des Menschen

Autor*in:Edward Osborne Wilson
Verlag:C.H. Beck, München 2013, 384 Seiten
Rezensent*in:Gerald Mackenthun
Datum:26.09.2024

Hätten Außerirdische vor drei Millionen Jahren die Erde besucht, wären sie von den Honigbienen, den hügelbauenden Termiten und den Blattschneiderameisen beeindruckt gewesen. Sie bildeten großartige Superorganismen und waren die mit Abstand komplexesten Sozialsysteme der Erde. Die wenigen zweibeinigen Primaten wären ihnen wahrscheinlich entgangen. Würden dieselben Außerirdischen heute die Erde besuchen, wären sie von der Entwicklung überrascht. Der Mensch ist zur weltweit dominierenden Spezies geworden und hat Sozialsysteme entwickelt, die ungleich komplexer sind als die von Bienen, Ameisen und Termiten. Wie konnte es dazu kommen?

Diese Frage beantwortet der britische Biologe Edward Osborne Wilson, weltweit bekannt als Spezialist für Ameisen und Termiten, in seinem Buch Die soziale Eroberung der Erde. Es gibt eine echte „Schöpfungsgeschichte“ der Menschheit, und sie ist kein Mythos. Sie wird vor allem von der Biologie allmählich herausgearbeitet und verifiziert. Sie stellt drei Fragen: Warum gibt es höher entwickeltes soziales Leben (Eusozialität genannt), warum ist es in der Geschichte des Lebens so selten, und was waren die Triebkräfte, die es hervorbrachten?

Der frühe afrikanische Homo sapiens und auch die europäische Schwesternart Homo neanderthalensis sowie der gemeinsame Vorfahre Homo erectus konnten sich nur an Land entwickeln, mit Individuen, die auf zwei Beinen gingen und Greifhände mit Fingern für ausgefeilte Handlungen hatten. Sie entzündeten und beherrschten das Feuer. Eine der wichtigsten Entwicklungsschritte war die Erfindung der Landwirtschaft. Seitdem stand ungleich mehr Nahrung zur Verfügung, und damit stieg die Bevölkerungsdichte deutlich an.

Die Evolution beruht einerseits auf der Selektion des relativen Erfolgs von Individuen innerhalb einer Gruppe, und andererseits auf dem relativen Erfolg einer Gruppe gegenüber einer anderen. Als Strategie dient beim Menschen eine komplizierte Mischung aus Altruismus, Kooperation, Konkurrenz, Dominanz, Reziprozität, Abtrünnigkeit und Betrug (S. 28). Die Natur des Menschen schwankt zwischen Egoismus und Selbstlosigkeit, zwei Impulsen, die oft in Konkurrenz miteinander stehen. Gruppenmitglieder konkurrieren miteinander um einen Status, der ihnen einen größeren Futteranteil sichert, um den Zugang zu einem möglichen Geschlechtspartner und um einen bequemen Schlafplatz. All diese Faktoren verleihen denen einen Vorteil, die die Absichten der anderen erkennen, sich besser vertrauen und Zusammenhalt verschaffen und mit Rivalen gut umgehen können. Soziale Intelligenz befähigt zur Kooperation und ebenso dazu, zu manipulieren und zu betrügen (S. 59).

Die Menschheit ist einzigartig, und es wird zu etwas Vergleichbarem kein zweites Mal kommen, betont Wilson. Und warum hat es so lange gedauert? Der Grund liege in der extrem niedrigen Wahrscheinlichkeit, dass die nötigen Vorstufen überhaupt auftreten: Landgang luftatmender Wassertiere, aufrechter Gang, Greifhände, Feuerbeherrschung, Fleischkonsum, Bau befestigter Nester, Landwirtschaft, Arbeitsteilung und Dominanzhierarchie. Jeder dieser Entwicklungsschritte war für sich eine unwahrscheinliche Einmaligkeit. Jeder neue Adaptionsschritt konnte nur auf einer davorliegenden Adaption stattfinden.

