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Rezensionen
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Philosophie

Humanly Possible – Seven hundred years of humanist freethinking, enquiry and hope.

Autor*in:Sarah Bakewell
Verlag:Chatto & Windus, London 2023, 464 Seiten
Rezensent*in:John Burns
Datum:22.04.2023

Wie der Titel des neuesten Buchs Sarah Bakewells verkündet, hat sie sich wieder ein großes Projekt vorgenommen. Nachdem sie in How to Live: or A Life of Montaigne in one question and twenty attempts at an answer (2012) eine Art Ratgeber für den rastlos arbeitenden und urlaubsbedürftigen modernen Menschen anbot, schildert sie in Humanly Possible die Entwicklung des Humanismus von der Frührenaissance bis heute als ein Stück Kulturgeschichte, die uns brennend interessieren müsste. Während die Intellektuellen in At the Existentialist Café: Freedom, Being and Apricot Cocktails (2016) sich bisweilen mit ontologischen Fragen befassen, die durchschnittlich gebildete Leser und Leserinnen allein wegen der von Hegel inspirierten Begrifflichkeit kaum verstehen, imponieren die Humanisten, die Sarah Bakewell in ihrem neuesten Buch porträtiert, mit ihrem gemeinsamen Anliegen, zur Kultur ihrer jeweiligen Epoche einen wesentlichen Beitrag zu leisten und dadurch das Bildungsniveau zu heben.

Durch Vernunft, elegante Sprache und Empathie wollten sie auf die zentrale Rolle des Menschen in der kulturellen Evolution aufmerksam machen. Wenn wir unser Leben und das unserer Nachfahren humaner gestalten wollen, kommt es auf die Leistung eines jeden Individuums an. Vernachlässigen wir diese Aufgabe, setzen sich unter Umständen Ignoranz, Vorurteilsdenken und Totalitarismus im sozialen Alltag durch. Wie der Philosoph Thomas Hobbes in Leviathan (1651) beschrieb, sei das Leben des Menschen ohne eine gut geführte soziale Gemeinschaft „ekelhaft, bestialisch und kurz“.

Sarah Bakewell wurde 1963 in Bournemouth, Großbritannien geboren. Nach einer bewegten Kindheit an der Seite ihrer abenteuerlustigen Eltern, die mit ihr Australien erkundeten, studierte sie Philosophie an der Essex University, wo sie nach dem Examen über Martin Heidegger promovieren wollte. Sie verlor aber bald Interesse an der abstrakten Ontologie von Sein und Zeit (1927) und begann eine Karriere als Archivarin. In Humanly Possible beschreibt sie als „Kollegin“ der frühen Humanisten deren Suche nach verlorenen Manuskripten aus der griechischen und lateinischen Antike. Wenn die Gelehrten in den Klöstern Italiens fündig wurden, fertigten sie Kopien der Originale an, um sie der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Nach Erfindung der Druckerpresse durch Johannes Gutenberg (1400-1468) wurde die Verbreitung der Schriften der Gelehrten erleichtert. Sarah Bakewell zitiert hierzu den deutschen Literaturwissenschaftler Ernst Robert Curtius: „ … das wahre humanistische Temperament freut sich gleichzeitig über die Welt und das Buch.“

Die Geschichte des Humanismus kann nicht ohne Bezug zum Antihumanismus erzählt werden. Für jeden Petrarca, Boccaccio oder Erasmus von Rotterdam, die sich an der lateinischen Sprache und den Schriften der griechischen und römischen Antike ergötzen, gibt es einen Savonarola, der Bücher und Luxusgüter verabscheut. Mit religiösem Eifer fiel der unglückliche Mönch über alles her, was die Verehrer der Schriftkultur für wert und teuer hielten. Im 20. Jahrhundert verbrannten die Nationalsozialisten ebenfalls alle Schriften, von denen sie sich in ihrer Kleinkariertheit bedroht fühlten. Die Werte des Humanismus konnten sich gegen die antisemitische und menschenfeindliche Weltanschauung der Machthaber kaum durchsetzen.

Um welche Werte könnte es sich nun handeln? fragen wir uns an dieser Stelle. Wie der Titel des Buches verkündet, waren Humanisten vornehmlich Freidenker; sie zeichneten sich durch intellektuelle Neugier und Skepsis aus. Erasmus und andere Humanisten erschraken über die allgemeine Dummheit ihrer Zeitgenossen und wollten durch Erziehung und Bildung „Licht“ in die Welt setzen.

In jeder Epoche, die Sarah Bakewell beschreibt, setzten sich die Schriftsteller und Schriftstellerinnen sowohl mit der Philosophie ihres jeweiligen Zeitgeistes als auch mit universellen Themen auseinander. Der Philosoph Karl Jaspers nennt die philosophia perennis (dt. immerwährende Philosophie) „das Gespräch der wenigen großen Philosophen über die Zeiten hinweg. Damit wird auch jedes offene Problemdenken bezeichnet, das jedes kritische Bewusstsein begleitet“ (Jaspers zit. in: Schischkoff 1991, 559). Vom englischen Romanschriftsteller E. M. Foster übernimmt Sarah Bakewell den Leitspruch des Humanisten „only connect“, „stellt Beziehung her“.

Auch in unserer ethischen Haltung sollten wir bemüht sein, für unsere Mitmenschen Empathie zu empfinden. Wir gehören alle einer gemeinsamen Welt an und müssen die Borniertheit unserer Vorfahren überwinden, indem wir niemanden aus der ethischen Gemeinschaft auf Grund von ethnischer Herkunft, Gender oder Körperlichkeit ausschließen. Der moderne Humanismus ist nicht europazentriert oder patriarchalisch. Dass Schulen und Universitäten noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten haben, bis sie der Bildungsidee des Neuhumanisten Wilhelm von Humboldt genügen, liegt auf der Hand.

Das Buch empfiehlt sich für alle, die sich einen Überblick über das Thema verschaffen wollen. Wer sich für den Humanismus interessiert, erhält in den Fußnoten wertvolle Hinweise auf Autoren und Autorinnen, die sich auf das eine oder andere Thema spezialisiert haben. Als Psychologe fällt mir auf, dass die Autorin eine kunsthistorische, ideengeschichtliche Perspektive für ihr Thema gewählt hat, bei der die Tiefenpsychologie eindeutig fehlt. Wenn es um Aggression, Vorurteile und politische Macht geht, hätten ihr Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Alfred Adler, Karen Horney und Erich Fromm einige Erklärungsansätze bereitgestellt. Beim Thema Hoffnung hätte Sarah Bakewell die Philosophen Ernst Bloch und Hans Jonas konsultieren müssen.

weiterführende Literatur:
Danzer, G.: Wie wäre es, ein Mensch zu sein? Über das Humane für eine Welt von morgen. Springer Verlag, Wiesbaden 2020.
Rattner, J., Danzer, G.: Humanismus heute. In: Philosophie für den Alltag. WBG, Darmstadt 2004, 75-86.
Schischkoff, G.: Philosophisches Wörterbuch. Kröner, Stuttgart 1991.