Vom Trauma zum bedeutungsvollen Ersterlebnis. Über die Entstehungsbedingungen von Person und Personalität aus Sicht der medizinischen und der Philosophischen Anthropologie
Autor*in: | Christian Schmidt |
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Verlag: | Karl Alber, Baden-Baden 2024, 342 Seiten |
Rezensent*in: | John Burns |
Datum: | 05.02.2025 |
Das Zeitbewusstsein des Menschen ist ein Faszinosum. In der Langeweile erleben wir das endlose Warten beinahe als Auslöschung unserer Existenz. Wenn der Bus nicht rechtzeitig kommt und nicht fahrplanmäßig abfährt, werden wir oft ärgerlich, als ob es sich um eine persönliche Kränkung handelt. In der Pubertät wollen wir schon erwachsen werden; im Alter würden wir gern die Uhr zurückstellen.
Der Mensch empfindet die Zeit als Dauer, wie der Philosoph Henri Bergson es formulierte. Die Zeit wird objektiv als eine Reihe von sukzessiven Augenblicken gemessen, während der Mensch in seiner subjektiven Erfahrungswelt Vergangenes im Gedächtnis behält und Zukünftiges anstrebt. Sein Zeitempfinden ist nicht mathematisch-wissenschaftlich, sondern teleologisch nach Zielen und Wertungen ausgerichtet, wie Thomas Mann zu Beginn des Romans Der Zauberberg (1924) in einem „Exkurs über den Zeitsinn“ ausführt:
„Wir wissen wohl, dass die Einschaltung von Um-und Neugewöhnungen das einzige Mittel ist, unser Leben zu halten, unseren Zeitsinn aufzufrischen, eine Verjüngung, Verstärkung, Verlangsamung unseres Zeiterlebnisses und damit die Erneuerung unseres Lebensgefühls überhaupt zu erzielen. Dies ist der Zweck des Orts-und Luftwechsels, der Badereise, die Erholsamkeit der Abwechslung und der Episode“ (Mann 1967, 111).
Wer für eine anspruchsvolle Lektüre Zeit hat, kann von seiner gewohnten Lektüre absehen und die 363 Seiten der philosophischen Dissertation von Christian Schmidt in die Hand nehmen, die 2024 im Verlag Karl Alber als Buch erschienen ist: Vom Trauma zum bedeutungsvollen Ersterlebnis - Über die Entstehungsbedingungen von Person und Personalität aus Sicht der medizinischen und der Philosophischen Anthropologie behandelt das Thema aus medizinisch-differentialdiagnostischer, philosophischer und tiefenpsychologischer Sicht.
Aufgrund der Kriege, Hungersnöte und Umweltkatastrophen in der heutigen Welt kommen zahlreiche traumatisierte Kinder, Jugendliche und Erwachsene nach Europa, wo sie erst ein neues Leben beginnen bzw. in ihr Ursprungsland zurückkehren können, wenn sie medizinisch versorgt und therapeutisch behandelt werden.
Das einleitende Kapitel des Buchs reflektiert die verschiedenen Therapieansätze, setzt sich mit diagnostischen Kriterien auseinander und stellt Neuerungen in der medikamentösen Behandlung von Trauma-Patienten vor. Während einige Konzepte der Traumatologie den Patienten von außen betrachten und behandeln, orientieren sich tiefenpsychologisch fundierte Therapien am Erleben und an der fragmentierten Identität des vom katastrophalen Ereignis Betroffenen.
In den letzten Jahren erlangte die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) einen Bekanntheitsgrad auch außerhalb der Psychotraumatologie, als prominente Persönlichkeiten auf die seelische und körperliche Versehrtheit der an Kriegshandlungen teilnehmenden Soldaten hinwiesen. Das grundsätzliche Verständnis der Störung setzt jedoch ein exaktes Wissen um die Symptomatik voraus. So lesen wir in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD 10/11):
„Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) kann sich entwickeln, wenn man einem extrem bedrohlichen oder entsetzlichen Ereignis oder einer Reihe von Ereignissen ausgesetzt war. Sie ist durch alle der folgenden Punkte gekennzeichnet: 1) Wiedererleben des traumatischen Ereignisses oder der traumatischen Ereignisse in der Gegenwart in Form von lebhaften aufdringlichen Erinnerungen, Rückblenden oder Albträumen. Das Wiedererleben kann aber auch eine oder mehrere Sinnesmodalitäten erfolgen und wird typischerweise von starken oder überwältigenden Emotionen, insbesondere Angst oder Entsetzen begleitet" (zit. nach Schmidt 2024, 27).
