Dona Nobis Pacem
Autoren: | John Neumeier & Johann Sebastian Bach |
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Inszenierung: | Staatsoper Hamburg (Winter 2022) |
Rezensent*in: | Gerhard Danzer |
Datum: | 11.12.2022 |
Es gibt gute Gründe, bei der Frage nach dem Ursprung von Kunst auf Phänomene wie Tanz, Gesang und Rhythmus zu verweisen. Aus ihnen haben sich alle weiteren Kunstformen bis hin zu Literatur, Malerei, Bildhauerei, Schauspielkunst und Musik entwickelt – meinte jedenfalls der britische Arzt und Anthropologe Havelock Ellis (1859-1939) in seinem Buch Der Tanz des Lebens (1923). Im Tanz klingen archaische Motive ebenso wie kultische, religiöse, feierliche, dionysische Aspekte an, und im Gegensatz zu vielen anderen Künsten sind der Stoff, das Material und das Medium des Tanzes (wie auch des Gesangs oder der Schauspielkunst) die jeweiligen Menschen und Künstler selbst.
Als bewegte Formen, Farben und Bilder handelt es sich beim Tanz um ein dynamisches Geschehen: Dauernd konstellieren sich Strukturen, Ordnungen und Gestalten, um kurz darauf wieder zu zerfallen und sich als aufgelöste zu wieder neuen Strukturen und Ordnungen zusammenzufinden. Charakteristisch für den Tanz ist auch eine gewisse Dialektik von Gemeinschaftsbildung und Vereinzelung. Viele Tänze sind nur als Paar- oder Gruppenaktivität realisierbar und stiften damit eine zumindest formale Gemeinschaft. Daneben gibt es bevorzugt in moderneren Tanzformen das Phänomen der Individualisierung und der Spannung zwischen einzelnen Tänzern und einem Kollektiv. Motive wie Freiheit, Souveränität, Nähe, Fremde, Autonomie, Abhängigkeit, Schutz, Sicherheit, Geborgenheit, Egalisierung, Intimität usw. lassen sich vor dem Hintergrund dieser Dialektik gut und bilderreich in Szene setzen.
Sowohl im klassischen Ballett als auch in den modernen Ausprägungen der Tanzkunst erleben die Zuschauer daneben das Faszinosum des Augenblicks und der momentanen Gegenwart. Anders als die meisten anderen Künste sind der Tanz und die dabei in der Regel zur Aufführung gelangende Musik ephemer, also flüchtig. Die Genießend-Betrachtenden verspüren zwar oftmals den Impuls, eine Melodie und parallel dazu eine Bewegung, eine Formation, einen Ausdruck der Tänzer festhalten zu wollen oder zumindest wiederholt zu bekommen – allein: Der Zeitpfeil solcher Vorführungen erweist sich als unnachgiebig und lässt sich weder anhalten noch umkehren. Die einzige Möglichkeit, dem Geschehen auf der Bühne etwas Wesentliches abzugewinnen, besteht daher in der Hingabe an den Augenblick. Die Tanzkunst zieht und zwingt uns Zuschauer gleichsam in ein gegenwärtiges Erleben, bei dem das Vergangene wie auch das Zukünftige merklich in den Hintergrund treten. Diese Qualität von Tanz und Musik trägt zur Attraktion von Ballett-Aufführungen ganz wesentlich bei – ist doch der Wunsch nach einem tiefen, erfüllten Leben im Hier und Jetzt für viele von uns im Alltag zwar ein lange gehegtes, aber nicht selten unerfülltes Bedürfnis.
Zumindest in den tradierten Formen der Tanzkunst und des Balletts kommen noch weitere Polaritäten zur Anschauung, die uns nicht selten staunen machen: Da gibt es die uns allen bekannten Gesetze der Schwerkraft und der Erdanziehung einerseits sowie die entgegengesetzten Wünsche und Phantasien von Menschen nach Überwindung dieser Gesetzmäßigkeiten andererseits. Wer je meisterhafte Sprünge von Tänzern oder die himmelwärts gerichteten, auf Spitze getanzten Bewegungen einer Primaballerina bewundert hat, wird zugeben müssen, dass es allem Anschein nach neben der Schwerkraft auch die Leichtkraft und neben der Erdanziehung auch die Anziehung des Mondes und der Fixsterne gibt.
