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Philosophie

Hannah Arendt - Die Biografie

Autor*in:Thomas Meyer
Verlag:Piper-Verlag, München 2023, 521 Seiten
Rezensent*in:Annette Schönherr
Datum:23.10.2023

Thomas Meyer (*1966) ist Philosoph, ein exzellenter Arendt-Kenner und Herausgeber der seit 2020 erscheinenden Schriften Hannah Arendts in einer Studienausgabe. An der LMU München hat er eine Professur inne mit den Forschungsschwerpunkten Ideengeschichte und jüdische Philosophie des 19./20. Jahrhunderts sowie Kulturphilosophie. 

In der Nachfolge der renommierten Biografie Hannah Arendt - Leben, Werk und Zeit (1982) von Elisabeth Young-Bruehl ist Thomas Meyer mit seiner gerade erschienenen Arendt-Biografie ein großer Wurf gelungen. Während Young-Bruehl eine umfassende persönliche Biografie Arendts schrieb, legt Thomas Meyer den Schwerpunkt auf Arendts politische Biografie. 

Dem Leser wird hier eine ganz neuartige Forschungsarbeit vorgelegt, die sich radikal von der bisherigen Forschung abhebt und Arendts Leben und Werk nahezu vollständig in ihrer Zeit darstellt. Der Autor erhebt den Anspruch, dass seine Biografie zum Ausgangspunkt wird für eine notwendige Neubewertung der Person und des Werks von Hannah Arendt. Thomas Meyer macht sich für dieses Forschungsvorhaben die überlieferte Äußerung des jungen Kunsthistorikers Andrew Marbot gegenüber Goethe zu eigen, dass jeder Überlieferung zu misstrauen sei, auch der wahrscheinlichsten: Nur das Wahre sei wahr, das Wahrscheinliche hingegen bliebe nur Schein.

Diese Herausforderung nimmt der Autor Thomas Meyer an und stellt sich ihr, indem er seine Biografie in akribischer Kleinarbeit belegt durch bisher völlig unbekanntes Archivmaterial und mit bis in die Gegenwart hinein ignorierten Dokumenten, die eine neue Sichtweise und Lesart der Biografie Hannah Arendts ermöglichen. 

Seine Recherchearbeit und Untersuchung des Lebens und Werks von Hannah Arendt betrifft insbesondere den Zeitraum nach Arendts Flucht aus Deutschland nach Paris (1933) bis zur Publikation ihres ersten Hauptwerks The Origins of Totalitarianism (1951) in Amerika, ins Deutsche übersetzt und überarbeitet von Arendt selbst als Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955). Über diesen Zeitraum hinaus analysiert und beurteilt er aber insbesondere auch Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem (1964).

Thomas Meyer gelingt es in überzeugender Weise, das Archivmaterial zu interpretieren und aufzuzeigen, wie die zwei Jahrzehnte von 1933 bis 1951 Hannah Arendts Werdegang und ihr Werk ganz entscheidend politisch geprägt haben: Der Autor stellt klar, dass bereits die Rahel-Varnhagen-Habilitationsarbeit eine historisch-soziologische Studie darstellt über die jüdische Emanzipation und ihr Scheitern in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Und er informiert und belegt, wie intensiv sich Arendt in den Jahren ihrer Pariser Emigration zwischen 1934 und 1940 um jüdische Kinder und Jugendliche kümmerte. Auch war sie an der Rettung zahlreicher Menschenleben ganz maßgeblich mitbeteiligt, was seiner Recherche nach später nicht alle Beteiligten hatten wahrhaben wollen.

Darüber hinaus sorgte Arendt in ihrer Funktion als Geschäftsführerin der Jewish Cultural Reconstruction (JCR) bis zur Auflösung dieser Organisation ab 1944 außerordentlich engagiert und mit persönlichem Einsatz auch dafür, das übriggebliebene Erbe jüdischer Schriften und des Kulturguts des vernichteten Judentums aus Europa zu retten und nach Israel zu bringen.

Als sie Gershom Scholem am 26.09. 1940 über den Suizid des gemeinsamen Freundes Walter Benjamin informierte, schrieb sie ihm: „Juden sterben in Europa, und man verscharrt sie wie Hunde.“ Schon zu dieser frühen Zeit hat sie begriffen, dass es der NS-Diktatur über die Ermordung der Juden hinaus auch darum ging, jede Erinnerung an die Geschichte des europäischen Judentums auszulöschen.

Arendts späteres politischen Handeln (u.a. die Rettung des herrenlosen jüdischen Kulturguts) hatte mit dieser ihrer grundsätzlichen Erfahrung zu tun. Die grausame, maschinell-industrielle Vernichtung von Menschen war für Arendt das völlig Unvorstellbare, das – wie sie immer wieder äußerte – nie hätte passieren dürfen und mit dem die Menschen nicht fertig würden. Und obwohl Arendt nicht explizit über diese eigenen Erfahrungen sprach und sie auch nicht in ihr Werk einfließen ließ, zeigt die Arbeit von Thomas Meyer, wie stark diese zwanzig Jahre Arendts Denken grundlegend geprägt haben.

Ihre Forschungsarbeiten über die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft waren ihr ein zentrales existenzielles Anliegen, weil sie erkannte, dass die Gefahr des Totalitarismus mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs keineswegs gebannt war, sondern weiterhin virulent blieb (und bleibt), und weil es deshalb eines gelingenden konstruktiven politischen Diskurses der Menschen untereinander bedarf.

Diese Biografie von Thomas Meyer braucht keine Fürsprache - die Anerkennung in der Fachwelt wird dem Werk gewiss sein. Darüber hinaus steht zu hoffen, dass sie (die Biografie) auch viele Laien neugierig auf Hannah Arendts Leben und Schaffen macht.