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Philosophie

Die Religion

Autor*in:Georg Simmel
Verlag:Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995, 80 Seiten
Rezensent*in:Matthias Voigt
Datum:22.04.2025

Seit der Aufklärungszeit gilt die Theologie als überholtes Spiel mit leeren Worten. Während man die Philosophie oftmals auf dem sichereren Boden der Erkenntnis verortet und das von ihr Ausgesagte in der Wirklichkeit verankert sieht, wird Religion als Aberglauben betrachtet. Mir scheint damit das Problem nicht abgetan. Auch die Theologie will als Wissenschaft gelten und nimmt für sich in Anspruch, Erkenntnis zu fördern. Beider Werkzeug ist das erkennende Bewusstsein. Was dabei an Einsichten zutage kommt, soll in die Praxis des Menschenlebens einwirken, damit wir hierdurch nicht nur klüger, sondern auch zu besseren Menschen werden. Unausgesprochen wird hier vorausgesetzt, dass wir das durch Erkenntniszuwachs erreichen können.

Seit den Zeiten der Aufklärung hat man sich der Religion vorzugsweise von der Ideen-Seite angenommen. Die Gottheiten der Glläubigen seien bloß eingebildet, seien falsches Bewusstsein, das infantilen Bedürfnissen entspringt. Mit Hilfe der Ideologiekritik wurden die Götter als Hypostasierung der Gattung Mensch entzaubert (Ludwig Feuerbach). Auch Sigmund Freud mit seiner Religionskritik (z.B. Die Zukunft einer Illusion, 1927) steht in dieser Tradition.

Bei Georg Simmel, einem Soziologen und Philosophen des frühen 20. Jahrhunderts, begegnet uns ein anderer Akzent: Er sah in der Religiosität ein lebensdienliches Phänomen, das nur im Kontext seiner sozialen Funktion angemessen verstanden werden kann. Dieser Denker schrieb über alltägliche Dinge wie die Philosophie des Geldes oder auch der Mode. Der hier angesprochene Essay ist lapidar überschrieben mit Die Religion. Was Simmel auf etwa 80 Seiten darüber zu sagen hat, entfernt sich von den ideologiekritischen Hauptwegen der Aufklärung. 

Seine These: Die Religiosität erst habe dem Menschen die ihm gemäße soziale Seinsweise ermöglicht. Ohne Mythos und ohne spätere Religion hätte sich die Menschheitsentwicklung nicht so vollziehen können, wie sie sich überall auf der Erde vollzog - als suchende und immer wieder auch irrende Entdeckung einer gemeinschaftlichen Lebensweise, wie sie nirgendwo im Tierreich vorgebildet war.

Damit der Einzelmensch gruppenfähig werden konnte, bedurfte er eines Bezugs außerhalb seiner ihm leiblich gegebenen Existenz. Dort erlebt er sich als Individuum getrennt neben anderen Individuen. Damit sich sein Lebensgefühl auf die Mitmenschen hin öffnen, mit ihnen vereinen konnte, musste er sich eine imaginäre Instanz schaffen, von der aus sich seine Beziehung zu ihnen verwandelte: Nun entdeckte er sich als Teil eines qualitativ neuen Ganzen, erlebte sich seitdem unter dem Horizont der Mitmenschlichkeit.

Nach Simmel sind es die Gottheiten, die das Muster abgeben, nach dem die Menschen ihr soziales Miteinander gestalten. Ohne dieses imaginäre Gegenstück, von dem aus die Gemeinschaft sich in das für den einzelnen Wertvolle verwandeln konnte, hätte der in den frühen Tagen der Menschheit lebensbedrohliche Kampf um die Ressourcen das Dasein dominiert. Damit soll nicht gesagt sein, dass der Mensch von Natur aus dem Menschen zum Feind vorbestimmt gewesen wäre. Vergleichbaren Wesen biologisch unterlegen ausgestattet, war er zum friedlich sozialen Zusammenwirken genötigt. Hierzu musste er seine Bestimmung erst entdecken. Er (er)fand sie als sein seelisches Gegenstück im Göttlichen. So wurde ihm das eigene Wesen gewissermaßen als Geschenk der Götter zuteil.

