Gemeinschaftsgefühl – Wertpsychologie und Lebensphilosophie seit Alfred Adler
Autor*in: | Gerald Mackenthun |
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Verlag: | Psychosozial-Verlag, Gießen 2012, 525 Seiten |
Rezensent*in: | Almuth Bruder-Bezzel |
Datum: | 28.01.2013 |
In einem sehr umfangreichen Buch bearbeitet Mackenthun das genuin individualpsychologische Thema „Gemeinschaftsgefühl“ und versteht seine „Methode“ als „historisch- kritisches Quellenstudium“ und „hermeneutische Textanalyse“ (S. 25). Offenbar ist es eine Habilitationsarbeit, angesiedelt an der Universität Klagenfurt (Prof. Jutta Menschik). Daraus erklärt sich vielleicht auch der große Umfang der Arbeit.
In sieben großen Kapiteln werden die Begriffe Gemeinschaftsgefühl, Gemeinschaft, Verhältnis Individuum-Gemeinschaft, die Theorieentwicklung Adlers insgesamt entfaltet und differenziert diskutiert. Die Kapitel 2, 3, 6 und 7 sind auf Adler und die Individualpsychologie zentriert, Kapitel 4 und 5 sind den philosophischen und soziologischen Darstellungen des Spannungsverhältnisses Individuum und Gemeinschaft gewidmet. Diese Kapitel könnte man auch als Nachschlagewerk verstehen. Unmöglich ist es, hier auf alles angemessen einzugehen.
Mackenthun, Tiefenpsychologe in Berlin, bekennt sich von der ersten Seite an als Rattnerianer, aus „Jahrzehnten der Zugehörigkeit“ bis heute, und verankert seine Arbeit als Ergebnis der Forschungsarbeit in diesem Institut. Wie weit er auch auf eine ganz ähnlich umfängliche Arbeit zum Gemeinschaftsgefühl aus diesem Umkreis, eine Dissertation, von 2001 (Schaardt und Schmalzried) zurückgreift, ist mir nicht ersichtlich. Zeichen von Rattner-Zugehörigkeit gibt es viele, u.a. die umfängliche und zustimmende Darstellung Rattners, aber auch der Bildungsanspruch und Bildungskanon (klassische, humanistische Bildung), was sich bei Rattner im Sprachstil, im Gestus des „vornehmen Menschen“ (Nietzsche), der „wesensmäßig“ in „Distanz zur Gemeinschaft“ steht, ausdrückt (S. 276). Und Bildung gehört auch zum Rattnerschen Therapiekonzept.
Nach der Einführung stellt Mackenthun im Kapitel 2 auf 60 Seiten die Entwicklung der Adlerschen Theorie insgesamt dar. Diese Darstellung bringt meines Erachtens gegenüber den einschlägigen Studien nichts Neues und ist recht zurückhaltend mit Quellenangaben. Dem folgt im 3. Kapitel auf knapp 150 Seiten eine referierende Überblicksdarstellung von 24 individualpsychologischen Stellungnahmen zum Gemeinschaftsgefühl, 9 davon von noch lebenden Individualpsychologen. Hier vermisse ich Darstellungen von Manès Sperber und Rainer Schmidt.
In den Kapiteln 4 und 5 (zusammen ca. 140 Seiten) sind ca. 20 Stellungnahmen von Philosophen, Psychologen, Literaten, Soziologen, Politologen zum Individuum, Individualismus, Gemeinschaft, Personalismus, Moral, Macht, Freiheit, Demokratie, Kommunitarismus vorgestellt. So kommen, u.a. als historisch relevante Autoren zu Wort: Oscar Wilde, Max Stirner (eher als Negativfiguren), Hermann Hesse, Martin Buber, Karl Löwith, Erik Erikson, Emanuel Mounier, Max Scheler, Nicolai Hartmann, Ferdinand Tönnies, Henri Bergson, Erich Fromm, Aldous Huxley, Bertrand Russell. Nur vier Autoren, nämlich Josef Rattner, Wilhelm Schmid, Ronald Wiegand, Charles Taylor sind noch lebend.
Die Auswahl der Referenzen entspricht etwa dem Untertitel (Wertpsychologie und Lebensphilosophie), doch erscheint sie mir für eine aktuelle Diskussion insgesamt zu rückwärts gewandt – deutscher Idealismus, Lebensphilosophie, Nietzsche, Klassik aus Weimar leben hier auf, und auch Karl Popper bekommt hier, als glühender Antisozialist, seine Valenz. Mir scheint die Behandlung von „Gemeinschaft“ als bloß philosophischem Thema die notwendigerweise inhärente gesellschaftliche und politische Dimension zu verdecken. Eine aktuelle Diskussion würde und sollte zudem dann die auf die Fahnen geschriebenen Parolen von Gemeinschaft, Individuum, Freiheit, Demokratie etc. auf ihre praktische Umsetzung hin befragen und sie nicht für bare Münzen nehmen.
