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Wissenschaften

Das verflixte Selbst. Menschliche Eigenwilligkeit und künstliche Intelligenz

Autor*in:Heiko Reisch
Verlag:Springer Nature / J.B. Metzler, Wiesbaden 2023, 215 Seiten
Rezensent*in:Gerald Mackenthun
Datum:07.04.2024

Künstliche Intelligenz (KI) ist die maschinelle Herstellung menschlicher Intelligenz. Um wirklich „intelligent“ zu sein, bräuchte diese KI irgendeine Form von Bewusstsein, ein Selbst. Doch die bloße Nachbildung eines humanen neuronalen Netzwerkes in einer Maschine hätte eine ungeheuer große Rechenleistung, wäre aber nicht intelligent. Welches Selbst soll diese Maschine bekommen, wo doch schon der Mensch die Frage nach seinem Selbst, seiner Individualität, seinen Bedürfnissen und Wünschen nicht konsistent beantworten kann? Wie neurotisch ist diese KI und wird sie einer Psychotherapie zugänglich sein?

Eine bewundernswerte Rechenleistung zu haben, ist nicht deckungsgleich mit der Eigenschaft, eine Person zu sein und sich als ein Selbst zu fühlen. KI wird an den Aufgaben Selbstbewusstsein, Autonomie und Moral scheitern, ist sich der Kommunikationsberater und Philosoph Heiko Reisch gewiss. „Künstliche Intelligenz“ ist so gesehen ein Oxymoron, ein hölzernes Eisen. Künstliche Intelligenz könne niemals intelligent sein in einem philosophischen oder psychologischen Sinne. Dazu ist das menschliche Selbst zu unbestimmt und zu fragil. 

In seinem Buch Das verflixte Selbst dekliniert Reisch die fundamentalen Unterschiede von Rechenmaschinen und dem menschlichen Geist durch. Es sei einfach unmöglich, einer KI-Maschine ein Verständnis dafür zu programmieren, was sie tut. Eine KI, die ihren Namen verdient, müsste über Denkfähigkeit, Erkenntnisvermögen und Bewusstsein verfügen. Soll sie auch ein soziales Geschlecht bekommen? Selbst wenn eine KI es schafft, das Gehirn vollständig zu reproduzieren, fehlt ihr der unmittelbar dazugehörige Körper. Sie kann nicht lachen und nicht in Tränen ausbrechen.

Das titelgebende „verflixte Selbst“ bedeutet: menschliches Denken ist nicht durch geradlinige Schlüsse und unwiderlegbare Beweise gekennzeichnet, sondern durch Unschärfe, absurde Umwege, chaotische Gedankengängen und produktive Pausen. Ein Mensch ist kein Datenspeicher, er vergisst und verlernt sehr viel, und er ist dennoch in der Lage, kreativ sein Leben zu meistern. Wird die KI auf innere Zustände reagieren können wie Träume, Gedankenexperimente, Fehlschlüsse, Schamgefühle und Gewissensbisse? Wird es eine KI geben, die sich mit den Menschen auf eine allgemeingültige Moral einigen könnte? 

Der Autor ist skeptisch bis ablehnend gegenüber KI eingestellt. Sie verspreche mehr Freiheit, tatsächlich aber soll mit ihr Daten gesammelt werden, um den Menschen zu regulieren. Nach einem überraschenden Exkurs über die Weiterentwicklung des ökonomischen und politischen Liberalismus bis in die Jetztzeit kehrt der Autor erst im allerletzten Unterkapitel zur KI zurück, die er verkürzt unter den beiden Aspekten der Steuerung von menschlichem Verhalten und dem Geldverdienst großer Konzerne betrachtet.

Reischs philosophisch-psychologischer Zugang ist jedoch nicht in der Lage, die der KI zugrundeliegenden physikalischen, biologischen oder informationstheoretischen Prozesse einzuordnen. Durch Philosophie allein wird man nicht in der Lage sein, die „Black Box“ der maschinellen Algorithmen zu öffnen. Die Philosophie kann wertvolle Einsichten in theoretische Konzepte und ethische Fragen liefern, muss aber durch Erkenntnisse der Neurobiologie und der Computertechnik ergänzt werden, um zu einem realistischen Verständnis der in der Tat fesselnden KI-Entwicklung zu gelangen.