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Philosophie

Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit

Autor*in:Karl Jaspers
Verlag:Schwabe, Basel 2024, 132 & 246 Seiten
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:20.04.2025

In der vom Schwabe-Verlag in Basel hervorragend edierten Karl Jaspers Gesamtausgabe erschien jüngst ein Band mit zwei kleineren Schriften des Philosophen, die beide trotz ihres überschaubaren Umfangs die Entwicklung seines Denkprofils prägnant widerspiegeln: Die geistige Situation der Zeit aus dem Jahr 1931 sowie Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit aus dem Jahr 1950.

In Die geistige Situation der Zeit analysierte Jaspers die Anfang der 30er Jahre sicht- und spürbaren gesellschaftlich-kulturellen Veränderungen in Deutschland und Europa. Sehr richtig diagnostizierte er eine zunehmende Herrschaft der Massen, ohne dass ihm damals schon die potentiell ungeheure Gefahr und Inhumanität bewusst geworden wäre, die vom Nationalsozialismus und Faschismus in den darauffolgenden Jahren zu gewärtigen war. Aber eine allgegenwärtige und umfassende Unsicherheit im Hinblick auf die Daseinsformen und Daseinsmöglichkeiten registrierte Jaspers bereits seinerzeit und schrieb in Formulierungen, die von uns Heutigen stammen könnten: "Alles ist fraglich geworden; alles sieht sich in seiner Substanz bedroht. Wie sonst die Wendung geläufig war, wir lebten in einer Übergangszeit, so ist jetzt in jeder Zeitung von Krise die Rede" (S. 50).

Neben den staatlichen Strukturen und Institutionen untersuchte Jaspers in seinem Text vor allem die kulturellen Bereiche von Wissenschaft, Technik, Kunst und Philosophie sowie von Erziehung und Bildung. In vielerlei Hinsicht sah er sich gezwungen, von einem Verfall des Geistes zu sprechen, so etwa bezüglich eines nivellierenden Bildungsbegriffs, der allenfalls noch das spezialistische Können, nicht aber die Tiefe, Breite und Höhe des früheren Bildungsbürgers und der durchgebildeten Persönlichkeit gelten ließ: "Nunmehr bedeutet Bildung etwas, das nie eine Form gewinnt, sondern in außerordentlicher Intensität aus einer Leere herauskommen möchte, in die man stets zurückfällt" (S. 74).

So sehr Jaspers auch in den Wissenschaften vom Menschen (z.B. Soziologie, Psychologie, Psychoanalyse) oder in den Künsten (z.B. in der Theaterkunst eines Erwin Piscators) ebenso wie in der Öffentlichkeit und in den Medien die erwähnten Krisenmomente widergespiegelt sah, so sehr war er überzeugt, dass der Einzelne dieser geistigen Situation nicht ausweichen könne oder sich in nostalgische Welten der Vergangenheit zurücksehnen solle. Im Gegenteil: "Der Mensch kann der Situation nicht ausweichen, nicht zurücktreten in unwirkliche, weil vergangene Bewusstseinsformen... Eines Tages würde die eherne Wirklichkeit ihm wieder vor Augen stehen und ihn ratlos machen" (S. 124).

Stellte Jaspers in Die geistige Situation der Zeit den Begriff der Situation in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, rückte er zwanzig Jahre später in Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit den Topos Vernunft ins Zentrum seiner Reflexion. In drei Kapiteln, die aus drei Gastvorlesungen entstanden sind, die der Philosoph an der Universität Heidelberg 1950 gehalten hatte, verdeutlichte Jaspers, welch wesentliche Bedeutung er der Vernunft in seinem eigenen Denken wie in der Kultur ganz generell zumaß. Diese drei Kapitel sind überschrieben mit: Die Forderung der Wissenschaftlichkeit; Vernunft sowie Die Vernunft im Kampf.

Im ersten Kapitel Die Forderung der Wissenschaftlichkeit betonte Jaspers vor allem den Unterschied von subjektiven Werturteilen einerseits und wissenschaftlichen, also objektiv oder zumindest intersubjektiv prüfbaren Tatsachenbehauptungen. Wieder meint man, der Autor formuliere und schreibe für unsere Zeit, wenn er Vernunft nur gewährleistet erlebte, wenn eine scharfe und konsequente Grenzziehung zwischen dem bloßen Meinen, Vermuten und Glauben einerseits und dem empirisch überprüfbaren und auf Fakten basierenden Wissen und Erkennen andererseits verwirklicht wird. Wo derlei nicht realisiert wird und subjektive "Tatsachen" oder "Wahrheiten" die faktengesättigten und zugleich skeptisch, also fragend vorgehenden Wissenschaften übertönen und dominieren, wird die Basis des Zusammenlebens in einer Sozietät in Frage gestellt oder völlig unterminiert.

Diese verbindende und einigende Kraft der Vernunft ("Vernunft verbindet, bloßes Dasein trennt." - S. 160) wurde von Jaspers im zweiten Kapitel von Vernunft und Widervernunft weiter erläutert. Eindrücklich beschreibt er, wie der Einzelne sich regelrecht zur Vernunft und zu einem vernunftbegabten Dasein entschließen muss - denn ganz von alleine ist und wird keiner von uns vernünftig. Und ähnlich, wie wir als Individuen beschränkt bleiben, wenn wir es nicht lernen, unseren eigenen Verstand zu gebrauchen, ergeht es ganzen Sozietäten, denen der Vernunftgebrauch vorenthalten wird; Jaspers meinte hierzu:

Wahrheit kann vernichtet werden... Totalitäre Staaten zeigen, dass ganze Bevölkerungen sich dumm machen lassen durch Vorenthaltung von Nachrichten, durch Verbot freier öffentlicher Diskussion, durch Gewöhnung an ständig wiederholte Unwahrheit (S. 160f.).

In Die Vernunft im Kampf (drittes Kapitel) geht es Jaspers um die Fragilität jener Einstellung und Haltung von Einzelnen, Gruppen und Sotietäten, die man landläufig vernünftig nennt. In diesen Passagen spürt man, wie sehr der Philosoph zusammen mit seiner Frau Gertrud unter der nationalsozialistischen Barbarei gelitten hat (Gertrud war jüdischer Abstammung, und das Ehepaar fürchtete lange Zeit, Opfer einer Deportation zu werden), und wie sehr er diese Gewaltherrschaft als durch Vernunftlosigkeit jener bedingt einordnete, die Hitler und die Seinen durch ihr Wahl-Verhalten erst zur Macht verholfen haben:

Die Vernunftlosigkeit folgt in ihrer Leerheit ohne Würde des eigenen Menschseins einem Rattenfänger von Hameln, der mit halbem Bewusstsein den Betrug inszeniert. Seine Unphilosophie scheint zunächst harmlos, wenn sie in einer freien Welt einen wunderlichen Lärm macht. Aber sie hat politische Bedeutung. Mit der Preisgabe der Freiheit der Vernunft bereitet die Unphilosophie den Menschen vor zur politischen Unfreiheit (S. 172).

So wie in diesem Zitat überkommt den Leser von Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit immer wieder der Eindruck, als habe Jaspers nicht vor einem dreiviertel Jahrhundert seinen Text verfasst, sondern kommentiere aufgrund der aktuell uns umtreibenden politischen Verhältnisse weltweit das Tagesgeschehen. Wer also grundsätzlichere und tiefschürfende Gedanken zu den uns beunruhigenden Nachrichten aus Politik und Gesellschaft von gestern, heute und morgen lesen möchte, dem empfehle ich diese beiden "uralten" Abhandlungen von Karl Jaspers.