Denkerin der Stunde – Über Hannah Arendt
Autor*in: | Richard Bernstein |
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Verlag: | Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 100 Seiten |
Rezensent*in: | Bruno Heidlberger |
Datum: | 01.03.2022 |
Hannah Arendt (1906-1975) ist längst von einer umstrittenen Denkerin zu einer Klassikerin der modernen politischen Theorie geworden – eine Theorie, die aus den Erfahrungen von Flucht und Staatenlosigkeit schöpfte und zugleich zentrale Phänomene des 21. Jahrhunderts vorwegnahm. Es gibt viele Linien, die von ihrem Denken ausgehen, eine führt zu dem, was wir heute „Bürgergesellschaft“ oder „Zivilgesellschaft“ nennen. In den posttotalitären Demokratien sah sie Gefahren in der einseitigen Orientierung an Arbeit und Konsum, in der Vereinsamung und Isolation, der Abgehobenheit von Politik und der Macht der Lügen. In den letzten Jahrzehnten hat das Interesse an ihrem Denken weltweit zugenommen. Arendts Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und Stalinismus führten zur Überzeugung, dass der Sinn von politischem Handeln die Freiheit, das freie, verantwortliche Handeln ist: Einem auf Intersubjektivität und Pluralität beruhenden Verständnis einer freien politischen Gesellschaft als einem durch öffentliche Debatte und politisches Handeln ständig lebendig zu erhaltenden Ort der Zivilisation. Gegen Martin Heidegger und mit Immanuel Kant und Karl Jaspers stimmt sie darin überein: dass „alles Handeln die Verantwortung für die Menschheit mit übernehmen müsse“.
Richard J. Bernstein, geboren 1932, ist Vera List-Professor für Philosophie an der New School for Social Research in New York, an der auch Hannah Arendt bis zu ihrem Tod im Jahr 1975 lehrte. Er beschäftigt sich unter anderem mit der Hermeneutik, dem Pragmatismus, der Kritischen Theorie und der Dekonstruktion und arbeitet daran, diese Ansätze miteinander in Dialog zu bringen. „Liest man Hannah Arendt heute“, schreibt Richard J. Bernstein im Klappentext, „überkommt einen ein fast schon unheimliches Gefühl zeitgenössischer Relevanz.“ Bernstein, der Arendt als junger Professor noch selbst kennengelernt hat, bietet anhand zentraler Themen einen kompakten und kritischen Überblick über das Denken der Theoretikerin und zeigt, inwiefern ihr Werk heute wieder besonders aktuell ist. Die englische Originalausgabe des Buches erschien 2018 unter dem Titel Why Read Hannah Arendt Now.
Arendt, so Bernstein, sei „ausgesprochen empfindsam für einige der tiefgreifendsten Probleme, Wirrungen und gefährlichen Tendenzen im modernen politischen Leben“ gewesen. Sie hätte aber auch behauptet, „dass wir selbst in den finstersten Zeiten darauf hoffen können, irgendeinen Lichtschimmer zu entdecken, ein Licht, das weniger Theorien und Begriffen“ entspringe „als vielmehr dem Leben und der Arbeit von Individuen“ (8). Bernstein will sich auf „zentrale Themen konzentrieren, die für die Probleme und Wirrungen, mit denen wir es heute zu tun haben, von Relevanz sind“. Er „möchte zeigen, warum wir Hannah Arendt heute lesen sollten – inwiefern ihr Leben und ihr Werk die heutigen finsteren Zeiten erhellen können“ (14f).
Bernstein beginnt mit einem Abriss einiger zentraler Stationen ihres Lebens, die ihr Denken prägten. Dies mache, so Bernstein, „ein grundlegendes Merkmal von Hannah Arendt als politischer Denkerin deutlich“. Sie hätte die Ansicht vertreten, „seriöses, ernsthaftes Denken müsse in der eigenen gelebten Erfahrung gründen“ (16f). Arendts „primäre Erfahrung in der Zeit, als sie aus Deutschland entkam, aus Frankreich floh und nach New York gelangte“, sei „die eines staatenlosen deutsch-jüdischen Flüchtlings“ gewesen (17). 18 Jahre lang sei Arendt offiziell staatenlos gewesen, „bis sie amerikanische Staatsbürgerin wurde“. Das sei „der Hauptgrund dafür, dass sie für die Not der Staatenlosen und den bedrängten Status von Flüchtlingen so sensibel“ gewesen war (10).
