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Philosophie

Vom Schweigen des Guten - Hannah Arendts Theorie der Menschlichkeit

Autor*in:Lea Mara Eßer
Verlag:Transkript Verlag, Bielefeld 2023, 330 Seiten
Rezensent*in:Annette Schönherr
Datum:13.05.2024

Lea Mara Eßer studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften, Philosophie und Politologie an der Goethe-Universität in Frankfurt und wurde dort am Institut für Sozialphilosophie mit der hier vorliegenden Dissertation promoviert. 2019 erhielt sie den Eos-Preis für philosophische Essayistik zu Sören Kierkegaards Authentizitätsbegriff und wirkte an zahlreichen Theaterstücken mit.

Die Frage nach dem Guten erscheint der Autorin heute nicht nur drängender als je zuvor, sondern sie stelle sich vielleicht sogar als die entscheidende Frage unserer Zeit. Während Hannah Arendts Begriff des Bösen immer wieder erörtert wurde, ist ihr Begriff des „Guten“ bisher nur wenig thematisiert worden. Diese Aufgabe übernimmt nun Lea Mara Eßer und fragt sich, inwiefern es gerade die Frage nach dem Guten ist, um die Hannah Arendts Schriften kreisen, deren gesamtes Schaffen sich  mit dem Menschlichen der Menschen beschäftigt wie Gebürtlichkeit, Denken, Urteilen, Handeln, Erzählen. Und insofern das Böse diese Möglichkeiten verschließt, versucht Eßer in ihrer Auseinandersetzung mit diesem „extremen Bösen“ das „Gute“ und „Menschliche“ in der Theorie Hannah Arendts freizulegen.

Eine Antwort findet Eßer in Arendts Denken eines „Guten“, das nicht nach einem „Geländer“ sucht und auch nicht innerhalb der philosophischen Tradition zu verstehen ist, denn: Mit dem Beginn der Moderne hat das rationalisierte und industrialisierte Denken zum Traditionsbruch und infolgedessen zum Totalitarismus geführt. Arendt bricht hier mit der gesamten Philosophiegeschichte insofern, als sie die Frage nach dem Guten nun auf eine ganz neue Weise zu stellen hat: einem Guten, das einzig zwischen Menschen möglich und unbedingt auf Pluralität angewiesen ist. 

In ihren Überlegungen folgt Eßer der Frage nach der Menschlichkeit des Menschen sowie nach der Sagbarkeit des Einzelnen, zu denen sich ihr zwei Wege aus Arendts Frage nach dem Guten eröffnen: „Das Gute ist im Gegensatz zum Bösen das eigentlich Menschliche“. Als Denkwege ziehen sich diese sprachlichen Unterscheidungen durch Arendts gesamtes Werk und schaffen  Zugänge zum „Zwischenraum des Fragens“ als dem Raum für das Gute, während das Unheil des Bösen aus der Verflachung, der vermeintlichen Gewissheit und des nicht mehr Fragens resultiere.

Eßer bedenkt, beurteilt und erzählt das Arendt‘sche „Gute“ auf eine ganz neue Weise. Es sei inner- und außerhalb einer Geschichte zu finden, deren Bruchstücke sie (Eßer) aus dem Werk Arendts rekonstruiert, weiterdenkt und aktualisiert. Dieses frage gerade nicht nach einem verallgemeinerbaren Guten, das niemals unter einem Begriff zusammengefasst und festgelegt werden könne, sondern gerade in der „vielstimmigen und unabgeschlossenen Frage danach bestehe, was dieses Gute sei“(Eßer,11). 

Eßer reflektiert die historischen Konzepte des Guten, ausgehend von der Antike bis in die Gegenwart eines „effektiven Altruismus“. Kriterien der Funktion oder Nützlichkeit des Guten lehnt sie mit Arendt ab, die deshalb keine Merkmale für das Gute sein könnten, weil sie es auf diese Weise zu einer Ware herabwürdigten. Diese abzulehnenden Kriterien liegen begründet in den historischen Entwicklungen des Zeitalters der Industrialisierung: Die Technisierung und Mathematisierung der Moderne führte zu einer Überforderung des modernen Menschen durch immer schneller sich vollziehende Prozesse und unendliche Kategorisierungs- und Berechnungsmethoden, die das wesentlich „Einzelne“ kaum noch wahrnehmen könne und zu einem Verlust der Pluralität führe: Sind es doch gerade Verallgemeinerungen, die zu Rassismen, zu Ausgrenzungen und Ideologien führen.

Gegenwärtig zu sein bedeutete für Arendt, die Frage nach dem Menschen immer wieder aufs Neue zu stellen und sich auf keine Selbstverständlichkeit, keine Vergleichbarkeit oder Kategorien zu verlassen: Ein wirkliches Fragen müsse mehr Hören als Sprechen sein und „in jene große Stille hineinhorchen“. Sofern es zwischen „Einzelnen“ geschieht, setzt jedes Sprechen einen neuen Anfang, nach Eßer und Arendt „einen Anfang, der als in dieser Weise absolut neuer weder berechnet noch zielgerichtet sein kann“.

Dieses Gute spricht im Vertrauen und verliert sich nicht auf den festgesetzten Pfaden von Selbstverständlichkeiten … es fragt vielmehr und hört… Jedes Sprechen, sofern es zwischen Einzelnen geschieht, setzt einen neuen Anfang, einen Anfang, der als in dieser Weise absolut neuer weder berechnet noch zielgerichtet sein kann. Hierzu Arendt (1964): „Und nun würde ich sagen, dass dieses Wagnis nur möglich ist im Vertrauen auf die Menschen. Das heißt, in einem – schwer genau zu fassenden, aber grundsätzlichen – Vertrauen auf das Menschliche aller Menschen.“