Schließlich das sechste Kapitel mit ca. 86 Seiten zum „Gemeinschaftsgefühl in der Therapie“. Nach einer kurzen Skizzierung von Grundlagen der IP-Therapien gibt es zwei längere Abschnitte über die „Lebensaufgaben“ und „Imperative des Gemeinschaftsgefühls“. Hier sieht Mackenthun seine genuine Leistung, womit er auf die Bedeutung verweist, die er diesem gibt. Den drei Lebensaufgaben von Adler (Arbeit, Gemeinschaft, Liebe) fügt er noch drei weitere hinzu, nämlich Kunst, Individuation, Sorge um den Körper – dies hat inzwischen Rainer Lemm-Hackenberg in seinem Vortrag zu „Lebensaufgaben“ auf der DGIP-Jahrestagung 2012 aufgegriffen.
In den „Imperativen des Gemeinschaftsgefühls“ sieht Mackenthun das Gemeinschaftsgefühl als ethische Grundnorm mit neun verschiedenen Ausprägungen oder Aspekten: Imperativ der Gleichwertigkeit und den hermeneutischen, dialogischen, axiologischen, ästhetischen, aktivischen, sozialen, personalen, existenziellen, humanistisch-politischen Imperativ. Wieder kommen hier eine ganze Reihe von Philosophen und Soziologen zu Wort, z.T. die, die wir bereits schon kennen. Sowohl die Lebensaufgaben als auch die Imperative sind bei Mackenthun Bestandteile seiner Therapie.
Das abschließende siebte Kapitel ist noch einmal der Diskussion und Synthese gewidmet, wodurch seine Positionen und seine kritischen Einwände gegen Adler gebündelt werden: Adler habe den Individualismus als Unglück, als Krankheit gesehen, (466), Adler schätze das Kollektiv höher als das Individuum (467), er vernachlässige die Individualität, groß sei die Nähe zu Konformismus und Selbstaufgabe (470), Adler habe das Spannungsverhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum nicht erkannt und egozentrischen Bedürfnissen keinen Wert zuerkannt (471), er habe kein Gefühl für die Gefahr von Familie und Kollektiv (481). Daran ist für mich vieles richtig, aber es gibt auch andere Seiten bei Adler – Adler ist ja kaum eindeutig, er ist vielfältig zitierbar.
Den hier vielleicht vorausgesetzten Antagonismus zwischen Individuum und Gemeinschaft/Gesellschaft gibt es, m.E. zu Recht, bei Adler nicht, er sieht das Individuum vielmehr verwoben in seinen Kontexten bzw. bemühte sich darum (Mensch als soziales Wesen). Ein dezidiertes Desinteresse am Wohl des Individuums oder an seiner Individualität/“Individuation“ würde ich ihm nicht generell unterstellen, sieht er doch vielmehr das Individuum als einzigartig und preist es geradezu emphatisch als schöpferisch, selbst als Kunstwerk. Neben der Nähe zur Anpassung gab es bei Adler eben auch die Streitbarkeit für eine bessere Gesellschaft. Und weiter wäre einzuwenden, dass Adler die Gefahr von Gemeinschaftsparolen bzw. der Pervertierung dieser Idee – hin zum Totalitären – durchaus gesehen hat – so in der Kriegspropaganda, im Bolschewismus, im Massenpsychologie-Führer-Thema, im Faschismus.
Mackenthun scheint in seiner Haltung zum Gemeinschaftsbegriff deutlich zu schwanken, eine betont hohe Wertschätzung des Gemeinschaftsgedankens wechselt mit einer deutlichen Zurückweisung von Gemeinschaft zur Ehre des Individuums, der Freiheit. Gemeinschaft gilt dann als bedrohlich, als Gefahr, bis hin zur Gemeinschaft als Tor zum Faschismus. Das Schwanken ist verständlich, wenn man einbezieht, dass es ja so viele unterschiedliche Gemeinschaften und Ansprüche, Rechte, Pflichten, Eigenschaften, aber auch Ziele und Quellen von Gemeinschaften gibt. Auch ist zu berücksichtigen, dass sowohl bei „Gemeinschaft“ als auch bei Individuum, Freiheit, Frieden etc. im Konkreten und Praktischen häufig nicht drin ist, was drauf steht (double speak), also mit den Parolen etwas anderes gemeint oder verdeckt wird. Genauer: Heute dient die Denunzierung von Gemeinschaft der Legitimation der Aufgabe der sozialen Verantwortung für alle Bürger, also der Aufgabe des Sozialstaats. Damit bleibt die Freiheit und Würde der Mehrheit der „Individuen“ auf der Strecke zugunsten der Entfaltung einer kleinen Zahl von privilegierten Individuen. Das ist für mich Grund genug, an einem – versteht sich kritischen – Begriff von Gemeinschaft festzuhalten.