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Philosophie

Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik

Autor*in:Hannah Arendt
Verlag:Wallstein, Göttingen 2021, 969 Seiten
Rezensent*in:Annette Schönherr
Datum:02.07.2024

Ursprünglich als Habilitationsschrift konzipiert, stellt dieses Buch eine entscheidende Zäsur im Werk Hannah Arendts dar. Gewidmet war es ihrer Jugendfreundin Anne Mendelsohn-Weil. Sie hatte mit ihrem Geschenk der dreibändigen Ausgabe Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde (1834) den Anstoß für Arendts Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk Rahel Varnhagens im Jahre 1921 gegeben.

Die Erschütterungen der politischen Katastrophe des Totalitarismus sind dem Werk eingeschrieben und haben es inhaltlich verändert. In der Folge setzte sich Arendt verstärkt als Jüdin ins Verhältnis zur Welt und war geleitet von der konsequent innerjüdischen Perspektive und ihrer Überzeugung, dass es ohne Einsicht in die Verschiedenheit der Menschen keine Grundlage für eine gemeinsame Welt geben könnte. Diesen politischen Umbrüchen war es auch geschuldet, dass sich die Entstehung wie auch die Publikations- und Rezensionsgeschichte dieses Buches als außerordentlich schwierig und problematisch gestaltet hatte.

Die erste, zur Zeit der Weimarer Republik in Frankfurt am Main und Berlin geschriebene sogenannte Berliner Fassung hatte Arendt bereits 1933 vor ihrer Flucht aus Deutschland fertiggestellt. Sie ist ohne Titelblatt und Inhaltsverzeichnis überliefert und versehen mit getippten Einfügungen der Autorin. Naheliegend ist es, dass Arendt diesen Text in großer Eile verfasste und nicht noch einmal durchlesen konnte. Darauf verweisen auch das verwendete Papier unterschiedlichen Formats, die verschiedenen Kohlepapiere und das differierende Schriftbild mit jeweils anders gearteten Tippfehlern.

Bei der Abschrift des Textes wurde Arendt offenbar von mehreren Schreiberinnen in ihrer Arbeit unterstützt. Als Vorlage diente ihnen ein älteres Typoskript mit vielen handschriftlichen Einfügungen, die in dreifacher Ausfertigung abgeschrieben und an sichere Adressen verschickt wurden. Erst während des Pariser Exils hatte Arendt zwischen 1937-1938 die abschließenden Kapitel „Parvenü“ und „Paria“ verfassen und in dieses Werk einfügen können.

Publiziert aber wurde nicht diese Pariser Fassung, sondern ihre von Arendt im ersten Halbjahr 1956 stark veränderte Überarbeitung als New Yorker Version, die von den Übersetzern wiederum ins Englische (nicht zur völligen Zufriedenheit Arendts) übertragen wurde. Sowohl die deutsche als auch die englische Buchfassung weichen von der New Yorker Version ab, weshalb Arendt auch diese noch einmal überarbeitet hatte.

Hannah Arendts Überlegungen zum Totalitarismus sind in die Pariser Fassung der Rahel-Studie eingearbeitet, die somit als eine Art Vorarbeit für Arendts erstes Hauptwerk The Origins of Totalitarianism (1951) zu werten ist. Nach vielen Verwicklungen und Querelen auf beiden Seiten des Atlantiks konnte die Rahel-Studie 1956 endlich fertiggestellt und in England durch die East and West Library 1958, in Deutschland durch den Verlag Piper 1959 und in den USA durch Harcourt Brace Jovanovich 1974 publiziert werden.

Der Entstehungsprozess des Werkes ist in der vorliegenden Wallstein-Ausgabe detailliert nachvollziehbar. Es gehört zu einer in siebzehn Teile gegliederten historisch-kritischen Ausgabe der von Hannah Arendt publizierten Arbeiten sowie aller nachgelassenen Texte, die als Hybrid-Edition (Print und Digital) konzipiert ist. Alle Texte, Kommentare und Anmerkungen werden hier in der jeweilig geschriebenen Sprache präsentiert und sind so erstmalig für die Forschung und die Allgemeinheit erschließbar.