1951 erschien The Origins of Totalitarianism, „ein Buch mit mehr als 500 eng bedruckten Seiten“, aus dem Bernstein Arendt zitiert: „Staatenlosigkeit ist das neueste Phänomen, die Staatenlosen sind die neueste Menschengruppe der neueren Geschichte“ (21). Sorgsam unterscheide sie, betont Bernstein, „zwischen ‚Nation‘ und ‚Staat‘“, nämlich „dass Staatsbürgerschaft und nationale Zugehörigkeit nicht zu trennen“ seien, „dass nur die nationale Abstammung den Gesetzesschutz wirklich“ garantiere (23). Letztlich hätten realgeschichtlich „Nation und Nationalismus über den Staat und den Schutz von Rechtsansprüchen“ triumphiert. Die „Gefahr dieser Entwicklung“ sei „von Anfang an in der Struktur des Nationalstaats angelegt“ gewesen (24). So behaupteten rechte Parteien heute, „nur wer „wirklich“ zu einer Nationalkultur gehöre, verdiene vollständige Rechte“ (25).
„Der Status des staatenlosen Flüchtlings“, schreibt Bernstein, werfe „die schwierige Frage der unveräußerlichen Rechte und der Menschenrechte auf“ (28). Gehe man zu ihren historischen Ursprüngen zurück, hätten „weder die Franzosen noch die Amerikaner“ diese Rechte „allen Menschen zugestehen“ wollen – nicht einmal „allen Menschen, die auf ihrem jeweiligen Territorium lebten“. Entgegen „aller hehren Proklamationen, wonach jeder Mensch von Natur aus Würde“ besitze, habe sich bald gezeigt, dass sich „die Frage der Menschenrechte mit der Frage nationaler Selbstbestimmung“ vermischt habe (29). Hannah Arendt hat dazu vermerkt: „Historisch beispiellos ist nicht der Verlust der Heimat, wohl aber die Unmöglichkeit, eine neue zu finden […] Der zweite Verlust der Rechtlosen ist der Verlust jeglichen staatlichen Schutzes“ (32). Bernstein stellt dazu fest: „Millionen Menschen werden heute so behandelt, als seien sie überflüssig.“ Zwar gehörten „totalitäre Regime wie das nationalsozialistische Deutschland und Stalins Sowjetunion der Vergangenheit an, doch wir sollten anerkennen, dass nur ein ganz schmaler Grat dazwischen verläuft, ob man Menschen aller Rechte oder ob man sie ihres Lebens beraubt.“ Die totalitäre „Lösung“ der Überflüssigkeit, so Bernstein, verfolge „uns noch immer in einer Welt, in der Millionen Menschen wie Überflüssige behandelt“ würden (35).
Der „beklemmendste Satz“ in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ist für Bernstein der letzte Satz des Abschnitts über totale Herrschaft: „So wie in der heutigen Welt totalitäre Tendenzen überall und nicht nur in totalitär regierten Ländern zu finden sind, so könnte diese zentrale Institution der totalen Herrschaft leicht den Sturz aller uns bekannten totalitären Regime überleben“ (42). In Anbetracht der Tatsache der „immer weiter anwachsenden Massen an staatenlosen Menschen und Flüchtlingen überall auf der Welt, die behandelt werden, als seien sie überflüssig“, mahnt Bernstein, „sollten wir Arendts Warnung ernst nehmen, dass zwischen der Zerstörung des Rechts, Rechte zu haben, und der Vernichtung von Leben nur eine schmale, fragile Trennlinie“ verlaufe (43).
