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Rezensionen Tiefenpsychologie
und Kulturanalyse

Tiefenpsychologie

Alfred Adlers Wiener Kreise in Politik, Literatur und Psychoanalyse

Autor*in:Almuth Bruder-Bezzel
Verlag:Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019, 429 Seiten
Rezensent*in:Gerald Mackenthun
Datum:24.04.2019

Das vorliegende Buch, herausgegeben von der Berliner Psychologin und Mitbegründerin des Alfred-Adler-Instituts Berlin, Almuth Bruder-Bezzel, versammelt Aufsätze der Jahre 1991 bis 2015, die sich mit Adlers sozialem und persönlichem Umfeld, seinen Bezugspersonen und seinen Anhängern in Wien beschäftigen.

Adler fühlte sich in seinen jungen Jahren als Sozialist und Marxist, später als Pazifist. Er hatte viele Kontakte zu Wiener Künstlern, Schriftstellern und Literaten, die er in den Wiener Kaffeehäusern traf und wo er mit ihnen diskutierte. Das Porträt Adlers von Oskar Kokoschka 1912 ist ein Beleg für Adlers Offenheit für die neue avantgardistische kulturelle Strömung. Adler therapierte den Komponisten Anton von Webern 1913 wegen Depressionen. Webern war Hauptvertreter des musikalischen Expressionismus und der Zwölftonmusik. Zum Kreis der Adlerschen Bekanntschaften gehörte der Dichter Albert Ehrenstein, ein sehr unruhiger Geist, auch weil er glühend verliebt war in die legendäre Schauspielerin Elisabeth Bergner, der er in die Städte ihrer jeweiligen Engagements folgte. Viele Kontakte zur literarischen Szene ergaben sich durch einen Genossenschaftsverlag, den Adler nach Ende des Ersten Weltkriegs mit gründete. Die englische Schriftstellerin Phyllis Bottome veröffentlichte 1939 eine schwärmerische Biografie Alfred Adlers, von ihm noch selbst dazu beauftragt.

Konspirativ und teils dramatisch war die Gründung der psychoanalytischen Zeitschrift Jahrbuch 1908 in Salzburg und die Gründung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Nürnberg 1910. Beides wurde von Freud unter Umgehung der Wiener psychoanalytischen Vereinigung betrieben, deren stärkster Kopf Adler war. Die Wiener fühlten sich entthront, weil der Sitz der neuen Vereinigung nun Zürich sein sollte, mit Carl Gustav Jung als Präsidenten. Die frühe Psychoanalyse war in gewissem Sinne auch eine Gemeinschaftsleistung der Wiener Mittwochgesellschaft. Freud war daran gelegen, die unruhige Wiener Gruppe, insbesondere Adler und Stekel, in ihrem Einfluss zu begrenzen.

Die IPV-Gründung sollte unter anderem der Ausschaltung der innerpsychoanalytischen Opposition um Adler und dem Schutz und der Kanonisierung der freudschen Psychoanalyse dienen. Der Zürcher Arzt Bleuler fühlte sich an die Gründung einer Religionsgemeinschaft erinnert. Bleuler trat im November 1911 aus. Die vielen Austritte, Kontaktabbrüche und Prioritätsstreitigkeiten waren schmerzlich und kräftezehrend. Bruder-Bezzel schreibt, dass dies die Kritikfähigkeit der Psychoanalyse nicht gefördert habe. Die Trennungen hätten aber doch eine Vielfalt von weiteren Psychoanalysen hervorgebracht „und damit mehrere Wahrheiten statt nur einer“.

Adler hatte zwei literaturpsychologische Arbeiten verfasst, die eine über Dostojewski, die andere über eine Novelle des Autors Alfred Freiherr von Berger, eine hochbekannte Figur des damaligen Wiener Kulturlebens, von 1900-1910 unter anderem Direktor des Deutschen Schauspielhauses Hamburg. Von ihm stammt die Novelle Hofrat Eisenhardt. Mit Berger, der Novelle und Adlers Interpretation beschäftigt sich einer der Aufsätze in dem Buch. An Eisenhardt wird die Psychologie des Narzissmus und der Macht abgehandelt.

