Grundlagentexte Kulturphilosophie
Autor*in: | Ralf Konersmann (Hrsg.) |
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Verlag: | Meiner Verlag, Hamburg 2009, 282 Seiten |
Rezensent*in: | Matthias Voigt |
Datum: | 08.01.2025 |
Jüngst wurde die Frage aufgeworfen, was denn unter einer Kulturanalyse zu verstehen sei; unter anderem mit diesem Begriff präsentiert sich die von uns vertretene „Verstehende Tiefenpsychologie“. Daran musste ich denken, als mir der Titel des Buches von Konersmann (Herausgeber) in die Augen fiel. Nicht von allen der im Buch präsentierten Autoren hatte ich bislang etwas gelesen, obwohl sie bekannte Namen tragen. Jeder der vorgestellten Primärtexte umfasst ca. 20 Seiten. Es beginnt mit Senecas Brief an Lucilius, dem die Antwort Rousseaus auf die Preisfrage der Akademie mit der folgenreichen Wendung des Zurück zur Natur folgt. Dann geht es über zu Georg Simmel, Paul Valéry, Walter Benjamin, Ernst Cassirer, Claude Lévi-Strauss, Hans Blumenberg, Arnold Gehlen, Michel Foucault, um schließlich mit Herbert Schnädelbach zu enden.
Im Vorwort verweist der Herausgeber darauf, es gehe ihm bei dieser Auswahl um Beiträge zur Problemgeschichte des Kulturbegriffs. Daraus resultiere als wesentliche Einsicht der Moderne, dass Kulturphilosophie und Kultur des Philosophierens immer auch aufeinander bezogen gedacht werden müssten; die Geschichte des 20. Jahrhunderts habe uns mit der Möglichkeit vom Untergang des Abendlandes konfrontiert, die allen naiven Kulturfortschritts-Optimismus in die Schranken weise.
Für Psychotherapeuten, die um eine angemessene Meta-Theorie ihres Faches ringen, sind die von Konersmann ausgewählten Texte aufschlussreich. Mir legten sie nahe, das Innenleben mancher Patienten als Kommentar zu einer Lebensbewegung zu verstehen, die letztlich auch Reaktionsbildungen auf Handlungsmöglichkeiten bedeuten, die ihnen die Kultur eröffnet oder verunmöglicht.
Liest man in der vorliegenden Textsammlung etwa Rousseaus Antwort auf die Frage der französischen Akademie von 1750, inwieweit der Wiederaufstieg von Wissenschaft und Künsten zur Läuterung der Sitten beigetragen habe, erscheint sein Ruf nach einem Zurück-zur-Natur als hellsichtige Reaktion auf das bombastische Kultivierungsprojekt des Absolutismus. Dieses Modell des Hoflebens von Versailles prägte die ritualisierte Geselligkeit der französischen Aufklärer bis in die Salonkultur des 19. Jahrhunderts. Für Jean-Jacques Rousseau wurde dies eine schwer verdauliche Kost und rief sein Ressentiment wach - aber auch den Philosophen in ihm auf der Suche nach der eigentlichen Natur des Menschen.
Auf diesen Beitrag folgt der Essay Georg Simmels über Der Begriff und die Tragödie der Kultur. Verfasst drei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, versucht er zu ergründen, was sich in der Endzeitstimmung jener Tage ankündigte, in der aller aufklärerischer Optimismus abhanden gekommen war. Simmels Fazit: Der neuzeitliche Kulturprozess geht an den in ihm innewohnenden Konsequenzen eventuell zugrunde. Mir ging beim Lesen Goethes Bild vom Zauberlehrling durch den Sinn, mit dem der Dichter fünfzig Jahre nach Rousseau seine Befürchtungen für eine Welt aufscheinen ließ, die allein der Wissenschaftsgesinnung Newtons folgt.
Ernst Cassirer gehörte zu jenen Denkern, die an Georg Simmels Diktum Die Kultur ist der Weg der Seele zu sich selbst festhielten. Cassirer ergänzte seine von Kant geprägte erkenntnisbezogene Betrachtungsweise um die Philosophie der symbolischen Formen. Der Mensch ist animal symbolicum, ein Symbole verstehendes und schaffendes Wesen. Die symbolische Geformtheit der Kultur bedarf der Bemühung derer, die sie sich verstehend aneignen und damit den Kulturprozess am Leben halten. Insofern liefert Cassirers Theorie der symbolischen Formen einen wesentlichen Beitrag zum Thema der Wechselbeziehung von Kulturtheorie und Philosophiestil, wie ihn Konersmann für wünschenswert hält.
Sigmund Freuds Psychoanalyse darf man ebenfalls als Vehikel zum großen Projekt einer Analyse der Kultur auffassen. Unser Unbehagen in der Kultur (1930) speist sich aus einem als konstitutiv für den Menschen gedachten Antagonismus. Unsere Triebansprüche als Naturwesen kollidieren unversöhnbar mit den als triebunterdrückend verstandenen Anforderungen der Kultur. Freud forderte vom sublimierungsfähigen Einzelnen eine Entsagung hinsichtlich seiner Trieb-Impulse, die der leisen Stimme der Vernunft Folge leistet. Den nicht zur Sublimierung Befähigten, also der großen Masse, möge man aus wohlverstandenem Eigeninteresse Freiräume zum sozialverträglichen Ausleben ihrer Triebhaftigkeit gewähren.
Helmuth Plessner (er fehlt in der Reihe der genannten Kulturtheoretiker) spricht diesbezüglich von exzentrischer Positionalität als nur dem Menschen eigentümliche Selbst- und Weltbeziehung. Sie verwandelt die Umwelt in eine Welt. Cassirer beschreibt diesen Sachverhalt als ein symbolisch-vermitteltes Verhältnis. Damit sieht auch er in der exzentrischen Weltbeziehung einen menschlichen Modus von Nähe, eine vermittelte Unmittelbarkeit seiner Wahrnehmung. Dazu passt Simmels schöne Wendung von der Kultur als Weg der Seele zu sich selbst - eine Wendung, die auf das geistige Bewusstein anspielt, das uns alle verbindet.