49
Rezensionen
ITGG Berlin - Rezensionen
#7C9CA4
#C66A13

Wissenschaften

Abenteuer der Moderne - Die großen Jahre der Soziologie 1949-1969

Autor*in:Thomas Wagner
Verlag:Klett-Cotta, Stuttgart 2025, 330 Seiten
Rezensent*in:Matthias Voigt
Datum:23.05.2025

Der Kultursoziologe Thomas Wagner (geboren 1967) lässt sein Buch Abenteuer der Moderne - Die großen Jahre der Soziologie 1949-1969 mit einer Episode im ehemaligen Ostberlin des Jahres 1965 einsetzen. Der Philosoph Wolfgang Harich, Mitglied der Akademie der Wissenschaften in der DDR, und Manfred Weckwerth, Brechts Nachfolger am Berliner Ensemble, hören gemeinsam die Tonbandaufzeichnung eines Streitgesprächs über die Frage: „Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen?“

Im bundesrepublikanischen Südwestfunk konnte die Hörerschaft bei diesem Streitgespräch vernehmen, dass es zwischen dem damals bekannten rechtskonservativen Soziologen Arnold Gehlen und dem linksintellektuellen Soziologen Theodor W. Adorno mehr als nur eine gemeinsame Schnittstelle gab. Diese beiden waren sich weitgehend einig hinsichtlich der „tiefen Prämisse“, dass unsere Welt Institutionen hervorgebracht habe, von denen eine Eigendynamik ausgeht, der sich niemand entziehen kann. Was manche Linke allein dem Kapitalismus anlasteten, wurde von den zwei Philosophen in komplexere Zusammenhänge eingestellt.

Nicht nur hierüber gibt es in Wagners Buch vieles zu lernen. Wer verstehen möchte, mit welchen Problemen die eigenen Eltern bzw. Großeltern konfrontiert waren, als es um die Zukunftsfragen von „Ost- und Westzone“ ging, der erhält hier ebenso kompetente Aufklärung wie etwa über die Nachkriegsatmosphäre im beinahe völlig zerstörten Deutschland. In diese Trümmerlandschaft kehrte Adorno 1953 aus dem US-Exil in Kalifornien zurück. Ohne die deutsche Sprache wollte und konnte er nicht sein. In der Bundesrepublik trafen er und andere Rückkehrer auf manche Profiteure der Naziherrschaft. Ehemalige Kollegen wie Arnold Gehlen hatten im Dritten Reich die vakant gewordenen Stellen jüdischer und linker Professoren besetzt. Mit seinem anthropologischen Hauptwerk Der Mensch von 1940 hatte sich Gehlen im Nationalsozialismus einen Namen gemacht. Darin entfaltete er ein Menschenbild, von dem sein weiteres soziologisches Denken ausging.

Anders als viele Mitläufer des Nationalsozialismus stammte Arnold Gehlen aus gutem Hause, aus einer Familie, deren Angehörige in hohen zivilen und militärischen Positionen gewohnt waren, Verantwortung für die Sozietät zu tragen. Sein Cousin Reinhard wurde später in der Adenauer-Ära der erste Chef des Bundesnachrichtendienstes. Dass ein vormaliger Generalmajor der Nazis in der jungen Bonner Republik ein solches Amt erwerben konnte, disqualifizierte gewissermaßen bereits im Keim den Neuanfang. Die so unterschiedlichen Lebenswege Gehlens und Adornos waren dazu angetan, den Antifaschisten gegen den Altnazi auszuspielen. Thomas Wagners Anliegen aber ist es zu zeigen, was beider Interesse aneinander fundierte und motivierte. Auch er geht dabei als Soziologe vor, indem er das soziale Eingebunden-Sein der jeweiligen Standpunkte herausstellt.

