Aristotle. Understanding the World’s Greatest Philosopher
Autor*in: | John Sellars |
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Verlag: | Penguin Random House UK, Milton Keynes 2023, 128 Seiten |
Rezensent*in: | John Burns |
Datum: | 26.09.2024 |
Im Alter von elf Jahren, wenn ich mich recht erinnere, beobachtete ich mit anderen Kindern aus meiner Klasse auf dem Schulweg Arbeiter, die einen Graben am Straßenrand aushoben. Als ein Freund in der Gruppe, der als etwas frech galt, die Arbeiter über ihre Arbeit befragten, wollte ich mich auch der Situation stellen und „einen Erwachsenen“ auf seine Tätigkeit hin interviewen. Weil ich in meiner Familie zur Höflichkeit erzogen wurde, stellte ich meine Frage in gewählter Sprache: „Sagen Sie mir bitte: Was tun Sie gerade?“ Der Mann im blauen Overall, der auf die schnoddrige Sprache meines gleichaltrigen Kumpels beredt geantwortet hatte, fühlte sich offensichtlich von meinem elaborierten Code überfordert und grunzte nur vor sich hin. Zu meiner Schande rief ein älterer Junge aus einem Fenster im obersten Stockwerk eines anliegenden Hauses: „Siehst du das nicht? Sie reparieren die Straße!“ So schämte ich mich wegen meiner Unbeholfenheit im Umgang mit einer erwachsenen Person, aber noch zusätzlich, weil mein Fauxpas beobachtet wurde.
Wenn der Arbeiter Philosoph gewesen wäre, hätte er mir erklärt, dass er Erde zu beseitigen beabsichtige, einen Graben aushebe und im Auftrag einer Hoch-Tiefbaufirma arbeite, dessen Chef ihn für die Arbeit mäßig bezahle. So wären wir beim Hylomorphismus des Aristoteles gelandet, der aufgrund extensiver theoretischer Studien in der Akademie Platons und nach langjähriger Erforschung von Flora und Fauna in der Lagune der griechischen Insel Lesbos die Natur anhand von vier Kategorien betrachtete: Materie, Form, causa efficiens, ein zureichender Grund, und causa finalis, der Zweck oder Ziel des untersuchten Organismus.
Wenn wir anfangen, nach Selbst- und Menschenkenntnis zu streben, stellen wir häufig aristotelische Fragen. Warum bin ich als Mann oder Frau zur Welt gekommen? Warum ist meine Nase krumm? Wie gehe ich mit meiner Kurzsichtigkeit um? Warum bin ich ein Meter achtundsiebzig Zentimeter groß? Wenn wir das Thema unseres körperlichen Aussehens (Materie und Form) erschöpft haben, wenden wir uns unter Umständen metaphysischen und ontologischen Fragen zu: Was ist der Sinn des Ganzen und welche Bedeutung soll mein eigenes Leben haben?
In der Psychotherapie sind wir mit zwei aristotelischen Kategorien beschäftigt: Wie ist eine neurotische Störung entstanden und welches Ziel verfolge ich, wenn ich heute noch um sie kreise und sie nicht überwinde? Häufig wird die Entstehung einer Störung auf familiäre Verhältnisse in der Kindheit zurückgeführt. Dort liegt die Ursache des Problems (causa efficiens). Die Aufrechterhaltung der Störung in der Gegenwart dagegen verstehen wir erst, wenn wir die Finalität oder Zielgerichtetheit (causa finalis) des menschlichen Verhaltens einbeziehen. So erforschen wir unsere Biographie, indem wir alle drei Zeitdimensionen des menschlichen Lebens einbeziehen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Leben ist ein Prozess.
Modern ist Aristoteles allemal, obwohl er vor langer Zeit in Griechenland lebte und wirkte, wie der Philosoph John Sellars in Aristotle. Understanding the World’s Greatest Philosopher in seiner lesefreundlichen Monographie erläutert. Der griechische Philosoph wurde 384 v.Chr. in Stagiros geboren. Nach dem Tod seines Vaters wurde der 17-jährige Aristoteles Mitglied der von Platon geleiteten Akademie in Athen. Hier blieb er zwanzig Jahre und avancierte zu einem renommierten Schüler des Meisters. Nach dem Tod Platons verbrachte Aristoteles einige Jahre auf der Insel Lesbos, wo er meeresbiologische Forschungen unternahm.