Als Hannah Arendt 1933 aus Deutschland floh, war sie erschüttert, dass viele ihrer engsten Freunde und Bekannten die Nationalsozialisten tolerierten oder sogar mit ihnen zusammenarbeiteten. Sie beschloss Deutschland zu verlassen, um aktiv Widerstand gegen die Nazis zu leisten. Arendt schloss sich keiner zionistischen Partei an und dachte nie an eine Alija (eine Einwanderung bzw. »Rückkehr«) nach Palästina. Als „Grund für ihre Zusammenarbeit mit den Zionisten“ nennt Bernstein ihren Entschluss, politisch aktiv gegen Hitler und die Nazis zu kämpften. In dem Moment, als „immer mehr grausame Details über den nationalsozialistischen Massenmord an den Juden ans Licht kamen“, so Bernstein, sahen (die Zionisten) die Chance gekommen, einen Judenstaat zu gründen“ (46). Zum Dissens mit den Zionisten kam es im Oktober 1942 auf einem Treffen amerikanischer Zionisten, als eine Resolution verabschiedet wurde, die die ‚Araberfrage‘ ignorierte. (31). Arendt war gegen „die Teilung Palästinas in zwei Nationalstaaten“. Der Nationalstaat sei für sie keine brauchbare Lösung gewesen. Sie favorisierte hingegen einen föderativen Staat (53). Angesichts des hysterischen Klimas, das damals herrschte, habe Arendt gewusst, dass ihr „Vorschlag für einen föderativen Staat auf der Grundlage lokaler jüdisch-arabischer Räte von den Zionisten als ‚Dolchstoß‘ verunglimpft“ werden würde (54 ). Bernstein verweist auf Arendts „außerordentlich feines Gespür für die tiefsitzenden Probleme und ungelösten Fragen“ wie auf die „bemerkenswerte Relevanz“ ihrer Beobachtungen und Warnungen, die auch heute noch, trotz aller Veränderungen, die sich im Nahen Osten seit den vierziger Jahren vollzogen haben, akut sind (55).
Arendt sei ihr ganzes Leben lang „an hitzigen Kontroversen beteiligt“ gewesen. Sie habe ihre „Ansichten so deutlich wie möglich zum Ausdruck“ gebracht, „oftmals einen empfindlichen Nerv“ getroffen, aber auch „scharfe Kritik auf sich“ gezogen. Ein heftige Kontroverse löste sie aus, als sie Reflections on Little Rock (Little Rock) veröffentlichte. Anfang der 50er Jahre hatte der Oberste Gerichtshof der USA einstimmig verfügt, dass die rassistische Segregation an öffentlichen Schulen gegen den Vierzehnten Verfassungszusatz verstieß (56f). Am 4. September 1957 machte sich Elizabeth Eckford, ein vierzehn Jahre altes schwarzes Mädchen, zu ihrem ersten Schultag auf. Der Gouverneur von Arkansas hatte die Nationalgarde seines Bundesstaates angewiesen, ihr und anderen den Zutritt zur Schule zu verwehren. Kurz nach diesem Ereignis, berichtet Bernstein, hätten „die Herausgeber des Commentary Arendt um einen Beitrag über Little Rock“ gebeten. Der Artikel, den sie ablieferte, wurde als hetzerisch und beleidigend beurteilt und nicht veröffentlicht. Daraufhin habe Arendt den Text zurückgezogen (57).
1959 veröffentlichte Arendt den Text schließlich in der Zeitschrift Dissent. Darin behauptete sie, so Bernstein, „gesellschaftliche Diskriminierung dürfe nicht mit politischenMitteln abgeschafft werden“. Wollten „weiße Eltern ihre Kinder an Schulen schicken, an denen nur weiße Kinder seien, so habe die Regierung kein Recht, sich hier einzumischen“. Nach Meinung Arendts, sei „Bildung Privatsache“, und die Regierung habe sich „nicht in elterliche Entscheidungen darüber einzumischen, wie sie ihre Kinder erziehen wollten“. (58) Mit dieser Begründung, folgert Bernstein, sei Arendt jedenfalls „nicht in der Lage“ gewesen, die „katastrophalen Folgen einer feindseligen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung der Schwarzen in Amerika wirklich zu begreifen“. Obwohl Arendt nur selten von ihrer Meinung abgerückt sei, habe sie doch in diesem Fall etwas später ihre Fehleinschätzung eingeräumt (60).
Auf der Suche nach den „Elementen, aus denen sich der Totalitarismus kristallisierte“, richtete sie in der Folge ihren Blick in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft „auf den Rassismus, der dem Imperialismus innewohne“. Der „imperialistische Rassismus“ rechtfertigte, so Arend, „das brutale administrative Massaker an Millionen Afrikanern als legitime Form der Außenpolitik“. Dieser „imperialistische, mörderische, ideologische Rassismus“ hätte „die rassistische Ideologie der Nazis vorweggenommen (61). Ihr Leben lang habe Arendt „jegliche rassistische Ideologie“ verurteilt. In ihrem Essay Macht und Gewalt betonte sie, Rassismus sei, „im Unterschied zur Rasse selbst keine tatsächliche Gegebenheit, sondern eine zur Ideologie entartete Meinung“, und die Taten, zu denen er führe, seien „keine bloßen Reflexe, sondern Willensakte, die sich logisch aus gewissen pseudowissenschaftlichen Theorien“ ergeben würden (62).
