Das Schloss der Schriftsteller – Nürnberg 46 – Treffen am Abgrund
Autor*in: | Uwe Neumahr |
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Verlag: | C.H. Beck, München 2023, 304 Seiten |
Rezensent*in: | Matthias Voigt |
Datum: | 26.03.2023 |
Vor einigen Tagen drückte mir ein Freund dieses Buch in die Hand mit dem Hinweis, er habe schon lange nichts mehr so Relevant-Spannendes gelesen. Von dessen Autor, Uwe Neumahr, wusste ich bloß, dass er der Verfasser einer Lebensbeschreibung des Renaissance-Herrschers Cesare Borgia ist. Mit dem Thema der Nürnberger Prozesse hatte ich mich nie näher beschäftigt. Die Aufmachung des Buches – gebunden und sogar mit einem richtigen Zeichenbändchen – gefiel mir. Nach der Lektüre der ersten 35 Seiten musste dieses Lesezeichen für zwei oder drei Tage an derselben Stelle verharren. Berichtet wurde im ersten Kapitel von der Situation der US-Alliierten und ihrem Versuch, erstmals in der neueren Geschichte über die Verantwortlichen eines Angriffskrieges zu Gericht zu sitzen. Der heutige Haager Gerichtshof, der gerade Putin als Stalins geistigem Nachfolger den Haftbefehl zuerkannte, ist der institutionalisierte Nachkomme der Nürnberger Prozesse. In Nürnberg nun, so wollten es die West-Alliierten, sollte im Sinne heutiger Rechtsstaatlichkeit – ein Völkerstrafrecht existierte noch nicht – jedem der 23 Angeklagten wegen ihrer NS-Kriegsverbrechen ein Urteil gesprochen werden.
Die Bedingungen, unter denen die Sache ihren Lauf nahm, grenzten ans Absurde. Auf der Seite der Deutschen herrschte unvorstellbare materielle Not, auf der amerikanischen, in deren Sektor die Prozesslogistik bewerkstelligt werden musste, trafen die Besatzer auf eine gedemütigte Bevölkerung, die noch nicht wagen konnte in den Abgrund zu blicken. Für sie ging es um alles andere, nur nicht um das Erleben einer Befreiung vom Nazi-Joch. Und selbst die West-Alliierten waren uneins über ihr Vorhaben. Sollte man dieses Deutschland in ein Agrarland verwandeln, damit nie wieder Unheil von ihm ausgehen konnte, oder brauchten die Deutschen eine Kollektiv-Therapie? Solche schwerwiegenden Debatten mussten bald zurücktreten, denn zunehmend wurde das Vorherrschafts-Streben der Sowjetunion unübersehbar. Für Stalin war es nur noch eine Frage der Zeit, dass halb Europa dem Sowjet-Imperium eingegliedert wäre. Die Nürnberger Prozesse begannen Ende 1945 und dauerten ein knappes Jahr. Die ursprünglich geplante Fortsetzung fiel schließlich dem beginnenden Kalten Krieg zum Opfer. Am 5. März 1946 hielt Churchill seine berühmte Rede, mit der er die West-Alliierten dazu aufrief, angesichts ihrer Sehnsucht nach Frieden nicht noch einmal in die Falle der Appeasement-Politik einem Aggressor gegenüber zu tappen. So viel zum historischen Rahmen vorab.
Nun zum Buch selbst. In Uwe Neumars Buch erfahren wir durch Augenzeugen vom Geschehen rund um die Nürnberger Prozesse. Vertreten war zum einen die Creme de la Creme des damaligen modernen Journalismus und zum anderen im engeren Sinne literarische Köpfe und Schriftsteller des Auslands bzw. Deutsche, die Distanz zum Dritten Reich hatten wahren können. Ins Auge fallen bei der Lektüre die unterschiedlichen Reaktionen auf das Geschehen und die Art, wie die freien Schriftsteller und wie die Presseleute die unfassbaren Verbrechen kommentierten, von denen sie während der Prozesstage Kenntnis nehmen mussten. Einige von ihnen verstanden dies als eine historische Mission, andere als lästige Pflicht oder aber auch als unerträgliche Last. Untergebracht waren sie in einem Pressecamp, das es solcherart nur in Alteuropa gab: Das Faber-Castell’sche Schlösschen hatte sich einst der adlige Bleistiftmagnat als überaus repräsentativen Wohnsitz von einem der damaligen Star-Architekten errichten lassen. Jetzt war es eines der wenigen Gebäude, die noch unzerstört aus der Trümmerwüste ragten, den die Bombenhagel hinterlassen hatten, und so auf gespenstische Weise vom ehemaligen Vorkriegsdeutschland zeugten. Für den riesigen Journalisten-Trupp bot jedoch selbst dieses weitdimensionierte Schloss als Lebensraum für Monate nur sehr beengte Verhältnisse.
