Phänomenologie der Normativität
Autor*in: | Matthias Schloßberger |
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Verlag: | Schwabe Verlag, Basel 2019, 259 Seiten |
Rezensent*in: | Gerhard Danzer |
Datum: | 25.11.2022 |
Matthias Schloßberger, seines Zeichens Philosophie-Professor sowohl an der Freien Universität Berlin als auch an der Viadrina in Frankfurt/Oder, hat vor wenigen Jahren seine Phänomenologie der Normativität publiziert. Als Untertitel dieses Buches wählte er: Entwurf einer materialen Anthropologie im Anschluss an Max Scheler und Helmuth Plessner – ein Untertitel, dem man vor allem hinsichtlich des Namens Helmuth Plessner anmerkt, dass Schloßberger an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam beim Plessner-Spezialisten und Plessner-Weiterdenker Hans-Peter Krüger promoviert und habilitiert wurde.
In seinem Buch spürt Schloßberger dem Zusammenhang von Ethik und Moral einerseits sowie Anthropologie andererseits nach. Dass es und wie es Normativität gibt, so die Ausgangs- und Hauptthese des Autors, gründet in der menschlichen Natur – wobei Schloßberger den Begriff der menschlichen Natur in seinem doppelten Sinn (konkretistisch als menschliche Biologie wie auch im übertragenen Sinn als Wesen des Menschen) verstanden wissen möchte. Material nennt er seine Ausführungen zur Anthropologie im Gegensatz zu einer rein formalen Anthropologie, weil er nicht davor zurückschreckt, starke positive Aussagen zu den wesentlichen Eigenschaften des Menschen und des Mensch-Seins zu formulieren. Als Ausgangspunkte für seine Überlegungen dienen ihm die philosophisch-anthropologischen Schriften von Max Scheler und Helmuth Plessner.
Bezugnehmend auf Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) sowie Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch (ebenfalls 1928) rekonstruiert Schloßberger deren Idee einer Grundstruktur der menschlichen Existenz (Seite 123ff.). Dabei wird deutlich, dass Scheler mit seiner kurzen Schrift das Thema und die Aufgabenstellung einer derartigen Grundstruktur und ihrer Darstellung zwar prägnant benannt, aber nicht ausgeführt hat. Bedeutend umfänglicher und ausführlicher hat Plessner in seinen Stufen die (mögliche) Grundstruktur der menschlichen Existenz beschrieben, wobei er vor allem auf die beiden Begriffe Körper (den wir haben) und Leib (der wir sind) sowie auf die beiden Daseins-Zustände der zentrischen und der exzentrischen Positionalität zurückgriff.
Ausgehend von der Positionalität des Menschen sowie vom körperleiblichen Existieren zeigt Schloßberger nun auf, inwiefern aus dieser Grundstruktur der menschlichen Existenz diverse Normen und ethische Implikationen erwachsen respektive inwiefern in ihr eine gewisse Normativität implizit mitenthalten ist. Mehrfach betont der Autor dabei, dass ihm die Sein-Sollens-Falle wohlbekannt ist – eine Falle, in die man tappt, sobald man aus dem So-Sein der Welt oder des Menschen (Ontologie bzw. Anthropologie; theoretische Philosophie) ein fixiertes Soll-Sein (Ethik und Moral; praktische Philosophie) ableitet.
Körperleibliches Existieren bedingt für jeden Einzelnen von allem Anfang an eine wie auch immer geartete Bezugnahme zu Mitmenschen. Noch vor jeglicher bewussten und verbalen Gestaltung dieser Beziehung ereignet sich soziales Mit-Sein bereits pränatal und postnatal und setzt sich – nicht selten in Gesten, Mimik, Haltung exprimiert – als emotionaler, kognitiv-intellektueller, sozialer und körperlich-leibhaftiger Kommunikationsprozess bis zum Lebensende eines Individuums fort. Als Formen des dabei implizit stets mitenthaltenen Ethischen erläutert Schloßberger nun beispielsweise den Primat der Liebe, Schelers Theorie der sozialen Sphären oder auch Plessners Ethik des Takts:
Die Aufgabe, vor der die Menschen qua ihrer Natur als auf Ausdruck angewiesene Lebewesen stehen, lautet in etwa so: Menschen wollen lieben, und wenn sie lieben, wollen sie verstanden werden. Sie wollen dem anderen Zugang gewähren zu ihrer Seele, zu ihren Gefühlen… Jedes Sich-Öffnen, das dem Drang nach Offenbarung und Verstanden-Werden folgt, ist riskant, weil es die Gefahr endgültiger Beurteilung in sich birgt… Dem Drang und Wunsch, sich auszudrücken, stehen Drang und Wunsch, sich zu verbergen, zur Seite (S. 159).
Die Phänomenologie der Normativität enthält viele derartige Darlegungen, an denen Schloßberger die überaus enge Korrelation anthropologischer Befunde und ethisch-normativer Ausgestaltungen der menschlichen Existenz demonstriert. Besonders gelungen erscheint mir dabei neben der inhaltlich hochfeinen Erörterung diverser Gedankengänge von Scheler, Plessner und vieler weiterer Philosophen der sehr verständlich gehaltene Sprachduktus dieses Autors. Schloßberger schreibt so nachvollziehbar luzide und klar, dass auch Nicht-Philosophen ihn und seine Argumentation verstehen können. Wer Max Schelers oder Helmuth Plessners Denken oder aber ethisch-moralische Begriffe wie Würde und Entwürdigung in ihrem Wesen und in ihrer Entstehung besser kennenlernen will, ist deshalb mit der Phänomenologie der Normativität bestens bedient.