Will man Simmels Gedanken verstehen, darf man die letztere Aussage nicht so auffassen, als ginge es hier um die Projektion einer Allmachts-Idee, die nun Gott hieße. Was zum Göttlichen erhoben wird, ist keine Vorstellung, sondern gehört zum seelischen Vermögen des Menschen. Es zeigt sich in ganz bestimmten Gefühlsqualitäten, zu denen Phänomene wie Glaube, Demut, Liebe, Hoffnung, Hingabe und Andacht gehören. Was sprachlich mit „Glauben“ bezeichnet wird, ist nach Simmel eine Befähigung zur Hingabe im Vertrauen auf die andere Person. Mit diesem Fremdvertrauen korrespondiere unser Selbstvertrauen. Diesen seelischen Halt im Mitmenschen und zugleich in uns selbst hat der Mensch nötig, denn er gerät unausweichlich in Situationen, denen er nur bedingt gewachsen ist. Diese Gläubigkeit ist in der Perspektive Simmels der Wesenskern, das eigentliche, das soziale Grundthema aller Religionen. 

In zahlreichen Beispielen aus der Kulturentwicklung verdeutlicht der Autor diese religiöse Grundierung bei der Herausbildung und Entfaltung unterschiedlicher sozialer Organisationsformen sowie ihre Beziehung zur Rolle des Individuums zu ihnen. In der Tiefenpsychologie spricht man in diesem Kontext vom „Urvertrauen“. Uns Menschen wird es dort als Geschenk zuteil, wo eine Mutter ihr Kind wie eine Gabe der Natur behandelt, das ihr um des Kindes willen anvertraut wurde. Mutter und Vater bilden die ersten sozialen Modelle, an denen sich schicksalhaft die Bindungsfähigkeit eines Menschen mitentscheidet. Die Mutter-Kind-Dyade ist gewissermaßen das Urbild aller Vertrauensbeziehungen, innerhalb derer sich ein Menschenleben abspielen kann. 

Diese seelische Verbundenheit steht im unauflösbaren Widerspruch dazu, dass ein jedes Individuum eigene Bedürfnisse und Intentionen verfolgt. Sie kollidieren unausweichlich mit dem, was seine Gruppen-Zugehörigkeit von ihm verlangt. Während das Gemeinschaftsinteresse auf das Wohl des jeweiligen sozialen Ganzen abzielt, geht es dem Einzelnen um seine Selbstverwirklichung. Die sozialen Gruppen wiederum bieten ihm den dazu notwendigen Rückhalt. Auf ihm gründet unser Glaube an diese Gemeinschaft und umgekehrt der Glaube an uns selbst. Unser Selbstwertstreben basiert in diesem Glauben, der zugleich aber für unser persönlichstes Selbst-sein-Können verlangt, dass wir zugunsten der Selbstdurchsetzung den Anspruch der anderen auch an uns abweisen können. 

Dieser Antagonismus steht hinter allem Rivalisieren und Konkurrieren zwischen den Menschen. Die Konkurrenz untereinander treibt einerseits zu immer neuen Erfindungen und Entdeckungen, führt jedoch ohne ein seelisches Gegengewicht zu unfruchtbarem Spezialistentum. Der Rückhalt in der zwischenmenschlichen Gemeinschaft hegt den ansonsten eventuell ungehemmten Ehrgeiz ein. Ich verstehe meinen Psychotherapeuten-Beruf in diesem Sinne als die mühsame und oftmals freudige Arbeit, bei der Menschen eine nicht alltägliche Nähe-Situation gemeinsam kooperierend fruchtbar zu machen versuchen.