Bernstein merkt rückblickend kritisch an: „Obwohl Arendt um den gewaltsamen Charakter des Rassismus als ideologischem System im europäischen Kontext“ gewusst habe, habe sie „seine Relevanz für die Erfahrung der Schwarzen in Amerika“ nicht verstanden (62). Sie hätte durchaus auf ihre „eigene Erfahrung zurückgreifen“ können, wie sie einmal in einem Interview erklärte, „wenn man als Jude angegriffen werde, müsse man sich als Jude verteidigen“ (63). „Warum sollte das nicht genauso für Schwarze gelten, wenn sie eindeutig als Schwarze angegriffen werden?“, fragt Bernstein (64).
Arendts Argumentation in Little Rock lasse sich „mit gutem Grund kritisieren“, doch blicke „man von heute aus auf diesen Text“, sollte man auch „anerkennen, wie hellsichtig sie“ gewesen sei. Hannah Arendt selbst war skeptisch, ob „Bürgerrechtsgesetze der Diskriminierung ein Ende“ machen würden. Sie glaubte, „die USA hätten sich nie ehrlich mit dem ‚zum Ursprung der Vereinigten Staaten gehörenden Verbrechen‘ auseinandergesetzt, die Schwarzen und die Ureinwohner vom ursprünglichen consensus universalis der amerikanischen Republik ausgeschlossen zu haben“, so Bernstein (65). Arendt sei damals sogar verspottet worden „wegen ihrer Behauptung, die Gesetze zur Mischehe, die es in 29 Bundesstaaten gab – Gesetze, die Eheschließungen und sexuelle Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen verboten –, seien ein viel eklatanterer Verstoß gegen die Verfassung als die rassistische Segregation an Schulen“ (65). Erst 1967 habe der Oberste Gerichtshof diese Gesetze für verfassungswidrig erklärt. Für Bernstein war Arendt „ihrer Zeit auch voraus“, als sie erklärte: „Das Recht zu heiraten, wen man will, ist ein elementares Menschenrecht“. Auch wenn Arendt mit ihren Argumenten zuweilen falsch gelegen habe, zeigte sich bei ihr „eine herausragende Tugend: ihr Mut zum Nonkonformismus“ (66).
Als Arendts Bericht über den Eichmann-Prozess in Jerusalem 1963 im New Yorker veröffentlicht wurde, griff man sie scharf an: Sie entlaste Eichmann und hätte ihn sympathischer erscheinen lassen als seine jüdischen Opfer. Sie habe die Juden beschuldigt, sie hätten „an ihrer eigenen Vernichtung mitgewirkt“. Das Schlagwort von der „Banalität des Bösen“ schien die Vernichtung von Millionen Juden zu trivialisieren. Einige ihrer ältesten und engsten Freunde brachen die Beziehung zu ihr ab (67).
„Ihre kurze Erörterung der Rolle der Judenräte“ habe nach Überzeugung Bernsteins „zu Recht für reichlich Empörung“ gesorgt (68). Der Vorwurf, Arendt habe Eichmann entlastet, sei jedoch „völlig aus der Luft gegriffen“. Für sie sei er einer der „größten Verbrecher“ der damaligen Zeit. Wenn sie das Schlagwort von der „Banalität des Bösen“ verwende, propagiere sie „keine Theorie über das Böse der Nationalsozialisten“, sondern beschreibe, was „ihr als Tatsache“ erschienen sei. Eichmanns Taten waren ungeheuerlich, er sei aber kein Ungeheuer (70).