Weniger erfolgreich waren seine Bemühungen um die Erziehung von Alexander dem Großen. Sellars zitiert hierzu eine Passage aus der Nikomachischen Ethik, in der Aristoteles bemängelt, dass ein junger Mann - wahrscheinlich denkt er an Alexander - affektgeleitet ist und folglich an Vorlesungen über Politik wenig Interesse hat. Alexander, vermutet Sellars, war ein typischer Draufgänger, der sich durch aufregende Freizeitbeschäftigungen vom Lernen ablenkte.
Nach drei Jahren im Dienst des Vaters von Alexander, Phillip von Mazedonien, gelang es dem Philosophen, zu seinem eigentlichen Beruf zurückzukehren. In Athen gründete er eine eigene Philosophenschule, das Lykeon. Er befand sich aber aufgrund seiner politischen Loyalität zu den Mazedoniern in Lebensgefahr und flüchtete nach Chalkis auf Euböa, wo er im Jahre 322 v. Chr. verstarb.
Wenn Aristoteles heute lebte, erklärt Sellars, würde er Kollegen und Kolleginnen in vier wissenschaftlichen Disziplinen vorfinden: Entwicklungsbiologie, Neurophysiologie, Biochemie und Physiologie. Beim Sezieren von Meerestieren stieß Aristoteles auf die Frage nach dem Leben von Organismen. Ein toter Fisch bewegt sich nicht und verliert nach einer Weile die Form eines lebenden Organismus. „Was ist da passiert?“, fragte sich der Philosoph. Ein Lebewesen ist offensichtlich beseelt, vermutete er. Die Seele steuert die Bewegung und die Funktionen des Lebewesens. Sie hat aber beim Menschen eine zusätzliche Dimension, nämlich Sprache und Vernunft. „Die Funktion des Menschen,“ meinte Aristoteles, „ist die Aktivität der Seele in Übereinstimmung mit der Vernunft.“
Wie sollen wir diese Art von Aktivität überhaupt beurteilen? Mit den Kriterien der Naturwissenschaften kommen wir bei dieser Fragestellung nicht weiter. Es bedarf einer Ethik, um die Vielfalt menschlicher Handlungen und Einsichten zu verstehen. „Was ist ein guter Mensch?“, fragt sich Aristoteles in der Nikomachischen Ethik. Ein gutes Werkzeug erfüllt einen Zweck und ist durch seine Funktion bestimmt. Beim Menschen spielt aber die Finalität seiner Handlungen eine stärkere Rolle. Die Menschen scheinen, so Aristoteles, nach dem Glück zu streben. Hiermit ist nicht bloß Bedürfnisbefriedigung gemeint, sondern Selbstverwirklichung auf der Grundlage eines tugendhaften Lebens.
Die griechische Lebensform, die Aristoteles am besten kannte, war der Stadt-Staat (polis). Unter Tugenden verstand der Philosoph erworbene Eigenschaften, die den Menschen als Bürger ziemten. Tugenden sind lobenswerte Verhaltensweisen, die unsere Mitmenschen als solche anerkennen, wie zum Beispiel Klugheit, Großzügigkeit, Besonnenheit, Friedfertigkeit und Weisheit.
Eine Tugend, definiert der Philosoph, ist zwischen zwei Extremen angesiedelt. Der Mut zum Beispiel stellt die Mitte zwischen Angst und Tollkühnheit dar. Wer diese Tugendethik als allzu vorsichtig empfindet, mag sich vielleicht überlegen, wie wir uns leichtsinnig in Gefahr begeben, wenn wir im Alltag allzu unbesonnen und affektiv handeln.
Die gut lesbare Einführung in die Philosophie des Aristoteles, die John Sellars verfasst hat, ist für Psychologen geeignet, die sich für Entwicklungspsychologie interessieren, in welcher der werdende Mensch als Bürger zweier Welten betrachtet wird. Wir sind einerseits von der Natur geprägt, entwickeln aber unsere Tugenden im Laufe der Auseinandersetzung mit der sozialen Umgebung.
Indem Sellars auf die Rezeptionsgeschichte der aristotelischen Philosophie eingeht, erfahren wir, wie leicht es ist, das Werk eines großen Denkers zu vereinfachen und zu dogmatisieren. Der Autor empfiehlt eine skeptische Haltung dem „größten Philosophen der Welt“ gegenüber, der in seiner wissenschaftlichen Einstellung vorbildlich war. Aristoteles war neugierig bezüglich der Natur und zeichnete sich durch seine fragende Haltung aus. Obwohl es nicht jedem gegönnt ist, das kontemplative Leben eines Philosophen zu führen, sollten wir von Zeit zu Zeit innehalten und über uns und die Welt reflektieren.