Das Wertproblem in der Philosophie der Gegenwart - Aufsätze zu Wert und Sinn
Autor*in: | Nicolai Hartmann - herausgegeben von Moritz von Kalckreuth |
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Verlag: | Meiner, Hamburg 2024, 272 Seiten |
Rezensent*in: | Matthias Voigt |
Datum: | 13.10.2024 |
Dass Nicolai Hartmanns Spuren in der Geistesgeschichte verblasst sind, liegt gewiss nicht an einem Schreibstil, der seine Leser nicht zu gewinnen vermöchte. Er zählt zu den letzten Denkern, die beinahe zu allen klassischen Themen der Philosophie ein Standardwerk von mehreren hundert Seiten zu verfassen wussten. In allen seinen Texten würdigte der Begründer einer Neuen Ontologie die Beiträge seiner Vorfahren gebührend.
Wer heute Hartmanns Bekanntschaft machen will, stößt auf zwei Hindernisse: die sündhaft teure Walther de Gruyter-Ausgabe sowie Originalzitate in griechischen Buchstaben. Hartmanns eigenes Idiom hingegen bedeutet kein Lesehindernis. Sein Sprachstil ist von einer schönen Schlichtheit, frei von jeglichen Manierismen. Diese Freundlichkeit dem Leser gegenüber erweist uns auch der Herausgeber dieser Schriften, Moritz von Kalckreuth. Er präsentiert eine mit hilfreichen Erläuterungen versehene Zusammenstellung von Hartmann-Aufsätzen. Die von ihm bevorzugt ausgewählten Texte stammen aus der Zeit nach der Ethik, nach dem Problem des geistigen Seins, der Ästhetik und nach der Grundlegung der Ontologie.
In diesen Aufsätzen, die Mehrzahl aus den Kleineren Schriften, wird uns demonstriert, was Hartmann von so manchem seiner Kollegen heraushebt: Er stellt nicht einfach Fragen, die ein gerade herrschender Zeit- oder Wissenschaftsgeist diktiert. Vielmehr sucht er unter dem Wust an Vorurteilen und Vorstellungen nach einer originellen Fassung der dem zugrunde liegenden Problematik. Seine kritische Perspektive ist ontologisch fokussiert, fragt nach der jeweiligen „Seinsweise“ eines Phänomens. Mit dieser Sensibilisierung für das Problem selbst richtet er sich gegen viele zeitgeistbedingte Glaubenssätze und Überzeugungen, die selbst in der Philosophie anzutreffen sind. Anders als sein Rivale Heidegger denunzierte Hartmann die Naturwissenschaft und Technik nicht als bloßes „Gestell“, sondern befragte sie auf ihren Problemgehalt hin.
Dieses Zurück-zu-den-Problemen ist es, was von Kalckreuth bei Hartmann vorbildlich repräsentiert findet. Darin liege seine Anschlussfähigkeit für die Problemfelder, um die es ihm bevorzugt geht: Das Verhältnis von Werten und kulturell vermittelten Wert- oder Sinn-Erfahrungen. Hierin berühren sich ontologische Problemstellungen – in Hartmanns Sprache die „Seinsweise“ der Werte – mit moralphilosophischen Themen.
Als Hartmann-Liebhaber in der Rolle des Psychotherapeuten verdanke ich dem Aufsatz über Das Wesen der sittlichen Forderungen einen neuen Blick auf das Problem meines Berufes. Ärzte wie Psychologen dürfen nach Antworten suchen, worin denn das Beziehungsgeschehen in der Psychotherapie bestehen mag - wobei für mich diesbezüglich vor allem Sinn- und Wertprobleme zu benennen sind. Ganz im Sinne Hartmanns sind diese nicht immer lehrbar, und doch leben wir permanent und unausweichlich auf sie bezogen. Nach Hartmann bringen wir sie nicht in die Welt; doch wir sind es, die manche von ihnen verwirklichen oder aber wertblind an ihnen vorübergehen.
Zuletzt sei noch der kürzeste Text des kleinen Hartmann-Kompendiums erwähnt: Das Ethos der Persönlichkeit (1949). Von Kalckreuth interessiert daran das Problem des personalen Seins sowie die Frage, was Persönlichkeit im Sinne Hartmanns vom bloßen Person-Sein abhebt. Dabei geht es ihm besonders um die Bezogenheit des Einzelnen auf Mitmenschen und Mitwelt.
Vom „liebenden Blick“ ist bei Hartmann erstmals am Schluss der Ethik die Rede. Ich möchte mit einer unverfänglicheren Wendung schließen: Dem Herausgeber des mit 272 Seiten nicht ganz dünnen Buches sei Dank für dessen Freundlichkeit, uns an seinem Hartmann teilhaben zu lassen. Denn ein „Ethos der Teilhabe“ gehört als Facette zum Ethos der Persönlichkeit und zählt als solche zum guten Leben. Dank zudem für die Übersetzung der Originalzitate eines Aristoteles im vorliegenden Buch.