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Philosophie

Karl Jaspers' Reflexionen zur Politik

Autor*in:Anton Hügli & Kurt Salamun (Hrsg.)
Verlag:Schwabe Verlag, Basel 2025, 226 Seiten
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:02.03.2025

Im Herbst 1946, also ein Jahr nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs, wurden in Genf die ersten Rencontres internationales de Genève (Internationale Genfer Begegnungen) organisiert. Zwei Wochen lang diskutierten Intellektuelle aus Ländern, die bis vor kurzem noch gegeneinander Krieg geführt hatten, über den Geist Europas. Dieses Treffen war als Reaktion auf das verheerende Gemetzel des Weltkriegs, auf die ideologischen Wüsten von Faschismus, Nationalsozialismus, Bolschewismus und Stalinismus sowie auf den sich abzeichnenden Ost-West-Konflikt (Kalter Krieg) gedacht; unter anderem Stephen Spender, Georg Lukacs, Jean Rudolph von Salis, Denis de Rougemont, Maurice Merleau-Ponty, Jean Starobinski, Julien Benda, Lucien Goldmann und Karl Jaspers nahmen an den Rencontres in Genf als Referenten und/oder Diskutanten teil.

Letzterer, Karl Jaspers, trug einen Text mit dem Titel Vom Europäischen Geist vor, der ein Jahr später publiziert wurde. Darin erwies er sich als philosophischer Denker, der ähnlich wie in anderen Veröffentlichungen (z.B. Die Schuldfrage, 1946; Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, 1958; Wohin treibt die Bundesrepublik, 1966; Hoffnung und Sorge - Schriften zur deutschen Politik, 1965) zu Fragen und Themen der Zeitgeschichte Stellung bezogen hat. Im hier angezeigten Buch wird einerseits der Text Jaspers' Vom Europäischen Geist abgedruckt und andererseits ein Teil der seinerzeitigen Reaktionen darauf wie auch einige jüngere Einordnungsversuche nachgezeichnet.

Jaspers fragt in seinem Text nach kennzeichnenden Elementen und Attributen von Europa. Als wesentlich erschien ihm etwa das Leben in Polaritäten: Europa hat (so Jaspers) zu jeder historischen, gesellschaftlichen, sozialen, weltanschaulichen Position eine jeweilige Gegenposition entwickelt, und aus der Dynamik zwischen Position und Gegenposition, von Teil und Gegenteil (z.B. Ordnung versus Revolution; Antike versus Christentum; Theologie versus Philosophie) entsprangen seit Jahrtausenden Schöpfertum und multiple Innovationen.

Dieses Phänomen der vielfältigen Gegensätzlichkeiten war für Jaspers möglich vor dem Hintergrund eines fundamentalen Bekenntnisses zur individuellen wie auch kollektiven Freiheit - wobei die Geschichte Europas bis in die Gegenwart hinein vom Ringen um Freiheit geprägt war und ist: "Nur im Abendland hat der Anspruch der Freiheit zur Geschichte auch als Bewegung zur politischen Freiheit geführt" (S. 20). Hinzu kam und kommt in Europa seit Jahrtausenden die Entwicklung von Wissenschaft und Philosophie, wobei von ihm vor allem die zirkuläre gegenseitige Beeinflussung von Freiheit und Wissenschaft hervorgehoben wurde.

Für die heutige, aktuelle Lektüre des Jaspers-Textes besonders interessant sind jene Passagen, in denen sich der Philosoph über die Rolle Europas in einer (nach dem Zweiten Weltkrieg) geopolitisch stark veränderten Welt reflektiert. Angesichts des 1946 bereits merklich spürbaren Antagonismus zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion beschrieb Jaspers den (überschaubaren) machtpolitischen Einfluss Europas nur dann als gegeben, wenn es sich zu einer Union weiterentwickelt (was 1946 noch in keiner Weise ausgemachte Sache war). Darüber hinaus könne Europa zum Prozess weg von den Welt-Imperien und hin zu einer Welt-Ordnung insofern produktiv beitragen, als es einer "Entzauberung der Staatengeschichte" sowie einer "Reinigung der Politik" das Wort reden sollte. 

Beides - die Entzauberung der Staatengeschichte inklusive die Entzauberung von Führern, Staatsmännern, sensationellen Taten wie auch die Reinigung der Politik (als Orientierung an Redlichkeit, Wahrhaftigkeit, kommunikativer Beziehungsgestaltung, Respekt und Würde) - kann Europa leisten, wenn es sich auf seine antike und humanistische Tradition sowie auf seine christlich-jüdischen Ursprünge besinnt. Letztere bedeuteten für Jaspers, der das Göttliche und Transzendente als Orientierung in seiner Existenzphilosophie gelten ließ, gewichtige Wegmarken seines Denkens.

Doch bei allen tradierten Wert- und Sinndimensionen beschrieb Jaspers für seine Zeitgenossen eindrücklich die Notwendigkeit, sich angesichts der unfassbaren Gräuel der jüngeren Geschichte Europas für grundlegende Metamorphosen des Althergebrachten offenzuhalten: "Der philosophisch ernste Europäer steht heute vor der Entscheidung zwischen entgegengesetzten philosophischen Möglichkeiten. Will er in die Beschränkung fixierter Wahrheit, der am Ende nur zu gehorchen ist - oder will er in die grenzenlos offene Wahrheit?" (S. 34).

Der Text Jaspers sowie die kundigen und besonnen abwägenden Essays und Kommentare dazu verdeutlichen das Spannungsfeld, in dem sich Europa auch acht Jahrzehnte nach den ersten Rencontres internationales de Genève befindet: Einerseits die real-, macht- und geopolitischen Gegebenheiten, die von Jaspers mit dem Hinweis auf die Dringlichkeit des Zusammenschlusses zu den Vereinigten Staaten von (West-)Europa beantwortet wurden, und die heutzutage von vielen Zeitgenossen mit ähnlich dringlichen Wünschen und Forderungen kommentiert werden. Und andererseits die existentiellen Situationen der je Einzelnen, die das Politische weit übersteigen und ins Philosophische ragen. Für Jaspers gehörten beide Sphären zusammen, und sowohl sein Text als auch die verschiedenen Erläuterungen dazu skizzieren einen "europäischen Geist", der auch zukünftig modellhaft wirken kann.