Warum Liebe wehtut - Eine soziologische Erklärung
Autor*in: | Eva Illouz |
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Verlag: | Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 470 Seiten |
Rezensent*in: | Ulrich Kümmel |
Datum: | 08.10.2023 |
Die Autorin Eva Illouz, geboren 1961 in Fes, Marokko, studierte Soziologie, Kommunikations- und Literaturwissenschaften in Paris sowie an den Universitäten Jerusalem und Pennsylvania. Sie ist Professorin für Soziologie und Anthropologie an der Hebräischen Universität Jerusalem. Ihre Forschungsthemen sind die Soziologie der Emotionen, der Konsumgesellschaft und der Medienkultur. Diese Schwerpunkte bilden auch die Grundlage von Warum Liebe wehtut. Vorangegangen ist eine Reihe von Büchern, in denen die wichtigsten Einzelaspekte bereits herausgearbeitet wurden: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus (2004), Der Konsum der Romantik (2007), Die neue Liebesordnung. Frauen, Männer und Shades of Grey (2015), Ware Gefühle: Authentizität im Konsumkapitalismus (2018), Das Glücksdiktat: Und wie es unser Leben beherrscht (zusammen mit Edgar Cabanas, 2019) und Was ist sexuelles Kapital? (2021).
Aus der soziologischen Perspektive sucht die Autorin die unterschiedlichen Ursachen von Liebes- und Beziehungsproblemen (sie spricht von Liebeselend), Normen und soziologischen Aspekten der romantischen Liebe im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert im Vergleich zur heutigen Zeit herauszuarbeiten. In der Einleitung betont sie, dass sie in diesem Buch die Frage, warum Liebe wehtut, aus der Sicht von Frauen bearbeitet. Illouz möchte mit Hilfe der Soziologie nachweisen, dass moderner Liebeskummer auf andere Quellen zurückzuführen ist als das Liebesleid in der viktorianischen Zeit.
Die Soziologie habe sich von ihren Anfängen an mit kollektiven Formen des Leids beschäftigt, so mit der Armut in verschiedenen Zeiten, der Ungleichheit der Bevölkerungsschichten, mit Diskriminierung und politischer Unerdrückung, mit den Folgen von Naturkatastrophen und Kriegen. Was die Soziologie nach ihrer Meinung aber bisher versäumt habe, sei der Blick auf das persönliche Leid eines Menschen, also das gewöhnliche psychische Leid Einzelner in ihren sozialen Beziehungen. So fehle bislang die Analyse der seelischen Folgen von Ressentiments, emotionaler Erniedrigung und unerwidertem Begehren. Illouz geht über die reine Soziologie hinaus, indem sie psychologische und philosophische Aspekte in ihre Überlegungen einführt, ohne dabei die soziologischen Hintergründe zu vernachlässigen.
Sie versucht in ihrem Buch nachzuweisen, dass die Art, wie heutige Menschen ihr Liebesleid erleben, kein einzigartiges, ganz persönliches Erleben widerspiegelt, sondern dass das soziale, kulturelle Milieu immer auch in das individuelle Erleben hineinwirkt. Nach ihrer Auffassung hat die Soziologie die Aufgabe, die soziale Grundlage von Überzeugungen aufzudecken. Für den Soziologen (so Illouz) gibt es keinen Gegensatz zwischen dem Individuellen und dem Sozialen.
Illouz beschreibt in der ca. 50 Seiten umfassenden Einleitung im Wesentlichen die Liebesschicksale und das Liebesleid von Frauen in der viktorianischen Zeit, um dann im Hauptteil darzustellen, welche grundlegenden, ja dramatischen Veränderungen sich in Bezug auf die Liebeswerbung, das Wesen romantischer Liebesbeziehungen und die Partnerwahl in der Moderne ergeben haben. In ihrer Beschreibung der Liebe und Ehe in der Vormodernen (bei Illouz die Zeit um 1800) bezieht sich Illouz, um die soziologischen Prozesse zu veranschaulichen, immer wieder auf die Literatur der damaligen Zeit. Hier kommen ihre umfassenden Kenntnisse aus ihrem Literaturstudium zur Geltung.