Seit der Veröffentlichung von Eichmann in Jerusalem, notiert Bernstein, werde „breit darüber diskutiert, wie zutreffend Arendts Darstellung von Eichmann“ ist. Bernsteins Ansicht nach sei sie „nicht besonders zutreffend.“ Wir wüssten heute „viel mehr über Eichmanns Vergangenheit in Deutschland sowie über sein Leben in Argentinien“ (72). Bernstein stimmt „der Einschätzung des renommierten Holocaustforschers Christopher Browning zu“, der schreibt: „Ich betrachte Arendts Begriff von der „Banalität des Bösen“ als äußerst wichtige Erkenntnis, um viele Täter des Holocaust zu verstehen, nicht aber Eichmann selbst. Arendt ließ sich von Eichmanns Strategie der Selbstdarstellung zum Teil gerade deshalb täuschen, weil es tatsächlich so viele Täter der Art gab, wie er einer zu sein vorgab.‘“(73)
Der Autor ist überzeugt, dass die „Vorstellung von der Banalität des Bösen“ […] extrem wichtig und, richtig verstanden, von enormer Relevanz für uns Heutige“ sei. (73) Arendt gehe es vor allem darum, dass „wir das Böse nicht mythologisieren sollten“ (74). Die Vorstellung von der Banalität des Bösen sei „auch heute noch relevant“, denn wir müssten uns „mit der Tatsache auseinandersetzen, dass man kein Monster sein muss, um schreckliche Verbrechen zu begehen“. (75)
Wie Berstein berichtet, hatte Arendt „das Gefühl, über ihren Bericht über den Eichmann- Prozess seien alle möglichen Lügen in Umlauf“. Sie habe deshalb „ganz grundsätzliche Fragen über Lüge, Wahrheit und Politik aufwerfen“ wollen. Wie man meine, mutmaßt Arendt in ihrem Essay Wahrheit und Politik, scheint „Lügen zum Handwerk nicht nur der Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmannes zu gehören“. Arendt fragt: „Sollte etwa Ohnmacht zum Wesen der Wahrheit gehören und Betrug im Wesen der Sache liegen, die wir Macht nennen?“ Zur Beantwortung dieser Frage bemüht Arendt auch die politische Geschichte.
So sei ein zentrales Thema von Platons Staat „der Konflikt zwischen Philosophie und Politik – zwischen philosophischer Wahrheit und politischer Meinung“ (77f). Bernstein zitiert Arendt: „In diesem Zusammenhang wurde die Meinung als der eigentliche Gegensatz der Wahrheit etabliert und mit bloßer Illusion gleichgesetzt“ (78). Entgegen der philosophischen Tradition, Meinungen gering zu schätzen, preist Arendt Meinung als konstitutiv für politische Macht und den „Meinungsstreit als konstitutiv für Leben und Würde der Politik“ (79). Individuen hätten nicht einfach Meinungen; sie bildeten „Meinungen im Zuge und mit Hilfe der öffentlichen Debatte“ (78). Nach Arendt gebe es „keinen feststehenden, dauerhaften Test für die Angemessenheit von Meinungen, keine andere Beurteilungsinstanz als die des besseren Arguments in der öffentlichen Debatte“. Aus diesem Grund erfordere, so der Autor, „die Meinungsbildung eine Gemeinschaft von politisch Gleichen sowie die Bereitschaft, Meinungen preiszugeben und der Kritik auszusetzen“ (80).
Das Gegenteil von Vernunftwahrheit ist nach Arendt „Unwissenheit und Irrtum, das Gegenteil der Tatsachenwahrheit hingegen ist das bewusste Lügen“ (82). Vernunftwahrheiten als Grundlage der Macht spielten in der Politik kaum, Tatsachenwahrheiten hingegen eine große Rolle. Beängstigend für uns sei, was „früher ganz unverhohlen in totalitären Gesellschaften geschah“, werde „heute von führenden Politikern praktiziert“. Es bestehe „ständig die Gefahr, dass wirkungsvolle Überzeugungsmethoden dazu verwendet“ würden, „Tatsachenwahrheiten zu leugnen, Fakten in bloße Meinungen zu verwandeln und eine Welt ‚alternativer Fakten‘ zu schaffen“ (83). Bernstein erklärt diese Entwicklung so: „Die Menschen sind besessen von dem Wunsch, der harten Realität ihres Alltagslebens zu entfliehen, weil sie ihren gesellschaftlichen Status verloren“ hätten und „die ihnen vertraute Welt verschwunden“ sei. „Menschen, die das Gefühl“ hätten, „sie seien abgehängt und vergessen“, sehnten „sich nach einem Narrativ, das den Ängsten und der Not, die sie erleben, einen Sinn“ gebe – „einen Sinn, der Erlösung von all ihren Sorgen“ verspreche. In einer solchen Situation könne „ein autoritärer Führer die Ängste der Menschen ausnutzen und die Unterscheidung zwischen Lügen und Realität verwischen“ (85). Donald Trump habe gelogen als er behauptete, „die Menschenmenge, die bei seiner Amtseinführung zugegen war, sei größer gewesen als jede andere zuvor zu diesem Anlass zusammengekommene; obwohl er nicht die Mehrheit der Stimmen gewann“, sei er beharrlich dabeigeblieben, „das sei auf millionenfachen Wahlbetrug zurückzuführen“ (86). Arendt habe schon damals gewusst: „Lügen erscheinen dem Verstand häufig viel einleuchtender und anziehender als die Wirklichkeit, weil der Lügner den großen Vorteil hat, im Voraus zu wissen, was das Publikum zu hören wünscht“ (88).