Eine Diagnose dieser Art, die uns beim flüchtigen Lesen durch ihre deskriptive Anschaulichkeit beeindruckt, gibt Anlass zur Diskussion, wenn wir die philosophisch-anthropologische Literatur zur Kenntnis nehmen, die Christian Schmidt kritisch unter die Lupe nimmt. Um ein Trauma und einen traumatisierten Menschen verstehen zu können, müssen wir uns hiernach fragen, wer der Mensch ist, der im Laufe seiner Sozialisation aus Leib, Seele und Geist eine Identität geschaffen hat, die z.B. bei einer Messerattacke oder einem Bombenangriff im Bruchteil einer Sekunde zerstört werden kann.
Nach Viktor Emil von Gebsattel (1883-1976) äußern sich die Symptome neurotischer, psychotischer und traumabedingter Störungen in einer Werdenshemmung, welche erst die „Hebammenkunst“ eines einfühlsamen Arztes oder Ärztin beheben kann. Ob der traumatisierte Patient seine verschütteten Persönlichkeitsanteile mit Hilfe des religiösen Glaubens eher zu einer neuen Ganzheit schmieden könnte, wie von Gebsattel meinte, sei dahingestellt. In erster Linie gehe es um die Entwicklung der Person, die durch Sympathie und Wohlwollen, Wertorientierung und sinnvolle Handlungen gefördert wird.
Wie Erwin Straus (1891-1975) in seinen Büchern und Aufsätzen betonte, ist die zeitliche Dimension einer psychischen Störung ein zentrales Thema. Christian Schmidt geht in seiner Darstellung der Theorie des in den USA lebenden und wirkenden Mediziners sehr ins Detail. In groben Zügen handelt es sich um den Sinnzusammenhang im menschlichen Leben, der durch ein erschütterndes Ersterlebnis fragmentiert wird. Das Zeitgefühl des Betreffenden schrumpft bisweilen auf einen Punkt und verliert in den Rückblenden, Ängsten und Schmerzen den Bezug zur Zukunft. Unter Umständen kann mit Hilfe der Therapie „das Gesetz der individuellen geschichtlichen Entwicklung“ wiederentdeckt werden.
Beeinflusst sind die Arbeiten von Victor Emil von Gebsattel und Erwin Walter Maximilian Straus von der Phänomenologie Edmund Husserls und der Fundamentalontologie Martin Heideggers. Weitere Philosophen, die in der Theorienbildung der beiden Wissenschaftler eine Rolle spielten, sind Helmut Plessner, Max Scheler, Henri Bergson und Karl Jaspers. Von Gebsattel und Straus sind, wie Christian Schmidt ausführt, nicht bloß historische Kuriositäten. Auch heute noch bemühen sich Traumatologen sowie philosophisch-anthropologisch orientierte Mediziner und Psychotherapeuten um Therapieansätze, die dem Menschen als Person gerecht werden.
Das Buch von Christian Schmidt zeichnet sich durch wissenschaftliche Gründlichkeit, Einfühlung und stilistische Eleganz aus. Obwohl die biographischen Ausführungen zu von Gebsattel und Straus die theoretische Auseinandersetzung mit den Ideen der beiden Vertreter des „Wegener-Kreises“ anschaulich ergänzen, ist das Buch für den durchschnittlich informierten Leser nicht leicht zu bewältigen. Aufgrund der umfangreichen Materie, die der Autor präsentiert, eignet sich sein Gesamtkonzept für ein psychologisches Seminar.
Eine Kurzfassung der Dissertation und des Buches wurde am 14. Dezember 2024 am Institut für Tiefenpsychologie, Gruppendynamik und Gruppenpsychotherapie (ITGG) in Berlin vom Autor selbst vorgetragen.
Literatur:
Mann, T.: Der Zauberberg (1924). Fischer, Frankfurt am Main 1967.