Menschenführung - Nach ihren biologischen und metaphysischen Grundlagen betrachtet
Autor*in: | Viktor von Weizsäcker |
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Verlag: | Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1925/1955, 84 Seiten |
Rezensent*in: | Klaus Hölzer |
Datum: | 03.03.2013 |
1925 hielt Viktor von Weizsäcker anlässlich der Helmstedter Hochschultagung vier Bildungsvorträge vor evangelischen Geistlichen zum Thema Seelenbehandlung und Seelenführung. Dieser Text wurde 1955 unter dem obigen Titel erneut publiziert. Dem Enkel eines Tübinger Theologieprofessors war offenbar daran gelegen, die Kirchenvertreter mit den Erkenntnissen der Tiefenpsychologie vertraut zu machen. Wer sich an von Weizsäckers gelegentlichen Ausflügen in die Theologie nicht stört, wird mit tiefgründigen Gedanken nicht nur zur Tiefenpsychologie, sondern auch zum Gesamtwerk des Autors belohnt, das skizzenhaft in diesem Bändchen aufleuchtet.
Von Weizsäcker (1886-1957) hatte Sigmund Freud persönlich kennen gelernt und seine Schriften, wie auch die anderer Tiefenpsychologen (z.B. Adler und Jung), gründlich rezipiert, sodass er 1949 die Überzeugung formulieren konnte: „Die psychosomatische Medizin muss eine tiefenpsychologische sein oder sie wird nicht sein“. Der Physiologe, Neurologe und Philosoph gilt heute als bedeutender Vertreter der medizinischen Anthropologie, dessen Denken vielfach Eingang in die Psychosomatik gefunden hat.
In der vorliegenden Schrift philosophiert von Weizsäcker über Seelenbeeinflussung und Menschenführung, von ihm auch als Psychagogik bezeichnet. Er macht es sich zur Aufgabe, die Wege der Heilung seelischen Leidens und die dem Menschen gegebenen Entwicklungskräfte zu prüfen. Weder geht es ihm um Pädagogik, noch um eine erzieherische Norm, sondern um die Frage, in welcher seelischen Wirklichkeit Normen überhaupt wirken können. Er beginnt mit der Wirklichkeit und Sachlichkeit einer ärztlichen bzw. psychagogischen Sprechstunde. Seine Untersuchung der Möglichkeit, Seelisches im Mitmenschen zu beeinflussen, beginnt er mit dem einfachen und unmittelbaren Beeinflussungsmittel, der Ermahnung, z.B. in Fällen, wo jemand schlechte Gewohnheiten angenommen hat und sie nicht unterlassen kann. Wie bekannt, sind Zureden und Appelle an die Vernunft in solchen Fällen vollkommen wirkungslos, auch wenn der Betreffende guten Willens ist.
In der ersten Vorlesung geht es ihm darum aufzuzeigen, welche entscheidende Rolle das Gesetz der Bipersonalität bei dieser Problematik spielt. Kein Sittengesetz bewirkt eine Gewohnheitsänderung, sondern es muss zunächst einmal eine Beziehung von Mensch zu Mensch bestehen, ein Personenverhältnis, bei dem Vitalbindungen zu Mutter und Vater, zu Liebespartnern oder zu Lehrern oder Vorbildern bestehen müssen, bevor sie überhaupt wirken können.
Im Rückgriff auf psychoanalytische Begriffe erläutert er dann, wie die Vitalbindungen gelöst werden und wie es durch die „Übertragung“ zur Bildung der geistigen Person kommt. Auf jeden Fall ist Seelenbehandlung kein einseitiger Akt der Einwirkung, sondern abhängig vom Zusammenspiel zweier Personen, also ein Phänomen der Bipersonalität.
In der zweiten Vorlesung geht es von Weizsäcker um eine prüfende Beurteilung, eine Kritik der Triebe und Gefühle. Er bemängelt, dass das akademische Deutschland zu oft geistige Zusammenhänge diskutiert, ohne den Einfluss der Gefühle und Triebe auf das Denken zu berücksichtigen. Ein kritischer Blick auf die geistige Funktion erkennt in ihr jedoch die vitale Triebgrundlage.
Einigen Raum widmet er der Erörterung der Scham. Wer Niederlagen und Schicksalsschläge erlebt, dabei Scham empfunden und dann Hilfe erfahren hat, wird sich in Kranke besser einfühlen können als jene, die ihre Konflikte glatt und spielend überwunden haben. Auch die Scham unterliegt dem Gesetz der Bipersonalität, was bedeutet, dass Patient und Therapeut sie erleben, wobei aber wiederum die Überwindung dieses Widerstandes beiden Partnern ein wichtiges Anliegen sein muss. Das Wesen dieses Vorganges besteht darin, dass beide Beteiligten eine Entwicklung durchleben und die Vitalbindungen abgelöst und umgebildet werden. Das bedeutet aber nicht, dass Psychagogik (seelische Führung) oder Therapie die Vitalbindungen durch geistige Kräfte einfach ersetzen könnte. Geistigen Einfluss auszuüben bedeutet nicht, eine vitale Bindung aufzulösen, sondern sie umzuwandeln. Dazu bedarf es geistiger Kräfte wie Intelligenz und Wissen, Güte und Weisheit.
