Subjektive Anatomie
Autor*in: | Angela von Arnim, Claas Lahmann & Rolf Johnen |
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Verlag: | Schattauer-Verlag, Stuttgart 2022, 314 Seiten |
Rezensent*in: | Gerhard Danzer |
Datum: | 23.05.2022 |
Als vor etwa drei Jahrzehnten (um genauer zu sein: 1994) die Erstauflage des Buches Subjektive Anatomie erschien, waren nicht wenige Leser und Interessenten ob dieses Titels irritiert. Gehörte und gehört nicht gerade die Anatomie zu jenen Bereichen und Disziplinen der Medizin und Biologie, die durch ein hohes Maß an Objektivität charakterisiert sind? Was, bitte schön, haben bei anatomischen Themen wie Muskelgruppen, Bindegewebe, Gefäß-Abzweigungen, Organgrenzen, Zell-Organellen so subjektive Phänomene wie persönliche Stimmungen, Empfindungen, Meinungen, Wünsche, Phantasien, Erinnerungen zu suchen? Und stellt man nicht völlig ohne Not die Wissenschaftlichkeit der Anatomie etwas zur Disposition, indem man sie mit den kaum berechenbaren Größen einer subjektiven Emotionalität in engen Kontakt bringt?
Bei allen solchen Zweifeln jedoch wurde die Erstauflage der Subjektiven Anatomie rasch ein Erfolg, was einerseits sicherlich am Inhalt, andererseits aber auch am Herausgeber-Team gelegen haben mag – unter anderem zwei Hochschulprofessoren mit untadeligem wissenschaftlichem Renommee (Thure von Uexküll sowie Hans Müller-Braunschweig) gehörten seinerzeit zu den Autoren und Herausgebern. Diese beiden wie auch das übrige Team standen nicht im Verdacht, die jahrhundertealte ehrwürdige makroskopische und mikroskopische Anatomie verunglimpfen zu wollen – vielmehr ging es ihnen um eine Ergänzung der naturwissenschaftlichen Anatomie um subjektive Erlebensaspekte des eigenen Körpers.
Unser Körper nämlich lässt sich als biomechanisches Allerlei beschreiben, an dem wir diverse Gliedmaßen, Gewebe, Organe, Hautanhangs-Gebilde bis hin zu den Zellverbänden oder molekularen Strukturen erkennen, erfassen und benennen – Helmuth Plessner bezeichnete dies als „Körper haben„. Zugleich empfinden und erleben wir uns als Körper – wir spüren uns, und wir „sind Leib“. Dieses Leib-Sein, dieses leibhaftige Erleben, Wahrnehmen und Empfinden des eigenen Körpers konstelliert unser Körper-Selbst, und dieses spiegelt durchaus nicht (nur) unsere Gewebe- und Organgrenzen wider (objektive Anatomie), sondern manifestiert sich als Leib-Inseln, Leib-Regionen, Leib-Gegenden, Leib-Verhältnissen (subjektive Anatomie) und bedeutet das organismische Fundament unserer Identität.
Vor allem in der Psychosomatik, letztlich aber in vielen oder allen Bereichen der Medizin und Psychologie dürften Ärzte, Pflegende, Psychologen, Psychotherapeuten und Spezialtherapeuten diese beiden Perspektiven (objektive und subjektive Anatomie und ausgehend davon auch objektive und subjektive Pathologie) bei ihren präventiven, diagnostischen und therapeutischen Aktivitäten kontinuierlich mitberücksichtigen. Die Subjektive Anatomie weist seit fast drei Jahrzehnten auf diese Aufgabe nachdrücklich hin, und es ist dem Schattauer-Verlag daher hoch anzurechnen, mit der neuen, dritten Auflage dieses Buches für jeden Interessierten wieder die Möglichkeit eröffnet zu haben, diesen diagnostisch-therapeutischen Imperativ im Hinblick auf seine Theorie nachzulesen und sich hinsichtlich seiner praktischen Umsetzung anregen zu lassen.