49
Rezensionen
ITGG Berlin - Rezensionen
#7C9CA4
#C66A13

Theater & Tanz

Weihnachtsoratorium

Autoren:John Neumeier & Johann Sebastian Bach
Inszenierung:Staatsoper Hamburg (Winter 2023)
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:24.12.2023

Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage - so beginnt die wohl bekannteste Klassikmusik zu Weihnachten, das Weihnachts-Oratorium von Johann Sebastian Bach, das er vor beinahe drei Jahrhunderten (1734/35) komponierte und in Szene setzte. Die einzelnen Teile dieses Oratoriums erzählen musikalisch die Geschichte kurz vor und nach der Geburt Jesu Christi nach, wie sie von den Evangelisten Lukas und Matthäus einst aufgezeichnet wurde.

Vor etlichen Jahren machte sich John Neumeier mit seinem Hamburg Ballett daran, die sechs Teile des Weihnachts-Oratotoriums als Tanztheater aufzuführen. Und obwohl seit der Premiere im Dezember 2013 schon über ein Jahrzehnt vergangen ist, überzeugt diese Inszenierung als überaus modern und aktuell. Zumindest ein Teil des brausenden Beifalls, der nach der Aufführung am 23. Dezember 2023 dem gesamten Ensemble wie auch dem Chor, dem Orchester und den Solisten des Abends galt, mag dem Empfinden geschuldet gewesen sein, soeben einige Stunden lang etwas zutiefst Zeitgemäßem beigewohnt zu haben.

Doch was können uns im 21. Jahrhundert eine mythologisch-religiöse Geschichte bedeuten, die etwa zwei Jahrtausende alt ist, und ein Oratorium, das immerhin fast drei Jahrhunderte Aufführungspraxis hinter sich gebracht hat? Und inwiefern lohnt es, derartige Mythen und ihre musikalische Bearbeitung als Ballett umzusetzen und damit das Medium der Darstellung nochmals zu erweitern - begonnen als eine mündliche und schriftliche Erzählung über den musikalischen Ausdruck (Orchester, Chor, Solisten) bis hin zum Bühnenbild und den vielen Verkörperungsfiguren des Tanztheaters?

In seinen Erläuterungen zum Ballett Weihnachtsoratorium betonte John Neumeier, dass es ihm dabei weder um ein religiöses Unterfangen noch um einen säkularen Ersatzgottesdienst oder um einen sakralen Tanz ging. Ihn berühre die Musik Johann Sebastian Bachs, und aus dieser Berührung heraus entstünden dann Ballett-Inszenierungen wie das Weihnachtsoratorium, das Magnificat oder auch die Matthäuspassion.

Was aber ergreift uns (und John Neumeier) so nachhaltig und schon seit Generationen an der Musik Bachs, speziell auch an seinem Weihnachts-Oratorium? Ich meine, dass es Bach nicht zuletzt auch in seiner Kirchenmusik wiederholt und auf faszinierende Weise gelungen ist, das anthropologisch und existentiell Aufwühlende, Erschütternde, Sehnsuchtsvolle, das in den uralten Mythen und religiösen Erzählungen transportiert wird, musikalisch so zum Ausdruck zu bringen, dass es auch uns Heutige trifft und mächtig bewegt.

Drei Jahrhunderte nach Bach stehen viele von uns den religiösen Inhalten und Aussagen des Weihnachts-Oratoriums reserviert und skeptisch gegenüber. Für die existentiellen Themen dieser Geschichte aber - als da sind: Heimatlosigkeit; zwischenmenschlicher Schutz; mütterliche Geborgenheit; liebende Freundschaft; nackte Gewalt (Herodes und die Tötung der Kinder); befreiender Jubel nach der Zurückdrängung des Thanatisch-Destruktiven (jauchzet, frohlocket) - finden wir in der Musik Bachs immer wieder Rhythmen, Töne und Melodien für deren fragende und suchende Ausgestaltung.

Und damit komme ich zum gestrigen Ballett-Abend in Hamburg zurück. Nicht nur in der Musik Bachs, sondern ähnlich großartig in den Figuren- und Tanzbildern John Neumeiers werden in dessen Inszenierung des Weihnachtsoratoriums Motive der Conditio humana verhandelt. Hier ging und geht es um Themen und Fragen unseres Daseins, unserer Existenz, und erst in zweiter, dritter Linie um Anmut, Schönheit, kunstvollen Tanz. Oder besser ausgedrückt: Die Letzteren (Anmut, Schönheit) entstehen als collateral beauty (wie die Angelsachsen es bezeichnen), quasi als Nebenbei-Effekte, sobald unsere Existenz ähnlich seriös und engagiert wie mit der Tanz-Compagnie John Neumeiers, dem Philharmonischen Orchester Hamburg, dem Chor der Staatsoper Hamburg und den exzellenten Gesangs-Solisten auf eine Bühne gebracht wird.