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Philosophie

Krankheit und Gesundheit in der späten Philosophie Friedrich Nietzsches

Autor*in:Marina Silenzi
Verlag:de Gruyter, Berlin 2024, 318 Seiten
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:30.05.2024

Ein Buch über Krankheit und Gesundheit in der späten Philosophie Friedrich Nietzsches zu verfassen, ist aus mehreren Motiven heraus nachvollziehbar und verständlich: Einerseits hat der Philosoph in vielen seiner Texte Themen der (körperlichen) Krankheit und Gesundheit im Hinblick auf ihre Genese oder Gefährdung ausführlich bedacht; des weiteren hat Nietzsche dabei bereits im 19. Jahrhundert Krankheits- und Gesundheits-Konzepte entworfen, die überaus modern anmuten (z.B. Verzicht auf ausschließende Gegensätzlichkeit von Krankheit und Gesundheit); und außerdem war er als häufig von Krankheitssymptomen Geplagter und Betroffener (massive Schmerzattacken; Seh- und Bewusstseinsstörungen; wahnhafte Erkrankung) prädestiniert, den ineinandergreifenden Wechsel von mehr oder weniger gesunden respektive kranken Phasen am eigenen Leib zu beschreiben.

Ein Psychologe – so Friedrich Nietzsche in Die Fröhliche Wissenschaft  – kenne wenig so anziehende Fragen wie die nach dem Verhältnis von Gesundheit und Philosophie, und für den Fall, dass er selber krank wird, bringe er seine ganze wissenschaftliche Neugier mit in die Krankheit. Nietzsche hatte wohl recht mit seiner Ansicht, und womöglich lohnt es auch für Nicht-Psychologen, den Fragen nach Krankheit und Gesundheit auf den Grund zu gehen. 

Konstitution, Immunstatus, lebensgeschichtlich relevante Vorerkrankungen, genetische Ausstattung, Risikofaktoren, Gefühle, Stimmungen, Affekte, soziale Situation, Konflikte, Umgang mit Begrenzungen, weltanschauliche Überzeugungen und die pathogenen Potenzen (Krankheiten auslösende Kraft) von Viren, Bakterien, Pilzen, Strahlen, Giften und Traumen entscheiden im Einzelfall mit darüber, ob Menschen krank werden oder gesund bleiben.
Neben der Technik des Typisierens und Verallgemeinerns in der Medizin braucht es demnach die Kunst des Individualisierens, ohne die es im konkreten Einzelfall keine realitätsgerechte Beschreibung gesunder oder kranker Zustände von Menschen gibt. Unterschiedliche Entwicklungsbedingungen und verschiedene Ziele, Werte, Sinn- und Bedeutungszuschreibungen bei den Einzelnen machen die Definitionsversuche genereller Gesundheits- und Krankheitsbegriffe zum problematischen Unterfangen. Auf viele dieser Zusammenhänge hat bereits Friedrich Nietzsche hingewiesen:

Denn eine Gesundheit an sich gibt es nicht, und alle Versuche, ein Ding derart zu definieren, sind kläglich missraten. Es kommt auf dein Ziel, deinen Horizont, deine Kräfte, deine Antriebe, deine Irrtümer und namentlich auf die Ideale und Phantasmen deiner Seele an, um zu bestimmen, was selbst für deinen Leib Gesundheit zu bedeuten habe. Somit gibt es unzählige Gesundheiten des Leibes (Nietzsche, F.: Die fröhliche Wissenschaft (1882), in: KSA 2, München Berlin 1988, S. 477).

Ein integraler Gesundheits- und Krankheitsbegriff, so Nietzsche, sollte also die Tatsache berücksichtigen, dass allgemeine Definitionen nicht weit genug tragen. Individuen sind unverwechselbar wie Kunstwerke, und das individuelle Dasein mitsamt seinen gesunden und kranken Anteilen gleicht einem künstlerischen Spiel, das von Lebensstil, Vitalität, zwischenmenschlichen Beziehungen, Wertorientierung, Weltanschauung und der Biographie des Einzelnen moduliert wird.

Für eine Aufrechterhaltung der Gesundheit bedarf es der Hygiene, der Sorge um sich, des Gesundheitssinns, um klug entscheiden zu können, welche Nahrung, zwischenmenschliche Kontakte oder Gedanken ausgewählt und inkorporiert und welche gemieden werden sollen. Diese Themen erinnern an die res non naturales, die „nicht natürlichen“ Angelegenheiten der Lebensgestaltung wie Ernährung, Wachen und Schlafen, Muße und Arbeit sowie Verkehr mit anderen, die von der antiken Philosophie und Medizin als entscheidend für das Glück oder Unglück eines Menschen angesehen wurden. In Anlehnung daran hat Nietzsche mehrfach betont, wie sehr man den kleinen Dingen des Lebens seine Aufmerksamkeit schenken soll:

Diese kleinen Dinge Ernährung, Ort, Klima, Erholung, die ganze Kasuistik der Selbstsucht – sind über alle Begriffe hinaus wichtiger als alles, was man bisher wichtig nahm. Hier gerade muss man anfangen, umzulernen … Alle Fragen der Politik, der Gesellschaftsordnung, der Erziehung sind dadurch bis in Grund und Boden gefälscht, dass man die „kleinen“ Dinge, will sagen die Grundangelegenheiten des Lebens selber verachten lehrte (Nietzsche, F.: Ecce homo (1888/89), in: KSA 6, München Berlin 1988, S. 295f.).

Es war ebenfalls Nietzsche, der darauf verwies, dass die Entscheidungen hinsichtlich der kleinen Dinge des Lebens zur Ausbildung von Geschmack beitragen. Unter Geschmack verstand der Philosoph die Fähigkeit des Einzelnen, individuelle Urteile darüber zu treffen, welche Form der Lebensgestaltung (Ernährung, Wohnen, Umgang mit anderen Menschen, Aufnahme von geistigen Inhalten wie Musik, Malerei, Dichtung usw.) für sein Wesen zuträglich ist. Wer hier fehlgeht, achtet eventuell sein Selbst zu wenig und gefährdet seine Gesundheit.

Alle diese und viele weitere Aspekte der Krankheits- und Gesundheits-Konzepte Friedrich Nietzsches hat die Marina Silenzi im vorliegenden Buch sehr gekonnt und auf gut lesbare Manier zusammengetragen. Frau Silenzi wurde mit dieser Monografie 2020 an der Universität Basel promoviert.