Wie so viele war auch Adler 1914 zunächst kriegsbegeistert und meldete sich freiwillig als Arzt. Adlers Haltung zur Kriegspsychiatrie und zu den sogenannten Kriegsneurotikern war ambivalent. Er wurde also nicht, wie jahrzehntelang angenommen wurde, erst 1916 zwangsrekrutiert. Adlers Haltung als Pazifist, der er später unbedingt war, bekommt damit einen Kratzer. Die damalige Psychiatrie passte sich den Erfordernissen des Militärs insofern an, als die Kriegsneurose nun als ein rein psychogenes „hysterisches Leiden“ galt, für das ein Trauma keinerlei ätiologische Bedeutung habe, sondern Ausdruck einer degenerativen Anlage einer minderwertigen Person sei (S. 90). Selbst 1920 gab es bei Adler keine Distanzierung zur Militärpsychiatrie. Er betrachtete die Kriegsneurose vielmehr als Bestätigung seiner Neurosentheorie. Damit verwarf er auch die Traumaätiologie. Nach dem Krieg war er eindeutig Pazifist, und er klagte in Aufsätzen die Herrschenden an, das Gemeinschaftsgefühl zu missbrauchen. Zugleich verteidigte er „das Volk“ gegen den Vorwurf der Schuld an diesem Krieg.

Otto Kaus, Ehemann der populären Romanschriftstellerin Gina Kaus, gehörte in Wien zu den Anhängern und Aktivisten der Individualpsychologie der ersten Stunde. Obwohl er sowohl im Rahmen der Individualpsychologie als auch der literarischen Szene sehr viel schrieb, ist er weitgehend unbekannt. Kaus war ein eigensinniger Mensch, der unruhig lebte und um 1927 psychotisch erkrankte, vermutlich aufgrund einer Syphilis. Kaus schrieb ausführlich über das kindliche Lügen, über Onanie, Kriegsneurosen, Sexualität, Ehe, Perversionen, Homosexualität als Perversion (was damals weit verbreitet war), die Ehe als Liebes- und Schicksalsgemeinschaft, zum Leib-Seele-Problem, zur Einheit der Person, über Pestalozzi und zuletzt, 1931, kritische Anmerkungen zur Individualpsychologie als Psychotherapie. Kaus stand mit seiner Kritik an der Individualpsychologie keineswegs allein. Zu den Kritikern Adlers gehörte unter anderem Erwin Wexberg. Wexberg sparte in Privatbriefen nicht mit Kritik an dem „starren, rechthaberischen Adler“. Ab 1929 kam es zu weiteren Abspaltungen und Auflösungserscheinungen, unter anderem in der Berliner IP-Ortsgruppe.

Wie die Psychoanalytiker schätzten die Individualpsychologen die Dichter und Romanciers als psychologische Wegbereiter. Ihre Biografien und Textanalysen gerieten allerdings allzu oft zu Pathografien. Otto Kaus tat sich in diesem Genre mit mehreren Veröffentlichungen hervor. Zusammen mit seiner Frau gründete er nach dem Krieg die kommunistische Monatsschrift Sowjet. Damit entfernte er sich von Adler, der sozialdemokratisch blieb. Otto Gross (geboren 1877) gehörte zu den herausragenden und zugleich tragischen Figuren aus der Frühzeit der psychoanalytischen Bewegung. Er war erfüllt von der Psychoanalyse und versuchte diese unter der jüngeren Intelligenz und deutschsprachigen Bohème zu verbreiten. Auch er führte ein unstetes, ungebundenes Leben, teilweise im Drogenrausch. Wilhelm Stekel, einer der ersten Freud-Unterstützer und -Mitarbeiter, kümmerte sich therapeutisch um ihn, bis Gross 1920 in Berlin verarmt starb. Gross und Adler verbindet, frühe Dissidenten der Psychoanalyse gewesen zu sein. Wie Freud und Adler beschäftigte sich auch Gross mit dem Problem der individuellen Entwicklung in einer repressiven Gesellschaft. Eine Tendenz zur Anpassung oder gar Unterwerfung sah Gross bereits angelegt in der Angst des Kindes vor Einsamkeit. Er forderte für das Kind eine absolut bedingungslose Liebe in der Erziehung, ein reines Bejahen seiner Individualität um ihres eigenen Wertes willen (S. 183). Für Adler ging es jedoch nicht um einen feindlichen Antagonismus zwischen Individuum und Gesellschaft, wovon hingegen Freud und Gross ausgingen.

Nicht Adler selbst, aber viele seiner Mitstreiter – vor allem Arthur Kronfeld –waren offen für lebensphilosophische, weltanschauliche und metaphysische Überlegungen. Sie begannen mit der Frage, ob die Individualpsychologie eher eine Wissenschaft oder eine Weltanschauung sei. Die Debatten vollzogen sich zwischen vier verschiedenen Strömungen der Individualpsychologie: der biologisch-medizinischen Richtung, der marxistisch-sozialpsychologischen, der religiösen und der philosophischen (S. 193). Im Verständnis vieler ihrer Anhänger war die Individualpsychologie eher „Bewegung“ und „Weltanschauungslehre“. Die wissenschaftlich strenger Denkenden verneinten die Wissenschaftlichkeit der IP. Carl Furtmüller, engster Mitarbeiter Adlers, formulierte bereits 1914 dieses Problem. Die Mehrheit der damaligen individualpsychologischen Autoren ordneten die IP wie selbstverständlich der Philosophie oder Geisteswissenschaft, öfters auch konkret der Sozialpsychologie. Adler selbst maß dieser Debatte wenig Bedeutung bei und beteiligte sich nicht an ihr. Ich selbst habe diese Debatte in dem Buch Gemeinschaftsgefühl (2013) ausführlich nachgezeichnet.