So stellt sie das Liebeswerben Emmas in Jane Austens Roman Emma als ein Geschehen dar, das sich im festen sozialen Umfeld der Verwandten und Nachbarn abspielte. Die Brautwerbung umfasste die Prüfung der Bewerber und Verehrer in Hinblick auf ihre gesellschaftliche Stellung, ihr Einkommen und ihren Leumund. Das Übergewicht wirtschaftlicher Überlegungen bedeutete auch, dass die Werbung eines Mannes einfacher und objektiver als heute zu beurteilen war. Bei den Frauen war die Mitgift der wichtigste Faktor auf dem Heiratsmarkt. Die festen Regeln und Rituale dieser Zeit gaben den Frauen im Gegensatz zu unserer heutigen Zeit im Allgemeinen Sicherheit und Identität. Illouz vergisst dabei keineswegs, dass Frauen in der Vergangenheit in einer vom Patriarchat bestimmten Abhängigkeit lebten und sich oft im Zustand der Verzweiflung befanden, wie, um nur einige zu nennen, Flauberts Madame Bovary, Brontés Emily oder Austens Emma.
Einen anderen soziologischen Ansatz als den zur Epoche des Viktorianischen Zeitalters nutzt Illouz, beginnend mit dem Kapitel Die große Transformation der Liebe, wenn sie die Liebesbedingungen der Gegenwart beschreibt. Die vielfältigen Daten, auf die sie sich in dem Bereich der modernen Liebe und der Partnersuche stützt, umfassen im Wesentlichen 70 Interviews mit Menschen in Europa, den Vereinigten Staaten und Israel.
In der modernen Welt steht die freie Partnerwahl im Vordergrund. Illouz bezeichnet die Veränderungen der Moderne als eine große Transformation. Hierzu zählt die Herauslösung potentieller Partner aus dem Bezugssystem Gruppe und Gemeinschaft. Völlig neue Bedingungen schufen in der Moderne der Einfluss der Massenmedien auf das Kriterium Attraktivität sowie der Umstand, dass bei der Partnerwahl die Sexualität eine zunehmend wichtigere Rolle spielt. Die Konsumkultur entwickelte sich zu einem kulturellen Machtfaktor. Die rasante Entfaltung der Kosmetikindustrie, von Film, Modewelt, Werbebranche und Frauenzeitschriften mit ihren Darstellungen schöner junger Frauen brachten neue Industriezweige hervor, die zu einer Sexualisierung von Frauen und später auch von Männern führten.
In dem zweiten Kapitel Die Angst, sich zu binden, und die Architektur der romantischen Wahl beschreibt Illouz die Veränderungen in den Partnerwahlen der Neuzeit. Die Bejahung und Betonung der sexuellen Freiheit – nicht zuletzt durch Sigmund Freud induziert ¬ war eine der signifikantesten soziologischen Transformationen des 20. Jahrhunderts. Illouz weist darauf hin, dass sich infolge der außerordentlichen Vermehrung möglicher Partner durch das Internet der Zugang zum Heiratsmarkt enorm vergrößert habe und dadurch die Fähigkeit, sich an ein einziges Objekt oder eine einzige Beziehung zu binden, bei vielen jungen Menschen blockiert wurde. Illouz diskutiert hier ausführlich das Phänomen von Bindungsängsten in der Neuzeit.
Im dritten Kapitel Das Verlangen nach Anerkennung: Liebe und die Verletzlichkeit des Selbst geht es im Wesentlichen um die Veränderungen in Bezug auf das Selbstwertgefühl im Bereich der Partnerwahl und dauerhaften Beziehungen. Nach Illouz war früher das Selbstwertgefühl insbesondere der Frauen unabhängiger von der Liebe. In der viktorianischen Zeit waren Liebende nicht wie heute auf Bestätigung durch ihre Partner angewiesen. Heute würden wir größtenteils die Bestätigung unseres Selbst in der Liebe erwarten. Im 18. Jahrhundert waren die Begriffe „Bestätigung“ und „Unsicherheit“ weitgehend unbekannt. Heute biete die Liebe einen starken Anker für die Anerkennung der eigenen Person und deren Selbstwert. Die Angst vor Zurückweisung sei eine Bedrohung, die ständig über den Beziehungen schwebe. Die moderne romantische Liebe führt zu Spannungen zwischen den Wünschen nach Autonomie einerseits und Anerkennung (Abhängigkeit) andererseits. Der eigene Wert ist ständig durch die Möglichkeit bedroht, die eigene Autonomie zugunsten der Beziehung aufzugeben.
