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Rezensionen
ITGG Berlin - Rezensionen
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Theater & Tanz

Mein Name sei Gantenbein

Autoren:Max Frisch
Inszenierung:Berliner Ensemble (2022)
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:24.01.2022

Mein Name sei Gantenbein auf der Bühne? Eigentlich handelt es sich bei Gantenbein doch um einen Romantext von Max Frisch, der in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts aufgrund der damals modernen und unkonventionellen Art der Schriftstellerei von sich reden machte. Wie lassen sich die über 500 Seiten des Buches ins Dramatische und auf die Bühne transponieren?

Oliver Reese, Intendant des Berliner Ensemble, nahm sich dieser Aufgabe an und schuf eine konzise Theaterfassung des Romans – wobei er pfiffig die verschiedenen Figuren des Romans zu einer einzigen Bühnengestalt kondensierte und damit die Hauptthematik von Gantenbein – die Frage nach der eigenen Identität, nach dem wer bin ich? – punktgenau in einer Person zu konstellieren wusste.

Bei der Umsetzung half ihm insbesondere jener Schauspieler, den er sich für das Ein-Personen-Stück Gantenbein gewählt hatte, und der die verschiedensten Facetten einer Identität meisterhaft zu exprimieren versteht: Matthias Brandt. Vielen Fernsehzuschauern wird dieser Mime von diversen Tatort-Abenden her bekannt sein – auf der Bühne war er jedenfalls sehr lange nicht mehr zu sehen gewesen, und umso großartiger und gelungener war und ist diese Aufführung mit ihm einzuordnen und wertzuschätzen.

Max Frisch hat im Gantenbein (1964) das Motiv der Identität breit erörtert und kunstvoll in Szene gesetzt. In dieser Thematik spiegelt sich nicht nur das Schicksal von Romanfiguren, sondern auch des Autors selbst wider. Anfang der 40er Jahre kämpfte Frisch mit der Frage, wer er denn sein oder werden könne. Dabei machte er oft genug die Erfahrung, dass diese Frage nicht vom Betroffenen selbst, sondern von seiner Umwelt und von seinen Bezugspersonen beantwortet wird. Das Bild, das unsere Mitmenschen sich von uns machen und gemacht haben, definiert und limitiert unsere Identität wie unsere Möglichkeiten der Entwicklung.

Ein Überschreiten dieser Begrenzungen ist Frisch zufolge meist nur in Liebesbeziehungen möglich. Wer liebt, gesteht seinem Partner die Freiheit der Entwicklung, des Wachstums und der überraschenden Neugestaltung seiner Person zu. Das Ende einer Liebe ist oft genug gekennzeichnet durch die Fixierung der beiden ehemals Liebenden auf ein Bild, eine Formel oder eine geronnene Aussage. Beide wissen angeblich, wer und wie der Andere ist und was von ihm zu erwarten steht. Im Tagebuch 1946-1949 von Max Frisch heißt es dazu:

Du sollst dir kein Bildnis machen. Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und dass auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte.

Dieses Bildnis-Verbot, bekannt aus der jüdisch-christlichen Tradition, die es den Gläubigen verbietet, sich von Gott ein Bild zu machen und ihn, das angeblich absolute Subjekt, zu objektivieren, dieses Verbot will Frisch auch auf gelingende zwischenmenschliche Beziehungen angewendet wissen. Die Freiheit eines jeden Individuums besteht nur so lange, wie es nicht durch Bilder, Formeln und Metaphern fixiert und damit seiner Beweglichkeit beraubt worden ist – ein Gedanke, der für Frisch selbst Relevanz besaß und den er, indem er z.B. die Erwartungen vieler Zürcher Bürger und Honoratioren bezüglich seiner künstlerischen Entwicklung enttäuschte, ganz konkret auf seine Realisierbarkeit hin untersuchte.

Mein Name sei Gantenbein stellt eine Variation zu den Themen Liebe, zwischenmenschliche Beziehungen sowie Gestaltung einer Existenz und Identität dar. Als Zuschauer werden wir mit Figuren – oder besser mit einer Gestalt, die viele Figuren verkörpert – konfrontiert, die ihren individuellen oder auch den kollektiven Lebensgesetzen entkommen oder zuwider handeln wollen, und die daran scheitern, weil ihnen die Synthese ihres Daseins und die Integration von zufälliger Notwendigkeit und möglicher Freiheit nicht gelingt. Selbst die freiwillige „Blendung“ Gantenbeins, der so tut, als sei er blind und könne nichts sehen, kann das Fatum der zwischenmenschlichen Dynamiken nicht zu seinen Gunsten wenden.

Trotz unserer ach so aufgeklärten und bewussten Art des Denkens und Handelns sind wir – so könnten wir eine Generalaussage von Gantenbein formulieren – in unsere individuellen Mythen verwoben, die als Unbewusstes und Unverstandenes unsere Existenz dominieren und sich als Scheitern, Niederlage und Schicksalsschläge zu Wort melden. Stabile Identität und robustes Selbst erringen Menschen nur, wenn sie diese Schattenaspekte ihrer Existenz berücksichtigen und zu integrieren versuchen.