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Philosophie

Verteidigung des Liberalismus

Autor*in:Wolfgang Kersting
Verlag:Murmann Verlag, Hamburg 2009, 224 Seiten
Rezensent*in:Gerald Mackenthun
Datum:19.03.2025

Der Liberalismus ist die vorherrschende Lebensweise in den Demokratien. Dennoch hat er einen schweren Stand; vielfältig sind die Vorwürfe: Zerstörung des globalen Finanzsystems, mangelndes Bewusstsein für soziale Not, Ausbreitung von Individualismus und Egoismus, steigende Ungleichverteilung von Wohlstand bis hin zur Mitschuld an der Klimaerwärmung und am Raubbau an der Natur. Nicht zu leugnen ist hingegen, dass die liberale Ideologie maßgeblich zu Gesundheit, Wohlstand und Sicherheit insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen hat.

Wolfgang Kersting, Professor für Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, hatte 2009 nicht primär die zunehmenden autokratischen Tendenzen in vielen Ländern der Erde vor Augen, wenn er den Liberalismus verteidigt. Vielmehr will er die Liberalismuskritiker im eigenen Lande in die Schranken weisen. Sie hätten mit ihrer Kritik am „Neoliberalismus“ durchgehend unrecht. Chancengleichheit, bessere Bildung, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Wachstumspolitik, soziale Gerechtigkeit in Form des Sozialstaats und gar das Bürgergeld sind für Kersting unverzichtbare Bestandteile des Liberalismus oder doch wenigstens mit diesem vereinbar. Die Selbstregulation des Marktes über den Preis sei ein nicht zu übertreffendes Lenkungsprinzip, dessen Auswüchse immer auch durch staatliche Regulierung gemäßigt wurden. Die Neoliberalismuskritik aber sei nur eine leere Hülle, ohne substanzielle Theorie, vorgebracht von Verächtern des Kapitalismus.

Kerstings wortmächtiges Plädoyer für den Liberalismus ist weniger eine Verteidigung, eher eine Selbstvergewisserung. Wirtschaftliche Freiheit und sozialer Ausgleich lassen sich ohne Weiteres vereinen. Nur an einem Punkt ist der Autor alarmiert. Es ist der ungehemmte Ausbau des Sozialstaats, der die Subsidiarität und die Selbstausformung der Menschen hemmt und sie zu verwöhnten Empfängern staatlicher Zuwendungen macht. Staatliche Transferleistungen steigen ins Unermessliche. Immer neue Wohlfahrtsprogramme entmündigen die Bürger und lassen die Staatsverschuldung wachsen.

Der Liberalismus scheint die letzte verbleibende Kraft zu sein, die sich für einen ausgewogenen Staatshaushalt und die Schuldenbremse einsetzt. Der Autor möchte dem Liberalismus eine gewisse Schärfe zurückgeben, die darin besteht, dass vom Individuum eine zumutbare Mündigkeit erwartet werden darf. Niemand sollte es sich zu einfach machen. Die „Selbstmächtigkeit“ (Kersting) scheint allerdings eine Zielmarke zu sein, die nicht von allen, vielleicht sogar nur von wenigen erreicht werden kann. Kerstings Essay betont die Freiheit und die mündige Selbstverantwortung der Individuen. Sein Bild vom Liberalismus kann allerdings Ängste bei jenen hervorrufen, die sich von diesem Freiheitsanspruch überfordert fühlen. Die liberale Ideologie scheint nur etwas für mutige und wache Geister zu sein.

Wie würde Kersting auf die zusätzlichen Ausbrüche von Individualismus reagieren, die seit dem Erscheinen seines Buches 2009 stattgefunden haben? Woke-Sein, Gender Studies, Identitätspolitik, Rassismus- und Kolonialismuskritik müssen nach landläufigem liberalem Verständnis toleriert werden. Tolerieren heißt, etwas hinnehmen, was man ablehnt. Toleranz ist ein Merkmal des Liberalismus. Aber was der Staat an politischer Neutralität an den Tag legen muss, gilt nicht für das Individuum. Der liberale Mensch hat ein Recht auf Widerspruch und Abwehr von Zumutungen.

Kersting kennt nur einen Vorwurf, den man dem neuzeitlichen Liberalismus machen kann: seine mangelnde Selbstverteidigung. Es gebe keinen einzigen Liberalen, der sich für Rassismus, Kolonialismus, Sklaverei und Ausbeutung eingesetzt hätte, betont er. Es sei sehr wohl mit dem Gedanken des Liberalismus vereinbar, dem Markt Beschränkungen aufzuerlegen. Dieser brauche eine sozialstaatliche Ordnung, um Chancengleichheit zu gewährleisten. Aber Kersting wendet sich entschieden gegen die Tendenz zum staatlichen Ausgleich jedweder Benachteiligung. Die stärkste Bedrohung für den Liberalismus geht von einem ausufernden Wohlfahrtsstaat aus, der die Bürger passiv macht. Der Sozialstaat müsse sich auf die formale Chancengleichheit konzentrieren und in nur dieses Feld investieren.

Kersting bleibt prinzipiell. Die Aufgabe liberaldemokratischer Politik sei es, Menschenrechte zu institutionalisieren, Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten, Formen der Unterdrückung und Diskriminierung zu beseitigen und allgemein zugängliche Bildung- und Ausbildungsstätten zu schaffen, die allen den Erwerb grundlegender Allgemeinbildung und eine Entwicklung ihrer Talente und Begabungen gestattet. Die weltweite Tendenz zum Autoritarismus und Despotismus konnte der Autor noch nicht ahnen, die Flüchtlingskrise 2015 und der Überfall Russlands auf die Ukraine standen noch bevor.

Auch im deutschen Schicksalsjahr 2024 ging es ums Geld: Kann die militärische Verteidigung Europas gegen Russland zugleich mit einem Ausbau des Sozialstaats gestemmt werden? Sozialdemokraten, Grüne und Linke sagten Ja, nur die FDP verneinte. Die Koalitionsregierung zerbrach.  Doch um Beispiele geht es in diesem Buch nicht. Was Kerstings liberale Prinzipien für die aktuellen politischen Herausforderungen bedeuten, wird nicht durchdekliniert. So bleibt es im Wesentlichen bei einer Rekapitulation liberaler Prinzipien ohne Hinweise auf Anwendung im konkreten Fall.