49
Rezensionen
ITGG Berlin - Rezensionen
#7C9CA4
#C66A13

Philosophie

Embodiment and Critical Medical Humanities

Autor*in:Sophie Witt, Céline Kaiser, Christina Schües, Cornelius Borck (Hrsg.)
Verlag:Schwabe, Basel 2024, 139 Seiten
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:13.10.2024

Seit einigen Jahrzehnten hat sich in Medizin, Psychologie und Philosophie, darüber hinaus jedoch auch in manchen Kultur- und Kognitionswissenschaften der Begriff Embodiment (Verkörperung) etabliert. Mit diesem Terminus wird versucht, der Jahrhunderte alten Dichotomisierung des menschlichen Organismus - Leib und Seele, Körper und Geist, body and mind - zu begegnen und sie möglichst zu überwinden.

Am menschlichen Organismus lässt sich Materiell-Biologisches (der Körper) wie auch Seelisch-Geistiges erfassen. Diese Dimensionen existieren nie losgelöst voneinander. Sie stellen keine eigenständigen Wesenheiten dar, sondern bedeuten Aspekte oder Gesichtspunkte des Organismus, die sich je nach Art und Weise des Zugangs und der Betrachtung in den Vordergrund oder Hintergrund schieben. Wer am Leib lediglich seine seelischen und geistigen Qualitäten wahrnimmt, tendiert im Extremfall dazu, aus ihm ein bloßes Seelen- oder Geistding werden zu lassen. Als solches wurde es im 17. Jahrhundert von René Descartes beschrieben; er nannte es eine res cogitans – eine denkende Sache. Dieses Seelen- und Geistding war körperlos, als ein immaterielles Bewusstsein konzipiert. Die entgegengesetzte Position entsteht bei der Naturalisierung des menschlichen Organismus. Reduziert man diesen zum Körperding, hat man ein von Descartes als res extensa bezeichnetes ausgedehntes Objekt vor sich. Dieses ist sicht- und spürbar, aber seiner seelischen und geistigen Qualitäten beraubt. Das Subjektive und Personale an diesem Körperding ist nicht mehr zugänglich, und schlussendlich entsteht ein seelen- und geistloser Corpus.

Der menschliche Organismus, oftmals auch als Leib bezeichnet, bedeutet stets res cogitans und res extensa zugleich. Ein solches Modell nennt man im Gegensatz zu demjenigen von Descartes nicht dualistisch, sondern monistisch. In ein behelfsmäßiges Bild gefasst, kann man den Leib mit einem Handschuh vergleichen, der eine sichtbare Außenseite und eine vorerst unsichtbare Innenseite aufweist. Sobald man den Handschuh umschlägt, kommt die Innenseite zur Ansicht; gleichzeitig besteht die ehemalige Außenseite weiter, ohne dass man sie im Moment noch betrachten kann. In gewisser Weise entspricht der Leib, der menschliche Organismus diesem Handschuhprinzip: Er ist eine Umschlagstelle des Seins. Die Attribute außen (Körper) und innen (Seele, Bewusstsein) wechseln je nach Perspektive, sind jedoch immer vorhanden, selbst wenn sie gerade nicht sichtbar sind. Der Leib ist die verkörperte, nach außen sichtbare Seele und gleichzeitig der beseelte, quasi nach innen umgeschlagene Körper. Viktor von Weizsäcker brachte diesen Sachverhalt Mitte des 20. Jahrhunderts auf die Formel: „Nichts Seelisches hat keinen Leib, nichts Körperliches hat keinen Sinn.“ Er vertrat einen aspektdualistischen Standpunkt, der besagt, dass es nur einen Organismus gibt (Monismus), an dem jedoch diverse Aspekte (dualistisch) wahrgenommen werden können (Leib und Seele, Körper und Geist). Ein solcher Standpunkt erlaubt es, die Unterschiede zwischen körperlichen, seelischen und geistigen Dimensionen am Menschen zu registrieren, ohne daraus eigene Wesenheiten und fragwürdige Wechselverhältnisse zwischen ihnen konstruieren zu müssen.