Im folgenden Kapitel setzt sich Illouz mit dem Thema Liebe, Vernunft und Ironie auseinander. Über Charaktereigenschaften eines möglichen Partners wurde in der Vormoderne wenig nachgedacht. Heute versuche man über das Online-Dating oder über Internetportale die einzige, die wahre Liebe zu finden. Dies führt durch die unübersehbare große Auswahl möglicher Partner letztendlich zu einer Austauschbarkeit des Gegenübers.
Das fünfte Kapitel lautet folgerichtig Von der romantischen Phantasie zur Enttäuschung. Durch die große Fülle an Auswahlmöglichkeiten verschiebt sich das Begehren. Anstatt das echte Gegenüber zu begehren, taucht man in erotische Phantasien zu möglichen Phantasiepartnern ab, verbunden mit Gefühlen der Enttäuschung in der Begegnung mit realen Partnern.
Obwohl die Autorin in ihrem Buch beim Leser bisweilen das Gefühl aufkommen lässt, eine gelingende Partnerschaft in der Moderne sei praktisch nicht mehr möglich, zeigt sie im Epilog auch ihre persönliche (romantische) Einstellung zu den Grundthemen ihres Buches: Sie sieht in der Moderne durchaus eine normative Überlegenheit in Bezug auf die Beziehungen der beiden Geschlechter. In dem Streben nach Freiheit und Gleichheit, der Suche nach sexueller Erfüllung, nach einer Gleichberechtigung von Mann und Frau sind diese neuen Ideale bereits ansatzweise verwirklicht.
All dies sei Ausdruck eines modernen Versprechens einer möglichen neuen Form von Liebe und Intimität. Wenn Männer und Frauen, ob nun in hetero- oder homosexuellen Beziehungen, solche Versprechen erfüllen, sind ihre Beziehungen nicht nur deshalb glücklich, weil sie an die Bedingungen der Moderne angepasst sind, sondern auch, weil sie Ideale verwirklichen, die denen vergangener Zeiten normativ überlegen sind. Illouz hält, überraschend zur bisherigen Diskussion, ein Plädoyer für die leidenschaftliche Liebe. Diese Art von Liebe sei die einzige, die uns einen Kompass an die Hand geben könne, unser Leben zu leben. Diese Liebe sei mehr denn je auf eine Ethik in den sexuellen und emotionalen Verhältnissen angewiesen, eben weil diese Verhältnisse für die Entwicklung von Selbstwert und Selbstachtung so entscheidend seien.
Soziologische Arbeiten gelten für den durchschnittlichen Menschen als eher schwierig zu verstehen und sind meistens für Fachleute geschrieben. Für diese Sicht spricht, dass das vorliegende Buch 470 Seiten umfasst und im Literaturverzeichnis 290 Autoren mit teilweise mehreren wissenschaftlichen Arbeiten zitiert werden. Hinzu kommen zahlreiche Anmerkungen. Dennoch bin ich überzeugt, dass sich Illouz mehrheitlich an ein breites Publikum wendet.
Sie ist sich bewusst, dass für die meisten Leser, die nicht Soziologen oder Psychologen sind, eine rein soziologische Arbeit kaum verstehbar wäre. Sie reichert deshalb ihre soziologischen Aussagen durch viele anschauliche Beispiele an. So beginnt sie bereits auf der ersten Seite mit einer kurzen Darstellung des im Jahr 1847 erschienen Buches Sturmhöhe von Emily Bronté und des 1848 herausgegebenen Liebesromans Madame Bovary von Gustave Flaubert. Eine Fülle von Beispielen, in denen sie ihre soziologischen Annahmen erläutert und veranschaulicht, zeigen ihre profunde Kenntnis der englischen Literatur des frühen 19. Jahrhunderts.
Illouz betont, wie notwendig eine soziologische Untersuchung zu den Fragen von Partnersuche, Liebe und Liebesleid in der heutigen Zeit ist. Zahlreiche Hinweise auf die Entwicklung der Soziologie von ihren Anfängen bis heute deuten ebenfalls darauf hin, dass ihr Buch das Ziel hat, ein breites Publikum zu erreichen und über soziologische Fragestellungen aufzuklären. Auf der Rückseite des Covers befindet sich ein Satz aus einer Rezension der Wochenzeitung Die Zeit, den ich deshalb voll und ganz unterschreiben kann: „Über Liebe wird man nicht mehr diskutieren können, ohne sich auf dieses Buch zu beziehen.“