Wichtige Begriffe in diesem Zusammenhang waren und sind Kausalität, Finalität, Einfühlung, Verstehen, Intention, Ganzheit, Hermeneutik und Teleologie. Fast durchgängig abgelehnt wurde die naturwissenschaftlich-experimentelle Psychologie. Bei der individualpsychologischen Orientierung auf ein „richtiges Handeln“ (abgeleitet aus der „Biologie des Menschen“ als Gemeinschaftswesen) stellt sich die Frage, ob dies Ethik sei. Die Debatte entzündete sich am zentralen Begriff des Gemeinschaftsgefühls, welches als psychologische Grundlage ethischer Normen aufgefasst wurde (beispielsweise bei Kronfeld) (S. 207). Gerade bei den Anhängern der ersten Stunde häufte sich die Unzufriedenheit mit dem, was Adler in den späten 1920er Jahren an Theorien und Publikationen aus dem fernen USA heraus produzierte. Das führte zu Zerwürfnissen, Abspaltungen und persönlichen Kritiken an Adler. Zu den Kritikern gehörten Künkel, Wexberg, Kaus und Sperber.

Mit Letztgenanntem beschäftigt sich Bruder-Bezzel in einem weiteren Kapitel. Manès Sperber sei der „Meisterschüler“ Adlers gewesen, ein international bekannter und anerkannter Schriftsteller, Autobiograph und politischer Aktivist auf der Seite des Sozialismus, Kommunismus und der zionistischen Jugendbewegung. Adler schloss diesen jungen Mann sogleich in sein Herz, und Sperber wurde sein persönlicher Vertrauter. Adler verstieß Sperber später, weil er fürchtete, dass dessen politische Aktivität der individualpsychologischen Bewegung Schaden zufügen könnte. 1936/37 brach Sperber mit dem Stalinismus und wurde Feind des Kommunismus. Zunächst wurde Sperber im Auftrag Adlers zum Gegenspieler von Fritz Künkel. Adler wollte die IP nicht zu einer „Dependence“ einer marxistischen Politik oder der Religion machen. Umgekehrt warf Sperber Adler und seinem Kreis „Sektierertum“ und Verbürgerlichung vor. Sperber kritisierte unter anderem den blinden Optimismus Adlers und dessen naive Vorstellung von der schöpferischen Kraft in jedem Menschen. Sperber Analyse der Tyrannis von 1939 kann laut Bruder-Bezzel als Höhepunkt politischer Psychologie auf invidualpsychologischer Grundlage gelten (S. 227). 1970 veröffentlichte Sperber sein Buch Alfred Adler oder das Elend der Psychologie, sein, wie er es nannte, „psychologisches Testament“ und zugleich eine Gesamtdarstellung der Adlerschen Theorie, eingebettet in ihre vielen historischen und politischen Bezüge (S. 236). Sperbers Einfluss in der IP blieb dennoch gering; kaum jemand hatte Interesse, an die linken Traditionen der IP anzuknüpfen. Der institutionalisierten Individualpsychologie war in den 1970er Jahren eher daran gelegen, sich von dem Pädagogen Rudolf Dreikurs zu befreien und sich als psychotherapeutisches Verfahren der Psychoanalyse wieder anzunähern.

Adlers Verhältnis zu Friedrich Nietzsche ist uneindeutig. Teile seines Konzepts verbinden ihn mit Nietzsche, andere bringen ihn in eine Gegenposition. Mit der Einführung des „Gemeinschaftsgefühls“ nach dem Ersten Weltkrieg wandte sich Adler offenbar von Nietzsche ab. Der „Wille zur Macht“ (das Geltungsstreben) verschwindet in Adlers Sprache. Das Gemeinschaftsgefühl wurde zum Gegenspieler des Machtstrebens. Der stärkste Gegensatz besteht in der Auffassung von Gemeinschaft und Gesellschaft: Adler erkennt geradezu naiv keinerlei Probleme mit der Gemeinschaft, während Nietzsche sie als Hemmnis für das sich selbst feiernde Individuum verabscheute.

Bruder-Bezzel hat mit ihren Nachforschungen und Aufsätzen wichtige und interessante Details zur Geschichte der Individualpsychologie beigetragen.