Zum Schluss des Kapitels hebt Bernstein hervor: Arendt hätte es „mit Sicherheit sehr kritisch“ gesehen, „wenn man simple Vergleiche zwischen der heutigen Welt und totalitären Regimen ziehen“ würde. „Beängstigend“ aber seien – und „das sollte uns eine Warnung sein – all diese Ähnlichkeiten zwischen organisierter Lüge, fiktionaler Image-Pflege, Täuschung und Selbstbetrug, wie sie heute vorherrschen, und den Methoden, die totalitäre Regime zur Perfektion getrieben haben“ (91). Ihre positive Idee von Politik liefere uns „einen wichtigen Maßstab, um einschätzen zu können, was heute in der Politik“ fehle – „ein weiterer Grund, warum wir Hannah Arendt heute lesen sollten“. (93)
In Vita activa analysiert Arendt das „tätige Leben“, das traditionell der vita comtemplativa, dem „betrachtenden Leben“ gegenübergestellt wurde. Sie unterscheidet drei Formen des Handelns, welche die vita activa umfassen: Arbeiten, Herstellen, Handeln (96). „Was meint Arendt, wenn sie davon spricht, das Handeln entspreche der menschlichen Bedingtheit der Pluralität?“, fragt Bernstein. Pluralität bedeute, so Bernstein weiter, „dass jeder von uns eine ganz eigene Sicht auf die Welt“ habe (97). Wir handelten aber „gemeinsam mit unseren Mitmenschen“ und offenbarten, „wer wir als besondere Individuen“ seien (98). In den Augen Bernsteins sei eines von Arendts „originellsten Konzepten […] die Idee des öffentlichen Raums“, die er im Folgenden kurz darstellt. Öffentliche Räume existierten nicht „von Natur aus“; sie müssten „von Menschen künstlich geschaffen werden“. Es sind Räume, in denen wir „in Diskussion miteinander handeln, reden, Meinungen bilden und überprüfen“. Politik entstehe nach Arendt „zwischen Menschen“. Als ursprüngliche, „für das Handeln erforderliche ‚Staatsform‘“ bezeichnet Arendt die Polis. Politik sei für sie „eine Form des Nicht- Herrschens“. Sie bedeute nicht, dass „ein Individuum oder eine Gruppe über andere“ herrscht. „Wesentlich für die Politik“ sei „vielmehr politische Gleichheit“; wir debattierten und handelten immer unter Gleichen (98 f.). „Das Eindrucksvolle an Arendts Charakterisierung der öffentlichen Freiheit“, meint Bernstein abschließend, sei aber gerade, „dass sie bei ihr im Gegensatz zu allen Formen autoritärer Unterdrückung und Herrschaft“ stehe (104).
In ihrem Essay über Macht und Gewalt zitiert Hannah Arendt den amerikanischen Soziologen C. Wright Mills, der mit Nachdruck betont: „Alle Politik ist Kampf um die Macht; aufs höchste gesteigerte Macht ist Gewalt“ (104). Macht und Gewalt, so der Autor, ließen sich nach Arendt nicht nur unterscheiden, „es handelt sich vielmehr sogar um gegensätzliche Begriffe“. Wo „wahre Politik“ regiere, herrsche „rationale Überredung, nicht Gewalt“. Wo Gewalt regiert, „zerstört sie Macht“ (105). Für Arendt gelte: „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen
zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält. Wenn wir von jemand sagen, er »habe die Macht«, heißt das in Wirklichkeit, dass er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln“ (105) (Macht und Gewalt, S., 45). Das Bemerkenswerte an Arendts Konzeption von Macht und ihrem Politikverständnis sei aber, dass man sie „nicht als vertikal, als hierarchisch begreifen“ dürfe. Macht sei bei Arendt „ein horizontaler Begriff: Sie entspringt und gedeiht, wenn eine Vielheit von Individuen gemeinsam handelt und sich gegenseitig als politisch Gleiche“ behandele (106).
