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Philosophie

Die Stufen des Organischen und der Aufbau des Organismus

Autor*in:Hermann Ackermann
Verlag:Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2023, 244 Seiten
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:22.07.2023

Hermann Ackermann (geboren 1954), Professor für Neurologische Rehabilitation an der Universität Tübingen und zugleich studierter Philosoph, interessiert sich schon seit Jahrzehnten für Fragen der Anthropologie, wobei es bei seiner Sozialisation naheliegt, dass es sich dabei um Fragen sowohl der medizinisch-biologischen als auch der philosophischen Anthropologie handelt. Vor diesem Hintergrund überrascht seine hier besprochene Monografie Die Stufen des Organischen und der Aufbau des Organismus keineswegs – insbesondere, wenn man noch den Untertitel des Buches berücksichtigt: Eine überfällige Gegenüberstellung der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessers und der philosophischen Biologie Kurt Goldsteins.

Mit Plessner und Goldstein rückt Ackermann zwei Personen ins Zentrum seiner Untersuchung, die im 20. Jahrhundert beinahe zeitgleich, aber ohne voneinander groß Notiz zu nehmen, maßgebliche Texte zur Anthropologie publiziert haben: der Erstere Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) und der Letztere Der Aufbau des Organismus (1934). Plessner stieß als Zoologe zur Philosophie und berücksichtigte damit zeitlebens eine biologische Perspektive in seinen philosophischen und soziologischen Schriften; Goldstein hingegen war Arzt und Neurologe und geriet über seine engen Kontakte zur Gestaltpsychologie sowie zu seinem Cousin Ernst Cassirer und dessen Philosophie der symbolischen Formen (1923ff.) ins anthropologisch-philosophische Fahrwasser. Beide, Plessner wie Goldstein, waren aufgrund ihrer Abstammung nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 zur Emigration aus Deutschland gezwungen, und beide verlebten eine Phase ihres Exils in den Niederlanden (Plessner zuerst in der Türkei und dann in Groningen; Goldstein zuerst in Amsterdam und dann in den USA). Vor allem Goldsteins Arbeiten wurden aufgrund seiner Emigration erst in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum wieder zunehmend zur Kenntnis genommen

Obschon es also zwischen Plessner und Goldstein genügend biografisch-persönliche wie auch inhaltlich-publikatorische Kreuzungspunkte gegeben hätte, kam es zwischen den beiden Denkern zu keinem direkten Austausch ihrer Konzepte und Forschungsergebnisse. Diesem Mangel möchte Hermann Ackermann mit seiner Gegenüberstellung abhelfen, wobei er von der berechtigten Annahme ausging, dass ein derartiger (nachgeholter) Diskurs zwischen Plessner und Goldstein sowohl für die philosophische als auch für die medizinisch-biologische Anthropologie und damit auch für die aktuelle Debatte über diverse Merkmale und Qualitäten des Mensch-Seins (Stichworte hierfür sind etwa Neuro-Science, Embodiment oder Philosophy of Mind) gewinnbringend sein könnte.

Mit Plessner und Goldstein geht Ackermann in seiner Monografie der Frage nach den wesentlichen Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen der personalen Lebenssphäre von Menschen und den Lebenssphären anderer Lebewesen nach. Wesentlich ist ihm zu betonen, dass es sich bei den „typisch menschlichen“ Eigenschaften (Sprache, Selbstbewusstsein, Weltoffenheit, Kulturfähigkeit etc.) um Eskalations-Phänomene der kognitiven Infrastruktur non-humaner Lebensformen (S. 227), nicht aber um Monopol-Aspekte des Homo sapiens handelt. Menschen sind Tiere und damit zutiefst in den allgemeinen biologischen Organisationsweisen verankert. Zugleich ermöglicht die erwähnte Eskalation eine seit Jahrtausenden uns Menschen immer wieder neu verblüffende Innovations-Neigung und Schöpferkraft, deren Resultate wir als Kultur bestaunen oder aber als Un-Kultur zu fürchten gelernt haben. Diese historischen, wissenschaftlichen, künstlerischen, handwerklichen, mythologisch-religiösen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, philosophischen Resultate waren und sind jedoch nur möglich auf dem Fundament eines kontinuierlichen ökologischen Verhaltens unserer Spezies, bei dem es um den ständigen Abgleich unserer Präferenzen und Ressourcen mit den natürlichen und kulturellen Milieus geht, in denen wir unser Dasein sichern und aktualisierend verwirklichen.

Das Buch Hermann Ackermanns ist – neben all den interessanten Details, die ein nachholendes Gespräch zwischen Plessner und Goldstein zutage fördern kann – auch insofern lesens- und empfehlenswert, als es beispielhaft vor Augen führt, was unsere Aufgabe auch Jahrzehnte nach den faschistisch-totalitären Un-Zeiten sein kann und sein sollte: den Faden der Rezeption und des unterbrochenen oder nie stattgehabten Gesprächs mit und zwischen denen wieder aufzunehmen, die von unseren Großvätern und Urgroßvätern verjagt, verfemt und verachtet wurden.