Vater, lieber Vater … Aus dem Sigmund-Freud-Archiv
Autor*in: | Janet Malcolm |
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Verlag: | Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019, 429 Seiten |
Rezensent*in: | Gerald Mackenthun |
Datum: | 18.08.2022 |
Wer dieses Buch liest, taucht tief ein in die dunklen Winkel der hermetisch abgeschirmten Psychoanalyse. Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts machte ein faszinierender, junger Mann namens Jeffrey Masson in amerikanischen Psychoanalytikerkreisen Furore, der vielen den Kopf verdrehte. Nicht nur den Frauen (er soll nach eigenen Angaben mit mehr als 1000 geschlafen haben), sondern letztlich auch dem grand old man der europäisch-amerikanischen Psychoanalyse, Kurt Eissler. Eissler war eifersüchtiger Hüter des Sigmund-Freud-Archivs in Washington. Seine Tätigkeit bestand darin, den Schatz an Briefen und Manuskripten mehr vor Zugriff zu hüten, als die Forschung über Freud voranzutreiben. Mit Geschick und Hartnäckigkeit gelang es Masson, an einige Briefe Freuds an dessen zeitweiligen Freund und Vertrauten Wilhelm Fließ zu kommen. Das öffnete ihm die Tür zum inneren Kreis der Analytiker. Eissler verabredete sogar mit ihm, sein Nachfolger als „Sekretär“ des Archivs zu werden, obwohl die meisten Analytiker Masson ablehnten. Sie waren irritiert von seiner umtriebigen und narzisstischen Art.
Mit seinen Recherchen stieß Masson jedoch schon bald in ein Wespennest vor. Angelpunkt der sich anbahnenden Affäre war Freuds Kehrtwende in der sogenannten Verführungstheorie, die kurz vor 1900 stattfand. Eine frühe Hypothese Freuds lautete, dass alle Neurosen und Hysterien seiner Patientinnen auf einen sexuellen Missbrauch in der Kindheit zurückzuführen seien – das hätten diese ihm in den Therapien mitgeteilt. Er, Freud, habe aber erkennen müssen, dass derartige „Verführungen“ nie stattgefunden hätten. Diesen Misserfolg verwandelte Freud in pures Gold der Psychoanalyse. Von nun an hieß es, die „Verführung“ entspringe einer Wunschphantasie, was fortan Ödipuskomplex genannt wurde.
Masson war entsetzt: Mit diesem Schwenk verrate Freud alle Frauen, die unter sexuellen Übergriffen litten. Später sollte Alice Miller Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch zu ihrem zentralen Thema machen. Wie Masson brach auch sie mit der psychoanalytischen Bewegung und wurde eine scharfe Kritikerin. Masson hatte die theoretische Wende nicht aufgedeckt, über die Freud 1925 selbst schrieb, aber seine einst vorbehaltlose Verehrung für Freud schlug um in blanke Verachtung.
Wenige Monate, bevor Masson die Stelle als Sekretär antreten sollte, verleitete ihn seine Impulsivität dazu, der New York Times zwei Interviews zu geben, in denen er nicht nur Freuds Kehrtwende, sondern zugleich auch einige weitere seiner Fehler geißelte, darunter Freuds Biographie des psychisch schwerkranken Daniel Paul Schreber. Selbst Eissler konnte Masson nun nicht mehr halten; er eröffnete ihm, dass er als Sekretär untragbar geworden sei. Masson, der sich schon als Hüter des Hauses Maresfield Gardens, Freuds letztem Domizil in London, wähnte, fiel aus allen Wolken. In langen Briefen beklagte er sich und zieh Eissler des Wortbruchs. Auch Anna Freud wurde in den Streit hineingezogen.
Die Autorin Janet Malcolm, damals Mitarbeiterin des Magazins The New Yorker, führte mehrere Gespräche mit Masson und anderen Involvierten in London und den USA (einschließlich Eissler) und konnte wichtige Schriftstücke dieser Affäre einsehen. Längere Passagen des schmalen Buches bestehen aus wörtlichen Zitaten. Insbesondere die schillernde Figur Massons wird durch seine Selbstbeschreibungen und Bekenntnisse plastisch. Letztendlich war er ein Scharlatan, Aufschneider und Hochstapler, aber ohne Böswilligkeit. Für die Analytikerzunft war der Skandal äußerst unangenehm, und man war bestrebt, rasch Gras über die Sache wachsen zu lassen. Aber Masson hatte den Finger in eine noch heute offene Wunde gelegt. Der Fokus auf das innere Erleben bedeutete eine Entwertung der Realität, was selbst Analytiker problematisch finden. Freuds Kehrtwende, weg von einem möglichen Missbrauch in der Kindheit und hin zum Ödipuskomplex, wird in Fachkreisen skeptisch gesehen.
Das Buch ist sicherlich nicht für ein breites Publikum geschrieben. Der engere Kreis der Tiefenpsychologen sollten aber über dieses unrühmliche Kapitel aus der Geschichte der Psychoanalyse informiert sein, das sich dank Malcolms Schreibkunst spannend und flüssig liest. Dabei enthält sich die Autorin einer Wertung; sie bleibt wohltuend objektiv und lässt die Fakten sprechen.