Das Erstinterview in der Psychoanalyse
Autor*in: | Hermann Argelander |
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Verlag: | Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1989, 10. unveränderte Auflage (Erstauflage 1970), 112 Seiten |
Rezensent*in: | Gerald Mackenthun |
Datum: | 03.03.2016 |
Das schmale Buch von Hermann Argelander (1920-2004) ist ein Standardwerk der psychoanalytischen Literatur und beschäftigt sich mit dem so entscheidenden ersten Gespräch zwischen Patient und Analytiker. Man sollte aber von vornherein beachten, dass es Ende der 1960er Jahre in Westdeutschland geschrieben wurde und seitdem unverändert auf dem Markt ist. Auch ist der Titel etwas irreführend. Unter einem Interview versteht man eine strukturierte Befragung mit Hilfe eines vorbereiteten Fragebogens, während der Autor an Hand von interessanten Fallbeispielen tief in die Probleme eines therapeutischen Prozesses samt szenischem Verstehen, Gegenübertragung, Deutung und Widerstand einsteigt.
Erst auf S. 101 erfährt der Leser, dass am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main ein bis zwei Gespräche zur Eruierung der Therapiemotivation, der Diagnostik und eines Therapieplanes geführt werden. Die eigentliche Therapie wird von einem anderen Therapeuten vorgenommen. Erst dieser zweite Therapeut klärt den Patienten darüber auf, was ihn in einer Psychoanalyse erwartet. Das Erstinterview dient offenbar dazu, am damaligen Freud-Institut geeignete Patienten für Ausbildungskandidaten auszuwählen. Argelander jedoch verfolgt eine Art Kurztherapie (S. 105), die er auch „Beratung“ nennt, deren Merkmal aber eigentlich der Verzicht auf Deutungen ist.
Das szenische Verstehen ist eine ganz besondere Herangehens- und Betrachtungsweise. Dieser spezielle Blick auf den vor uns liegenden Fall (eine Person!) selektiert von vorn herein die Informationsaufnahme und lässt wie ein Filter nur jene durch, die zu einer späteren „Szene“ passen könnten. Die „schöpferisch gestaltete Szene“, von der Argelander unter Hinweis auf Lorenzer spricht (S. 63), ist eine vom Therapeuten konstruierte Szene, von der angenommen wird, dass sie die innere Situation des Patienten schlaglichtartig verdeutlicht. In einem von Argelander vorgestellten Fallbeispiel ist es die Konkurrenz einer „hölzernen“ Patientin mit ihrem lebendigen Bruder und Sohn (S. 47-54). Ihre lange Entwicklung wird in einem plastischen Bild bzw. in einer nachvollziehbaren Szene verdichtet, wobei diese Szene als Begebenheit nicht wirklich existiert, sondern vom Therapeuten mehr oder weniger spekulativ konstruiert wird. Die Szene stellt eine massive Deutung dar und wurde von Argelander der Patientin bereits im Erstgespräch zugemutet.
In einer zweiten, anderen (konkurrierenden?) Bedeutung ist die „Szene“ eine kurze Sequenz aus dem therapeutischen Gespräch, die sofort oder später das Problem des Patienten wie in einem Brennglas zur Erscheinung bringt (S. 61 u. 63). Argelander zitiert als Beispiel den Satz einer Patientin, als der Therapeut ihr ein brennendes Streichholz für ihre Zigarette anbietet: „Danke, ich versorge mich selbst“ (S. 65). Später rutscht dem Analytiker der Satz heraus, „ich versorge mich auch selbst“ (S. 67), was bei der Patientin eine erkennende Aha-Reaktion hervorgerufen habe.
Das szenische Verstehen ist für den Neuling eine aufregende Art, an den therapeutischen Prozess heranzugehen. Die Szene sollte plastisch, erhellend und leicht nachvollziehbar sein. Die Erfahrung als Therapeuten sagt uns aber, dass derartige Erwartungen nicht erfüllt werden können. Die Patienten-Biographien sind zu komplex und zu verschieden, als dass immer eine Szene vor dem inneren Auge entsteht. Das szenische Verstehen als Methode muss bald zurückgestellt werden in die lange Reihe anderer Verstehens- und Betrachtungsinstrumente. „In einem Erstinterview laufen vorbewusste Wahrnehmungs- und Denkprozesse unvorstellbar schnell ab und lassen sich auch nachträglich in ihrer Gesamtheit kaum einfangen. Der Interviewer weiß immer mehr, als er zu Protokoll geben kann“ (S. 62).
Rätselhaft bleibt Argelanders Forderung , der Erstinterviewer (der eigentliche Therapeut des Patienten trat ja im Frankfurter Institut erst später auf) müsse die Persönlichkeit des Patienten intuitiv-unbewusst erkennen, und zwar schon in einer einzigen, allenfalls in zwei Sitzungen. Warum bleibt das nicht dem Therapeuten überlassen? Warum dieser hohe Anspruch? Argelander verfügt über einen reichen Erfahrungsschatz, aber ein Erlernen der Erstinterviewtechnik ist mit diesem anekdotischen Buch nicht möglich. Bei erneuter Lektüre erstaunt die Diskrepanz zwischen dem guten Namen Argelanders und den deutlichen Schwächen des Büchleins.