Friedrich Nietzsche, der sich in seinen Schriften wiederholt mit Kunst, Musik und Tanz befasst hat, versprach sich daher vom tänzerisch-philosophischen Dasein ein effektives Antidot (Gegengift) gegen den Geist der Schwere. Mit Letzterem bezeichnete er Existenzformen von Ressentiment, Krämerseelen, kleingeistigem Philisterium, Schwäche sowie moralinhaltigen Normen und Verhaltensregeln. Und ähnlich wie Nietzsche betonte Paul Valéry, dass Menschen sich im (künstlerischen) Tanz für kurze Zeit eine eigene Welt kreieren, in der sie ihr Ziel in sich selbst haben und keine äußeren Zwecke verfolgen: „Keine Äußerlichkeit! Die Tänzerin hat kein Außen… Nichts existiert jenseits des Systems, das sie sich durch ihre Handlungen schafft.“
In gewisser Weise präsentieren uns die Tänzer auf der Bühne ihre physiologisch geprägte Innenwelt, der wir beiwohnen und über deren Sinn und Bedeutung wir Mutmaßungen anstellen, in die wir jedoch immer nur partiell eindringen können. Tänzer imponieren einerseits als äußerst beherrscht und ihren Körper souverän im Griff habend und andererseits als in hohem Maße spontan und frei. Sie sind im wahren Sinne des Wortes bewegte Beweger, deren einstudierte Pläne der Motorik dauernd als aus dem jeweiligen Moment heraus geboren erscheinen. Tanzkünstler gehorchen zwar einer Choreographie und üben in harten Trainingseinheiten ihre komplexen Bewegungsmuster ein; zugleich leben sie während ihrer Aufführung ganz in ihrer aus Gesten, Schritten, Sprüngen und Figuren gefügten Welt, in die außer ihren Tanzpartnern kein Sterblicher direkten Zugang hat.
Wer alle diese Facetten der Tanzkunst auf höchstem Niveau verwirklicht sehen möchte, der begebe sich schleunigst nach Hamburg und versuche, noch eine der wenigen Restkarten an der dortigen Staatsoper zu ergattern, die es für die neue Choreographie Dona Nobis Pacem von John Neumeier eventuell noch gibt. Zur grandios gesungenen Messe in h-Moll von Johann Sebastian Bach (es singt das Vocal-Ensemble Rastatt und es spielt das Barock-Orchester Les Favorites unter der Leitung von Holger Speck) tanzt die Compagnie des Hamburg Ballett auf analog grandiose Weise die imperative Bitte und den dringlichen Wunsch nach Frieden (dona nobis pacem – gib uns Frieden) – auf eine Weise, die nicht nur ästhetisch-künstlerischen Höchstansprüchen genügt, sondern vor allem auch emotional sehr berührend und aufrüttelnd wirkt. Dazu trägt bei, dass die Inszenierung immer wieder auch die abgrundtiefe Inhumanität des Krieges andeutet und so auf eine Kontrastfolie zurückgreift, vor der die Friedensbemühungen umso dringlicher wirken.
John Neumeier hat sich eigenem Bekunden nach schon seit Jahren mit dem Projekt einer Choreographie der Messe in h-Moll beschäftigt. Seit dem Februar 2022 (kriegerischer Überfall Russlands auf die Ukraine) hat vor allem der Schluss-Chor dieser Messe (dona nobis pacem) eine schreckliche Aktualität gewonnen. Man muss daher überhaupt kein gläubiger Christ sein, um sich mit dieser Choreographie und dieser Musik vollumfänglich identifizieren zu können – noch dazu, weil in der Inszenierung auch Zeilen aus John Lennons Imagine zum Tragen kommen. Dieser exzellenten Hamburger Aufführung merkt man an, dass sich nicht nur der Maestro, sondern die gesamte Compagnie inklusive der Personen im Backstage (Beleuchtung, Bühnenbild, Masken, Kostüme) überaus intensiv mit Bachs Messe in h-Moll auseinandergesetzt haben.
Paul Valéry verglich einmal den Tanz mit einer brennenden Kerze, wobei die Tänzer ihre Lebenszeit und -energie hingeben, um die Flamme am Brennen zu halten. Ähnlich kann man die bisherige Lebensleistung von John Neumeier (er ist 1939 in Milwaukee, Wisconsin, geboren und im 50. Jahr Leiter der Hamburg Ballett Compagnie) charakterisieren, der sein Dasein zuerst als aktiver Tänzer und später als Choreograph vollständig der Tanzkunst gewidmet hat. Auf ihn trifft eine Aussage von Pina Bausch zu, die sie zu ihrer eigenen Arbeit als Choreographin des Wuppertaler Tanz-Theaters formuliert hat: „Nicht wie sich Menschen bewegen, sondern was sie bewegt – das interessiert mich!“ Einschränkend darf man dazu aber anmerken, dass sich Neumeier nicht erst seit der 1978 von ihm gegründeten Ballettschule des Hamburg Ballett auch nachhaltig dafür interessiert, wie sich Menschen (vor allem seine Schülerinnen und Schüler sowie Tänzerinnen und Tänzer) bewegen.