Zum Schluss seines Essays diskutiert der Autor den Begriff der Verantwortung bei Arendt. Verantwortung sei bei ihr ein Thema, das in „seinen zahlreichen Varianten“ ihr gesamtes Leben und Werk durchziehe, „nämlich die Notwendigkeit, Verantwortung für unser politisches Leben zu übernehmen“ (125 f.). Arendt sei eine „gnadenlose Kritikerin“ einer deterministischen Geschichtsphilosophie, „aller expliziten oder impliziten Berufungen auf irgendeine historische Notwendigkeit“ (126). „Ihre Suche nach dem Sinn und der Würde von Politik“ bemerkt Bernstein, „sollte ein Akt der Rettung und der Wiedergewinnung sein.“ Arendt sei es immer darum gegangen, „den revolutionären Geist lebendig zu halten – die spontane Schaffung von Räumen fassbarer, weltlicher, öffentlicher Freiheit“ (128). Vor allem müssten wir „der Versuchung widerstehen, aus der Politik auszusteigen und uns dem Glauben hinzugeben, angesichts der aktuellen Abscheulichkeit und Verdorbenheit könne man ohnehin nichts machen“. Wir würden dann auch „zulassen, dass wir am Schlimmsten mitschuldig werden“. Arendts „lebenslanges Projekt“ habe darin bestanden, „zu verstehen, zu begreifen, und zwar so, dass wir auf ehrliche Weise mit der Finsternis unserer Zeiten und mit den Quellen des Lichts konfrontiert“ sind (128). Richard J. Bernstein empfiehlt uns Hannah
Arendt zu lesen, „weil sie die Gefahren, mit denen wir es nach wie vor zu tun haben, so scharfsichtig erkannt und uns davor gewarnt“ habe, „darüber gleichgültig oder zynisch zu werden“. Insbesondere habe sie uns dazu gedrängt, „Verantwortung für unser politisches Schicksal zu übernehmen“ (129).
Hannah Arendt war nicht nur eine große politische Theoretikerin des 20. Jahrhunderts, sondern auch eine öffentliche Person, die bereit war, in finsterer Zeit Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Sie hat das erlebt, wovon sie spricht. Das macht sie zur Ikone. Was heute auch an ihr fasziniert“, notiert Ralf Fücks, „ist vor allem ihr ‚Republikanismus‘, ihr spezifisches Verständnis von Politik als einer Sphäre der Freiheit“ (Hannah Arendt: Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität? 2007, 9). Arendt fokussierte ihren Begriff von Politik nicht auf das Ökonomische, ein Grund, warum sich Linke lange nicht für sie interessierten. Es gehört zum Standartargument „linker“ Kritik, Arendt habe sich nicht für die soziale Frage interessiert. So beklagte jüngst Thomas Asseuher in der Wochenzeitung Die Zeit „Arendts rätselhaftes Desinteresse an Gerechtigkeitsfragen“ (Assheuer, 52) [11]. Arendt beharre mit Recht darauf, insistiert Jürgen Habermas schon 1981, „dass die technisch-ökonomische Bewältigung der Armut keineswegs schon die praktisch-politische Sicherung der öffentlichen Freiheit“ bedeute (Habermas, 1981, 239). In späteren Äußerungen, wie in der Diskussion in Toronto 1972 (Arendt, 1996) [12], zeigt sich, dass Arendt nicht der Auffassung war, soziale Fragen seien nicht von Bedeutung. Vielmehr war sie mit Friedrich Engels der Meinung, dass die „Verwaltung der Sachen“ in die vorpolitische Sphäre gehöre, in das Reich der Notwendigkeit. Arendt betonte die Bedeutung von Besitz für „Möglichkeiten für die Freiheit“ (93) und regte Besitzbildung an. So sollte es keine Diskussion darüber geben, dass jedem eine anständige Wohnung gebührt“ (91). Man könnte ergänzen: gesunde Luft, Wasser- und Energieversorgung, Kinderbetreuung, gesundes Essen, ein gerechtes Bildungs- und Gesundheitssystem, demokratisches Wirtschaften und demokratische Eigentumsverhältnisse – das würde die Freiheitsspielräume deutlich erweitern. Letztlich sei es die „moderne Technik“, der wir die Freiheit von der Notwendigkeit zu verdanken hätten (90 f., 100). Soziale Sicherheit galt für Arendt immer als Voraussetzung von Freiheit, eine Position, die Arendt bereits vor ihren Schriften wie Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft und Vita activa vertrat.
