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Rezensionen
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Philosophie

Hannah Arendt - Ein Leben

Autor*in:Willi Winkler
Verlag:Rowohlt, Berlin 2025, 512 Seiten
Rezensent*in:Annette Schönherr
Datum:29.12.2025

Der Schriftsteller, Literaturkritiker und Journalist Willi Winkler, geboren 1957, ist ein hochgelobter Autor vieler Bücher, der für sein Schreiben „unverbrauchter Gedanken in schöner Sprachallmacht“ und für seinen kritischen Journalismus vielfach ausgezeichnet wurde. Ehemals tätig als Kulturchef beim Spiegel und Redakteur bei der ZEIT, schreibt er langjährig auch für die Süddeutsche Zeitung.

Sein aktuelles Buch präsentiert uns jetzt die Intellektuelle Hannah Arendt als selbstbewusste und eigenständige Denkerin. Es reiht sich ein in die gewichtigen Biografien von Elizabeth Young-Bruehl (1982), Thomas Meyer (2023) und Grit Straßenberger (2025). Allein auf dem deutschen Büchermarkt herrscht nun gewiss kein Mangel mehr an Arendt-Biografien.

Nach der wegweisenden Lebensbeschreibung Young-Bruehls leuchtet Thomas Meyers Forschungsarbeit insbesondere Arendts Familiengeschichte und ihr Engagement für jüdische Organisationen im Exil neu und faktenbasiert aus, während Grit Straßenbergers ausgewogene Biografie besonders das Leben und Werk der politischen Denkerin Arendt ins Zentrum stellt. Willi Winkler zeichnet nun das faszinierende Porträt Arendts als einer intellektuellen Lebenserzählung von ganz besonderer Art.

In ihrem Wirken und in den intellektuellen Auseinandersetzungen ihrer Zeit wird Arendt ebenso wie in ihren Irrtümern und Wirrnissen erfrischend offen und respektlos, oftmals auch aus der Perspektive ihrer Protagonisten geschildert. Bei aller Kritiklust des Autors würdigt er Hannah Arendt als „undogmatische und antiautoritäre Zeitgenossin“, die immer wieder furchtlos Stellung bezog zu den verschiedensten Gegenwartsfragen und die keiner Konfrontation auswich.

Gewiss war sie „keine Heilige, aber eine stets gegenwärtige Zeitgenossin“(Jens Hacke), die nach eigenem Bekunden während ihrer Anwartschaft auf die ersehnte US-Staatsangehörigkeit „Republik lernte“(Sonning-Preis). In ganz besonderer Weise aber war sie eine öffentliche Intellektuelle, beweglich in ihrem Nachdenken, das die reflexive Tätigkeit des Gegenübers immer aufs Neue zum Weiterdenken herausforderte. Die Polemikerin Arendt nahm nichts für gegeben hin, sondern betonte die Vorläufigkeit all ihres Tuns und Schreibens als Bruchstücke ihres nie zu vollendenden Lebenswerks. Ihr „Denken ohne Geländer“, ohne Vorschriften und Handlungsanweisungen mündete in Liberalität und Antiautoritarismus, der unter anderem gespeist war aus Immanuel Kants Diktum, dass „niemand das Recht hat zu gehorchen“.

In den neunzehn Kapiteln seines Buches geht Winkler mit Könnerschaft den großen Themen Arendts nach. Das gelingt ihm, ohne die Leser zu langweilen oder das ohnehin Gewusste erneut aufzuwärmen: Thematisiert werden Arendts Weg in die Philosophie, ihre lebenslang ungelöste konflikthaft-erotische Beziehung zu ihrem Lehrer Martin Heidegger sowie ihre Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus. Betrachtet werden auch ihre Freundschaften etwa mit dem Ehepaar Jaspers, ihre Ehen mit Günther (Stern) Anders und Heinrich Blücher, ihr Amerikabild als New Yorker Intellektuelle sowie ihr kritischer Blick auf das Nachkriegsdeutschland mit den vielen NS-Kontinuitäten. 

Beeindruckend ist das umfangreiche Archivmaterial, aus dem der Autor schöpft, wobei er seine Interpretationen der Sachverhalte dezidiert bis ins Einzelne zu belegen weiß und dadurch für die Leser überprüfbar macht. Auch wenn einige seiner Interpretationen mit kleinen Fragezeichen zu versehen sind, so sind sie doch immer unkonventionell und unterhaltsam. Dieses Buch ist eine nicht nur für Fachleute, sondern auch für Arendt-Neulinge zu empfehlende, originelle, tiefgründige sowie kurzweilige und spannende Lektüre.