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Philosophie

Tief ist der Brunnen der Vergangenheit – Mythos, Logos und Person

Autor*in:Gerhard Danzer
Verlag:Springer-Verlag, Heidelberg – Wiesbaden 2022, 367 Seiten
Rezensent*in:Matthias Voigt
Datum:05.09.2022

Tief ist der Brunnen der Vergangenheit – so lautet der Titel des neuen Buches von Gerhard Danzer. Was da auf über 350 Seiten ausgelotet wird, ist die Dimension des Mythologischen in der Menschenwelt. Mythos, Logos und Person – diese Sachverhalte werden darin in immer neue Beziehungen gesetzt. Für uns Leser zwar keine leichte, aber doch auch keine schwerverdauliche Kost. Unsereins liest eine solche Gesamtdarstellung nur häppchenweise, was der Autor wohl nicht verübeln wird. Man kann und darf dieses schöne Buch wie eine Enzyklopädie nach jeweiligem Bedarf konsultieren. Zu einem solchen Gebrauch des Textes wie auch diverser Mythen will der Autor offenbar anregen.

Einleitend bezieht sich der Verfasser auf die Josephs-Romane, mit denen Thomas Mann seine lehrreichen Kommentare zur anthropologischen Rolle des Mythologischen in der Kultur quasi als Fallgeschichte abgeliefert hat. Als Dichter ging er die Sache so an, dass er uns im Rahmen einer „Sippenaufstellung“ am Beispiel des biblischen Joseph miterleben lässt, was mit dem lebensdienlichen Vermögen der Bindung ans Mythologische gemeint ist. Dies scheint in einer zeitlosen Dimension auf, als Wiederholung eines Gleichbleibenden, das aber mehr als eine bloße ewige Wiederkehr des Immergleichen ist.

Im Wörtchen einst, mit dem so manches Märchen einsetzt, klingt dieses Verschwimmen der Grenzen zwischen Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem an. Über die dadurch bewirkte lebendige Vergegenwärtigung eines uralten Geschehens berichtet auch kurz Gerhard Danzer in seinem hier angezeigten Buch: Als Thomas Mann seiner Sekretärin den Roman zu Ende diktiert hatte, habe diese spontan ausgerufen, nun wisse man endlich, wie es damals wirklich war. Gibt es eine überzeugendere Bestätigung für die Zauberkraft des Dichters bzw. eines Mythos?

Über Thomas Manns Bestimmung des Mythologischen in unserem Leben erfahren wir, dass es sich dabei – bezogen auf die Kulturentwicklung – um eine frühe Modalität der Orientierung in der Umwelt handele; im Leben des Einzelnen jedoch zeige sich dieses Strukturmoment einer Lebensführung dagegen erst spät. Das macht womöglich verständlich, warum Gerhard Danzer sein Buch erst bei Erreichen der Pensionsgrenze schrieb. Besonders im ersten Teil des Bandes, in dem die einzelnen Kulturbereiche auf ihre mythologischen Gehalte hin befragt werden, ahnt man (insbesondere bei dem Kapitel über die Medizin), auf wie viele Berufsjahrzehnte Erfahrung hier zurückgegriffen wird; und der Leser spürt, dass es dabei eventuell nicht nur um eine Ausdeutung von Traditionssträngen der Medizin, sondern auch des eigenen Arzt-Seins des Autors geht.

Solche Motive klangen für mich insbesondere auch in dem Kapitel an, das der Psychologie gewidmet ist: Wir erfahren hier, wie zwei bedeutende Pioniere der Tiefenpsychologie zum Mythos standen. Carl Gustav Jungs Überbetonung des „Zurück zu unseren Wurzeln“ behagt dem Autor Danzer vernehmbar weniger als Sigmund Freuds Umgang mit dem Mythos. Berichtet wird von dessen Identifizierung mit der Moses-Figur und auch von seiner Selbstanalyse in der Traumdeutung; beides prägte entscheidend den geistigen und sozialen Habitus von Freud.

Was Gerhard Danzer im zweiten Teil seines Buches an Gottheiten und Heroen-Figuren der griechischen Antike lebendig an uns vorüberziehen lässt, kannte ich oft nur vom Namen her. Der Autor präsentiert kurzweilig, was dieses bunte Völkchen ihm und uns an Anregungen zur Daseinsgestaltung aus uralten Zeiten mitzuteilen hat, und welche anthropologischen und psychologischen Motive in den verschiedenen mythischen Figuren, Orten oder Begebenheiten Altgriechenlands zu entdecken sind.

Mich selbst besuchte beim Lesen zuweilen eine altgriechische Mythenfigur namens Momos. Dieser mir nicht unvertraute Gott der Kritik beharrte darauf, dass ihm doch wenigstens ein Schmäh-Opfer zustehe: Wenn’s denn nun sein soll – ich habe mich manchmal gefragt, warum der Autor zwar darauf hinweist, dass zu den einzelnen Mythen oftmals unauflösbar Rituale dazugehörten, ihn jedoch deren Rolle im Mythologischen weniger zu interessieren scheinen. In der mythischen Praxis nämlich bedeuteten die Rituale nicht selten lebensförderliche Formen.

Danzers Neigung und Interesse gilt aber offenbar mehr den ideellen Seiten von Mythen, mit deren Aspekten der Leser allerdings reich beschenkt wird. Das dürfte nachhaltig anregend wirken in einer Welt, in der so vieles nur zum alsbaldigen Verbrauch bestimmt ist. Beim Lesen sind wir jedenfalls auf eindrückliche Weise einbezogen, am Sinn und an der Bedeutung dieser uralten Erzählungen teilzuhaben. Thomas Mann hatte seine Josephs-Romane ausdrücklich seiner aufgeklärten Leserschaft ans Herz gelegt, damit sie mithelfe, die Mythen nicht den Nationalsozialisten oder anderen totalitär Gesinnten zu überlassen. Ähnlich emanzipiert sowie Vernunft- und Logos-orientiert – so kann man die Grundtendenz des Mythen-Buches von Danzer verstehen – dürften wir im 21. Jahrhundert mit den Mythen Altgriechenlands umgehen.