Erwin Wexberg – Ein Leben zwischen Individualpsychologie, Psychoanalyse und Neurologie
Autor*in: | Ulrich Kümmel |
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Verlag: | Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010, 191 Seiten |
Rezensent*in: | Günther Köhnlein |
Datum: | 01.03.2017 |
Erwin Wexberg (1889–1957) gilt als ein produktiver und systematischer Theoretiker, der im Wien der 1920er und 1930er Jahre im Schnittpunkt bedeutender Kulturtraditionen seine Wirkung entfaltete. Als langjähriger Schüler von Alfred Adler hat er dazu beigetragen, der Individualpsychologie ein wissenschaftliches Fundament zu geben. Bis zu seiner Emigration in die USA 1934 hat er wesentliche Beiträge zur Ausformung der Individualpsychologie geleistet und wichtige Funktionen im Verein für Individualpsychologie verkörpert. Er fühlte sich jedoch auch der Psychoanalyse von Sigmund Freud verbunden. Freud hat er als Medizinstudent in seinen wöchentlichen Vorlesungen kennen und schätzen gelernt. In diesen Vorlesungen in den Jahren 1909 / 1910 konnten nur Studenten nach persönlicher Anmeldung bei Freud teilnehmen. Sein Aufnahmegesuch in die psychoanalytische Gemeinschaft zur Teilnahme an der „Mittwochs-Gesellschaft“ wurde jedoch abschlägig beschieden. Wexberg blieb jedoch der Psychoanalyse verbunden und empfahl immer wieder die Theorien von Freud als Lektüre.
Als Facharzt für Psychiatrie und Neurologie stand er einerseits dem naturwissenschaftlichen Denken nahe, andererseits fühlte er sich als Psychotherapeut der final orientierten Sichtweise des Individualpsychologen verbunden. Er integrierte die beiden Denk- und Sichtweisen und gilt mit seinem Schaffen auch als Wegbereiter der neueren Integrierten Psychosomatik. Wexberg war vielseitig interessiert und beschäftigte sich zeitlebens mit den Disziplinen der Medizin, Philosophie, Psychologie, Kunst und Literatur und schrieb 20 Bücher sowie etwa 75 Artikel und Buchbeiträge, worin seine produktive Arbeitshaltung zum Ausdruck kommt.
Wexberg war nicht bereit, sich in fertige Denkschemata einbinden zu lassen. Alles Dogmatische war ihm fremd, und er versuchte, sich nicht in den damals herrschenden Schulenstreit verwickeln zu lassen. In der Wissenschaft könne es keine absoluten Wahrheiten geben, war seine Auffassung, und er praktizierte eine Haltung, ebenso von Freud zu lernen wie von Adler. Besonders beeindruckend in seinem Schaffen sind das von ihm herausgegebene Handbuch der Individualpsychologie (2 Bände, 1926) und sein Lehrbuch der Individualpsychologie (1928). Schon seit 1912 konzentrierte sich sein Forschen auf die zentrale Stellung der Angst für das Verständnis der Neurosen, was ihn als Grundthema auch weiter begleitet: Die Angst als Kernproblem der Neurose (1926), Organminderwertigkeit, Angst und Minderwertigkeitsgefühl (1926), Neurosenwahl (1931) sowie Was ist wirklich eine Neurose? (1933).
Nach seiner Emigration in die USA (1934) distanzierte sich Wexberg von Entwicklungen der Individualpsychologie, die diese inzwischen dort eingenommen hatte. Alfred Adler hatte seit Beginn der 1930er Jahre seinen Arbeitsschwerpunkt in die USA verlegt und trat in mehreren Vortragsreisen unermüdlich für die Verbreitung der Individualpsychologie ein. Wexbergs Denken und Handeln blieb jedoch geprägt von dem verinnerlichten Adlerianischen Wertesystem, von der Vorstellung vom sozialen Wesen des Menschen, dem spezifischen Menschen- und Weltbild und der geistigen Grundhaltung der „Ermutigung“ Adlers. Dies zeigte sich auch in dem weiteren Wirken von Wexberg in seinem sozialen Engagement für Minderheiten und vorurteilsfreien Einsatz für Randgruppen.
Ulrich Kümmel gelingt es, die Person Erwin Wexberg, seine Entwicklung, sein Denken und Handeln anschaulich nachzuzeichnen. Er hat bei seinen intensiven Recherchen den Kontakt zu den in den USA lebenden Töchtern Wexbergs hergestellt und konnte so authentisches Material, Fotos und Briefe gewinnen, die in dem vorliegenden Band aufgenommen wurden. Besonders beeindruckend ist, dass einige Briefe aus der Korrespondenz von Alfred Adler und Erwin Wexberg abgedruckt sind, so dass das vorliegende Buch den Charakter von dokumentierter Zeitgeschichte erhält. Es wäre wünschenswert, wenn noch mehr solcher Bücher geschrieben würden, die bedeutende Persönlichkeiten in ihrem zeitgeschichtlichen Zusammenhang vorstellen und damit die Geschichte der Psychologie / Psychotherapie / Tiefenpsychologie bereichern.