Im Fokus steht dabei Gehlens Einschätzung der Rolle von Institutionen in der Geschichte. Sie dienen seiner Ansicht nach der Entlastung von einem Antriebsüberschuss, der unserer Art eigen sei. In ihm liege ein Zwang zur Aktivität. Wo dieser keinen Handlungsgegenstand vorfindet, verwandele er sich in Bereitschaft zu aggressiven Betätigungen. Mensch-Sein erfordert danach habituell gewordene Verfügungstechniken vom aufrechten Gang bis hin zur Partizipation an der Lenkung des Weltgeschehens. Dabei braucht es unterschiedliche Institutionen, die ein Minimum an Stabilität bieten, um die Defizite des „Mängelwesens Mensch“ zu kompensieren.

Gehlens Theorie ist origineller als die von mancher Seite an ihr allenthalben geübte Kritik. Danach sind Institutionen gleichbedeutend mit Instrumenten einer inhumanen Herrschaft des Menschen über den Menschen. Auch Gehlen weist eine solche den Institutionen immanente Tendenz nicht zurück. Als anthropologischer Denker jedoch stellt er sie in einen evolutionären Kontext: Die biologische Mängelausstattung des Menschenwesens erzwinge eine Lebensweise in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander. Das „nicht festgestellte Tier“ (Nietzsche) ist von seiner (biologischen) Eigenart her nur als Kulturwesen lebensfähig. In diesem Angewiesen-Sein auf den Mitmenschen, so die originelle Wendung der Gehlen’schen Interpretation des Theorems vom „Mängelwesen Mensch“, erwächst ihre soziale und geistige Bedeutung. Der Natur des Menschen ist es aufgegeben, ihre Welt und damit sich selbst zu gestalten („positive“ Freiheit). 

Worin die Frankfurter Schule seiner Theorie der Institutionen nicht folgen wollte, waren Gehlens Vorbehalte der Demokratie gegenüber, an denen er lebenslang hartnäckig und geradezu trotzig festhielt. Gehlen scheute nicht vor Begriffen wie Gehorsam und Pflicht zurück. Provokante moralische Äußerungen wie diejenige, dass ein „gutes Leben“ auch in der Erfüllung der uns von den Institutionen auferlegten Pflichten bestehen könne, weisen wir heute gern als autoritär ab. Offenbar klingt darin Gehlens Herkunft aus einer Familie an, deren Angehörige sich in Positionen höchster Verantwortung Gehör verschaffen konnten, was Thomas Wagner für den soziologischen Denker geltend macht.

Adornos Institut für Sozialforschung fiel unter das Institutionsverdikt der linken Theorie. Jahrelang hatte der Vordenker einer neo-marxistischen Gesellschaftstheorie seinen Studenten die intellektuelle Kraft der dialektischen Kritik demonstriert, indem er die Strukturen bloßlegte, in denen sich die „Unterwerfung des Menschen unter den Menschen“ vollzog. Die einsetzende Studentenbewegung kam in ihrem kollektiven Aktionismus gegen überkommene Institutionen mit weniger intellektuellem Aufwand zurecht, und Adornos furchtlose Kritik am Realkommunismus musste deren dogmatischen Glaubensbedürfnissen weichen. Adorno und dessen Assistent Jürgen Habermas mit seiner Theorie „gewaltloser Kommunikation“ wurden durch sit-ins, als Happening inszenierte Vorlesungsstörungen, der Lächerlichkeit preisgegeben – eine Kränkung, die zum relativ frühen Tod Adornos mit beigetragen haben mag.

Der Verfasser dieser Rezension bedankt sich beim Verfasser des vorliegenden Buches, dass er darin bestärkt wurde, den Institutionen, die über 74 Jahre seinen Lebensweg mehr als nur begleitet haben, seine Aufmerksamkeit zu widmen. Was uns oft unbemerkt gedient hat und weiter dient, verdient in vielen Fällen unseres Einsatzes für Erhalt und Weiterentwicklung. Wohin uns das Abenteuer der Moderne mit ihren Institutionen noch führen wird, liegt auch mit an unserem Engagement.