Eindrücklich lässt sich ein aspektdualistischer Standpunkt am Phänomen des Affekts demonstrieren. An Affekten können je nach Beobachterperspektive physiologische, psychosoziale und geistige Qualitäten registriert werden. In der physiologischen Dimension kommt es zu hormonellen und vegetativen Veränderungen (im Sinne von fight and flight), wohingegen zugleich in der psychosozialen Dimension eine veränderte emotionale Tönung (Ärger, Angst) und zwischenmenschliche Interaktion (Angriff, Rückzug) sowie in der geistigen Dimension eine passagere Einengung des Werthorizonts des Betreffenden (z.B. Überwiegen des Vitalwerts „Überleben“) zu registrieren sind. Diese Veränderungen sind als gesamthafte, gleichzeitige Reaktion des einen Organismus zu interpretieren. Das betreffende Individuum verfällt nicht zuerst in einen seelischen Affekt, der in einem zweiten Schritt zu einer Änderung der körperlichen Funktionen und in einem dritten Schritt zu einer Trübung der geistig-bewussten Wertwahrnehmung führt. Der Mensch ist Leib-Seele-Geist-Einheit, und als solche agiert und reagiert er immer wie aus einem Guss.

Eine Beschreibung der Eigenarten dieser verschiedenen Aspekte und Dimensionen des Menschen hat in philosophischer Perspektive Nicolai Hartmann geleistet. In seinen ontologischen Schriften entwarf er ein Schichtenmodell des Seins, bei dem er von der Materie als tragender Schicht ausging. Bios und Psyche überformen und überlagern diese, und die geistige Schicht (auch beim einzelnen Menschen) ruht auf diesen auf. Sie weist eigene Gesetzmäßigkeiten und Qualitäten auf, wobei sie ohne Materie und Bios nicht existent wäre. Ebenfalls auf die Leib-Seele-Geist-Einheit als Grundlage ihrer Anthropologie griff die daseinsanalytische Medizin (Ludwig Binswanger, Medard Boss) zurück. Boss vertrat die Ansicht, dass nicht einzelne Dimensionen oder Schichten (Soma, Psyche, Bewusstsein) beim Menschen pathogen aufeinander einwirken und Krankheiten erzeugen. Vielmehr existiere der Einzelne in Situationen; kann er deren Aufgaben nicht adäquat bewältigen, „leibe“ er diese, anstatt sie zu „leben“. Die Antwortmuster des Individuums betreffen alle Dimensionen seiner leib-seelisch-geistigen Existenz. Die Unifikation scheint ein wesentliches anthropologisches Prinzip darzustellen; das Biologische ist auch seelisch-geistig, und das Seelisch-Geistige bringt sich im Leib zur Erscheinung.

Als einer der ersten Philosophen im 20. Jahrhundert hat der französische Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty diese Eigenarten des menschlichen Organismus ausführlich beschrieben. Von ihm stammen - etwa in seinem Hauptwerk Die Phänomenologie der Wahrnehmung (1945) - Formulierungen wie esprit incarné (verkörperter Geist), um das menschliche Bewusstsein zu charakterisieren. Außerdem bedachte er intensiv das Phänomen des Eigen-Berührens, also jenen Moment, in dem beispielsweise die eigene linke Hand die rechte Hand berührt und damit "von außen" sich selbst touchiert und sich dabei zugleich "von innen" spürt.

Ausgehend unter anderem von diesen Überlegungen Merleau-Pontys haben sich in den letzten Jahrzehnten viele Mediziner, Psychologen, Philosophen und Kulturwissenschaftler um eine weitere Klärung des Begriffs und des Phänomens von Embodiment bemüht. Ein jüngstes Beispiel dafür bedeuten die vier Herausgeber des hier besprochenen Buches, die mit fünf Wissenschaftlerinnen und Schriftstellerinnen aus dem angloamerikanischen Sprachraum intensive Gespräche zum Thema Embodiment geführt und die Ergebnisse dieser Gespräche in Buchform ediert haben. Der Bogen der dabei angeschnittenen Fragestellungen und Diskussions-Bereiche reicht von der Kunst (Tanz, Bildakt) bis zur Psychiatrie, von der Literatur bis zur Soziologie, von der Medizin bis in die Psychologie und Kognitionswissenschaften hinein. Ein anregender und zum Weiterdenken inspirierender Reader, der jedem Embodiment-Forscher empfohlen werden kann.