Für Ralf Dahrendorf war Arendt eine „warmherzige und zugleich geistig fast überlebendige Frau, eine zentrale Figur im intellektuellen Leben der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg.“ Als anti-akademische Denkerin und Anti-Intellektuelle weiß sie um die Verführbarkeit des Geistes, der falschen Bildung, den Gefahren des Denkens. Dahrendorf zählt sie, neben Karl Popper, Raymond Aron und Isaiah Berlin, zu den Erasmiern, weil sie den beiden großen Versuchungen der Unfreiheit widerstanden haben. Mit Erasmus von Rotterdam teilen sie die Tugend der Freiheit. „Kaum einer habe wie sie“, so Dahrendorf, „den Mut bewiesen, die eigene Position unter Gegnern, ja Feinden zu vertreten. Das sei für sie eine schlichte Lebenstatsache, dass man mit Gegensätzen leben muss und kann (Dahrendorf, 2006, 89).“ [18] Hannah Arendt wusste: In der dynamisch sich entwickelnden Moderne ist die Demokratie immer bedroht und muss verteidigt und weiterentwickelt werden. Die Demokratie bedarf nicht nur der Institutionen, sondern auch der Menschen, die sich für sie einsetzen.
Hannah Arendt war eine public intellectual. Im Zentrum ihres Denkens steht die Fragen „Wie lässt sich Freiheit politisch verwirklichen, wie dem totalitären Denken widerstehen?“ Mit ihren Texten mischte sie sich in öffentliche Debatten ein oder löste sie aus. Dabei erreichte sie ein breites Publikum. Ihre Texte haben die Kraft dem Denken auf die Sprünge zu helfen, indem sie tradierte Denkmuster stören und in Frage stellen. Einen Weg zurück in die Tradition als einer geschichtlichen Autorität – sei es das revolutionäre Proletariat, das Volk oder der Fortschritt – gibt es bei ihr nicht. Arendts Denken läuft nicht Gefahr beliebig oder postmodern zu sein. Arendt erkennt die fundamentale Krise der Ethik und der Moral und thematisiert diese als eine Krise des modernen Politikverständnisses. Das Ende der Mündigkeit sieht sie im Rückzug allein auf das private Glück, in der Unfähigkeit des selbstständigen Denkens und Urteilens und mangelnder Empathie.
[1] Hannah Arendt: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München 1996.
[2] Hannah Arendt: Über die Revolution, München 1974.
[3] Hannah Arendt: Macht und Gewalt, München 19949
[4] Hannah Arendt: Karl Jaspers: Briefwechsel 1926–1969, München, Zürich 1993.
[5] Hannah Arendt: Über die Revolution, München 1965.
[6] Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein, München 2018.
[7] Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben, München 1992.
[8] Waltraud Meints-Stender: Hannah Arendt und das Problem der Exklusion – eine
Aktualisierung, in: Hannah Arendt: Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität, hg.
Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin 2007.
[9] Hannah Arendt: Die verborgene Tradition, Frankfurt 1976.
[10] Otfried Höffe: Politische Ethik im Gespräch mit Hannah Arendt, in: Die Zukunft des
Politischen. Ausblicke auf Hannah Arendt, (Hrsg.) Peter Kemper, Frankfurt am Main 1993.
[11] Thomas Assheuer: Was würde Hannah Arendt dazu sagen? Die Zeit Nr. 19, 06. Mai
2021.
[12] Hannah Arendt: Hannah Arendt: Diskussionen mit Freunden und Kollegen in Toronto
(1972), in: Ich will verstehen, München 1996.
[13] Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt am Main
1991.
[14] Jürgen Habermas: Philosoph-politische Profile, Frankfurt am Main 1981.
[15] Waltraud Meints-Stender: Hannah Arendt und das Problem der Exklusion – eine
Aktualisierung, in: Hannah Arendt: Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität, hg.
Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin 2007.
[16] Seyla Benhabib: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Hamburg
1998.
[17] Günter Gaus im Gespräch mit Hannah Arendt, 28.10.1964, https://www.rbb-
online.de/zurperson/ interview_archiv/arendt_hannah.html
[18] Ralf Dahrendorf: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung,
Bonn 2006.