Die Autonomie der Persönlichkeit, schreibt von Weizsäcker, sei ein erstes Ziel der Psychagogik. Das für den Erzieher, Arzt und Therapeuten geltende Gesetz besagt, dass er nur dort eine Wirkung erzielen kann, wo eine Bindung besteht, und bilden kann er nur dort, wo er die Bindung auch wieder löst. Fundamental wichtig ist es, dass die Eltern neben anderen Pflegepersonen auch Lehrer und Spielkameraden zur Erziehung des Kindes zulassen. Nur so kann es sich von den frühinfantilen Bindungen lösen, und so werden Mutter und Vater für das Kind zu geistigen statt nur vitalen Personen. Durch Begeisterung für bedeutende Personen, für Freunde, Bücher und Spiele können die Triebe umgelenkt und geistige Kräfte dem Leben zugeführt werden. Das ist der Weg, geistige Personen zu bilden bzw. geistige Kräfte in das Leben eines anderen eintreten zu lassen.
In der dritten Vorlesung erörtert von Weizsäcker die Beziehung von Person und Amt (mit Amt ist die sachliche Erziehungsaufgabe der Eltern, Erzieher und Ärzte gemeint). Für die erzieherische Personenbildung ist besonders wichtig, was in der Pädagogik nicht selten übersehen wird, dass nämlich das seelische Werden des Kindes von der fortschreitenden Entwicklung der Eltern und Erzieher untrennbar ist. Keineswegs ist das Kind in Bewegung, während der Erwachsene konstant bleibt. Sollte es ihm gelingen, das Kind zu bilden, bildet er es nur durch seine eigene Um- oder Weiterbildung. „Jeder psychagogische Akt ist daher recht eigentlich eine Selbstentwicklung des Erziehers“. Man sieht: Personen sind eng miteinander verbunden. Jahrzehnte später wird Helm Stierlin, ein Schüler Viktor von Weizsäckers, formulieren: „Das Tun des einen ist das Tun des anderen“. Von Weizsäcker schreibt: „…wir sind ursprünglich verbundene Personen, nicht Ich ist die metaphysische Absolutheit, sondern Wir.
Die Personwerdung beginnt, indem zunächst die einfache Mutter-Kind-Bindung gelöst wird, um dann durch Übertragung distanziert und auf andere Personen transformiert zu werden. Dadurch wird die Mutter für das Kind Person. Amtbildung und Personwerdung hängen unlösbar zusammen und sind eigentlich ein Dreipersonenverhältnis (Tripersonalität). Daran schließt der Autor eine Diskussion der Identität, der Willensfreiheit und der Autonomie der menschlichen Person an. Die menschliche Person wird nicht so sehr durch das Wechselspiel zwischen ihr und ihrer Umwelt bestimmt, vielmehr kann eine Person nur als Person unter Personen begriffen werden. Das habe Alfred Adler nach von Weizsäckers Meinung deutlicher als Freud gesehen, indem es ihm weniger auf eine vollständige theoretische Beschreibung des Menschen als vielmehr auf seine Umbildung im Verlauf der Therapie angekommen sei. Von Weizsäcker fasst zusammen: Die Lösung der Vitalbindung führt über eine Zwischenstufe virtueller Autonomie zur Personengemeinschaftsordnung, und damit habe er den Prozess der formalen Zergliederung des Bildungsprozesses abgeschlossen.
In der vierten und letzten Vorlesung erscheint mir bemerkenswert, was der Autor über ungesunde geistige Lebensformen mitzuteilen hat. Seine jahrzehntelangen Erfahrungen an deutschen Hochschulen ließen ihn urteilen, dass ein wesentlicher Teil der an den Universitäten gelehrten Wahrheiten ungesunde Wahrheiten seien. Die wissenschaftliche Bildung habe zweifellos nur einen zweitklassigen Erziehungswert: nämlich die Erziehung zur Objektivität. Dabei sind nicht die Inhalte des Wissens und Erkennens der eigentliche ethische Wert, sondern die Unparteilichkeit ihrer Hervorbringung. In der Art der Produktion liege das Ethische. Die akademisch-wissenschaftliche Erziehung zu wissenschaftlicher Objektivität führte zur Pathologie des Geistes, wenn nicht eine weitere Bedingung hinzukomme. Statt Betriebe sollten die Universitäten Gemeinschaften sein, die sich dem wirklichen Leben widmen und deren Mitglieder „unvertretbare Personen in einer Personengemeinschaft“ sind. Eine gesunde Seelenbildung ist jene, „in der die Triebgrundlagen des Menschen nicht asketisch verdrängt, sondern organisch fortgebildet erscheinen“. Die Kunst des Bildens besteht darin, höchst sachlich und zugleich höchst persönlich zu sein. „So wird jede Psychotherapie zu einer Logotherapie“, in anderen Worten zu einer Therapie des Geistes mit dem Gebot persönlichster Verantwortung.
Von Weizsäckers Schrift über Menschenführung erscheint mir wie ein Grundlagentext der heilenden und erziehenden Berufe. Sie hat den großen Vorteil, erkennbar zu machen, mit welchen erheblichen Schwierigkeiten die Aufgabe der Menschenführung zu rechnen hat. Verglichen mit seinen Ausführungen erscheinen nicht wenige betriebswirtschaftliche Anleitungen der Managementliteratur geradezu wie Karikaturen. Fast allen fehlt der mit Recht vertretene Hinweis von Weizsäckers, dass ohne Sympathie, Wohlwollen und Liebe auf dem Feld der Menschenführung nichts zu bestellen ist.