Die evolutionäre Selektion wirkt auf zwei Ebenen: dem Individuum und der Gruppe. Gruppen tendieren unvermeidlich zur Konkurrenz und gegenseitigen Abgrenzung. Zwischen Individuen besteht eine unvermeidliche, ständige Auseinandersetzung zwischen einerseits Ehre, Tugend und Pflicht, andererseits Egoismus, Feigheit und Heuchelei. Ersteres ist Produkt der Gruppenselektion, letzteres Produkt der individuellen Selektion. Die Perfektion der Fähigkeit, schnell und zutreffend die Absichten der anderen zu erkennen, war und ist in der Evolution des menschlichen Sozialverhaltens von überragender Bedeutung.

„Kurz gesagt, die Natur des Menschen ist ein endemisches Getümmel, das in den Evolutionsprozessen wurzelt, aus denen wir hervorgegangen sind. In unserer Natur existiert das Schlimmste neben dem Besten, und das wird immer so bleiben.“ (S. 74) Nach Wilson ist Konkurrenz bis hin zum Krieg ein „angeborenes Übel der Menschheit“. Es ist zu eng gedacht, die menschliche Handlungsweise ausschließlich unter dem Aspekt der Sozialität und der Verbundenheit zu betrachten. Ebenso ausgeprägt ist das Konkurrenzverhalten und die Aggressivität.

Vor 10.000 Jahren, mit der Erfindung der Landwirtschaft, der Entstehung von festen Siedlungen und zunehmenden Nahrungsvorräten, beschleunigte sich die kulturelle Evolution erheblich. Revolutionäre Neuerungen waren die Schrift und die astronomische Navigation. Die Werkzeugherstellung verbesserte sich. Es wurde die Töpferkunst und das Weben erfunden. Bäume und andere Pflanzen wurden kultiviert und Tiere domestiziert.

Kultur ist die spezifische Ausformung biologischer Grundbedürfnisse in einer Gruppe. Kulturelle Merkmale werden erfunden und zwischen den Gruppenmitgliedern weitervermittelt. Dieser Begriff der Kultur lässt sich auf Tier und Mensch gleichermaßen anwenden, um damit die Kontinuität zwischen beiden zu unterstreichen, ungeachtet der ungleich größeren Komplexität im menschlichen Verhalten. Die fortgeschrittenste bekannte Kultur bei Tieren sind die von Schimpansen und Bonobos. Ihre Fähigkeiten bleiben begrenzt auf die eines Kleinkindes. Sie können keine Steinspitzen an Speeren befestigen, eine Technik, die vor etwa 200.000 Jahren aufkam, sowohl bei den europäischen Neandertalern als auch beim frühen afrikanischen Homo sapiens. Aber bei den Neandertalern gab es keinen Fortschritt, keine Tüftelei bei der Werkzeugherstellung, keine Kunst, keinen persönlichen Schmuck. Beim Homo sapiens finden wir elegante Höhlenmalerei, Bildhauerei, Knochenflöten und Schneidewerkzeuge.

Durch Kooperation über Kommunikation und das Ablesen von Intentionen können einzelne Gruppen sehr viel mehr erreichen als ein Einzelner bei allen seinen Anstrengungen. Das war nach Wilson der Anstoß zur Bildung eines verzweigteren Gehirns. Die soziale Intelligenz besteht aber nicht nur darin, gemeinsame Ziele zu erreichen, sondern auch, die Dominanzversuche anderer zu behindern. Auch das ist gemeinschaftliches Handeln. Hinzu kam die Sprache als Symbol. Sie kann eine unbegrenzte Zahl von Botschaften generieren.

Wilsons Buch ist eine faszinierende und zugleich gut verständliche Exkursion durch die Frühgeschichte der Menschheit. Zum Schluss fragt er: „Ist der Mensch von Natur aus gut, wird aber von der Macht des Bösen verdorben? Oder ist er vielmehr von Natur aus verschlagen und nur durch die Macht des Guten zu retten? Beides trifft zu – und wenn wir nicht unsere Gene verändern, wird es auch immer dabei bleiben. Denn das menschliche Dilemma wurde in unserer Evolution festgelegt und ist mithin ein unveränderlicher Teil der menschlichen Natur. Der Mensch und seine sozialen Ordnungen sind von Grund aus unvollkommen – zum Glück. In einer beständig im Wandel befindlichen Welt brauchen wir die Flexibilität, die nur aus der Unvollkommenheit erwachsen kann.“ (S. 289) Man sollte sich bewusst sein, dass jeder einzelne Mensch von heute die Vorgeschichte des Homo sapiens in sich trägt, einschließlich seiner zwiespältigen Rolle in der Kultur.