Für die Mehrzahl der Presseleute zog sich der Prozess ermüdend lange hin. Nur selten unterbrachen besondere Ereignisse, wie das Kreuzverhör Hermann Görings, die Routine. Der US-amerikanische Richter Robert Jackson hatte es sich nicht nehmen lassen, als Hauptanklagevertreter die Entlarvung der Zentralfigur des Bösen zu bewerkstelligen. Dabei verlor er mehrfach die Fassung und verschaffte dem Feldmarschall so sehr rhetorische Überlegenheitsmomente, dass diesem die heimliche oder gar offene Bewunderung mancher Beobachter zufloss. Einen anderen makabren Höhepunkt bildete die Vernehmung eines SS-Einsatz-Gruppenführers. Wissend um die Unvermeidbarkeit des Todesurteils gegen ihn korrigierte er in sachlicher Präzision die von den Zeugen genannten Zahlenangaben über die Größe der jeweilige Zielgruppe, die es für ihn zu liquidieren galt, nach oben. Aufgrund der immer wieder spürbaren „Banalität des Bösen“ und verstärkt vom Eindruck der Gerichtsroutine drängte es die beteiligten Journalisten und Schriftsteller (unter ihnen zeitweise auch Alexander Mitscherlich und Willy Brandt) immer wieder zu Ablenkungen und zu vorübergehendem Vergessen-Dürfen. Auch der Nürnberger Prozess tanzte, nur bedeutend weniger formvollendet als zu Zeiten der Fürstenversammlung in Wien 1815.
Wer als freier Schriftsteller in Nürnberg Zeuge der Prozesse wurde, sah sich meist als Einzelner dem Geschehen ausgesetzt. Die Journalisten konnten sich eher in der Gemeinschaft ihrer Berufskollegen an die unheimliche Atmosphäre der gigantischen, nihilistischen Inhumanität als Inhalt der Prozesstage gewöhnen. Der überall abwesend-anwesende Hintergrund einer gespenstischen Trümmerlandschaft, in der die überlebenden Deutschen in Schuttbergen mehr vegetierten als lebten, und die kafkaeske Sachlichkeit der Untersuchung konfrontierte sie mit den Abgründen des Menschseins. Wer konnte, entzog sich dem Unerträglichen durch baldige Abreise. John Dos Passos, Erich Kästner, Alfred Döblin strebten umgehend ins Freie; Erika Mann hingegen hielt der Hass auf diese Nazi-Deutschen länger bei der Stange. Ihre zuweilen irritierend entwertenden Kommentare, die Anleihen bei einem Nazi-Biologismus mit umgekehrtem Vorzeichen nahmen, indem sie germanische Atavismen entdecken wollte, darf man wohl als Reaktion auf die alles Menschenmaß übersteigende Konfrontation mit dem beklemmend-verheerenden Ungeheuren interpretieren. Die Fragen und Probleme, die damals in Nürnberg im Land des besiegten Aggressors spürbar aufgeworfen wurden, waren viel zu komplex, als dass sie seinerzeit schon zu tiefgründigeren Antworten geführt hätten. Auch die Sieger waren gefangen in so manchen Denk- und Reaktionszwängen, die ihnen von der bodenlosen und unfassbaren Hemmungslosigkeit des ehemaligen Gegners quasi auferlegt worden waren.
Als Leser des Buches beeindruckte mich, wie durch das Arrangement der Darstellungsmittel die eindeutigen Rollenzuweisungen von „Täter und Opfer“ verschwimmen bzw. zum Problem werden. Bei aller Sachlichkeit der Darbietung werden in diesem Buch die menschlich-allzumenschlichen Begebenheiten zwischen den Beteiligten nicht ausgeblendet. Überfordert von der vorgefundenen Situation scheint mancher der Versuchung erlegen zu sein, sich wenigstens noch an den eigenen Überzeugungen festzuhalten – ganz gleichgültig, ob als Vertreter einer Kollektivschuld-Vorstellung oder als Anhänger der Verführungsthese. Der Verfasser dieses lesenswerten Buches nutzt jedenfalls die historische Distanz eines dreiviertel Jahrhunderts, die uns eine Souveränität der Betrachtung einräumt, und die den Beteiligten damals nicht gegeben war. In der Rolle von sehr direkten Beobachtern waren sie der emotionalen Belastung und der seelischen Überforderung ausgesetzt, die unter anderem darin bestand, das sich wie in einem Alptraum Zeigende adäquat in Worte fassen zu wollen und zu sollen – ihr Job als Reporter und Schriftsteller verlangte schließlich von ihnen, dass sie „lieferten“. Uwe Neumar kommentiert alle diese Vorkommnisse und Begebenheiten sehr feinfühlig und nicht einfach aus der Warte der heutigen historischen und weltanschaulichen Überlegenheit heraus. So gelingt es ihm, dass wir als Leser selbst eigentümliche Reaktionen der damaligen Prozess-Berichterstatter nachvollziehen können.
Bei mir bleibt nach der Lektüre dieses Buches eine gewisse Ratlosigkeit zurück, die nicht dem Verfasser gilt. Wer sich (wie ich) mit dem Lesen dieses Textes für einige Stunden in die Zeiten von Totalitarismus und Faschismus, von Krieg und Holocaust zurückversetzt, wird unweigerlich mit politischen, soziologischen, massenpsychologischen, kriminologischen und anthropologischen Fragen konfrontiert, die nicht nur den seinerzeitigen barbarischen Ereignissen und Verhältnissen und Figuren gelten, sondern auch für unsere Gegenwart und Zukunft relevant sind. Aktuell wurde und wird etwa unsere Überzeugung, friedliche Gesinnungen und Dialogbereitschaft böten ein Heilmittel gegen aggressive machtpolitische Ambitionen, außerordentlich herb enttäuscht. Zugleich verfügen wir noch über zu wenige effektive Mittel und Strategien, dieser offenkundigen Verachtung alles Schwachen, Friedlichen, Nicht-Militaristischen energisch Einhalt zu gebieten. Was uns bisweilen bleibt, ist ein Gedanke von Karl Kraus von vor über einhundert Jahren: „Denn über alle Schmach des Krieges geht die der Menschen, von ihm nichts mehr wissen zu wollen, indem sie zwar ertragen, dass er ist, aber nicht, dass er war.“