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Kunst & Literatur

Tanz der seligen Geister - Erzählungen

Autor*in:Alice Munro
Verlag:Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2012, 379 Seiten
Rezensent*in:Babette Kozlik-Voigt
Datum:29.08.2024

Auf der Suche nach anschaulichem Material für ein Psychologie-Seminar stieß ich auf die Erzählungen der kanadischen Schriftstellerin Alice Munro (1931-2024). 2013 hatte sie, damals bereits an Demenz erkrankt, den Literaturnobelpreis erhalten. Tanz der seligen Geister ist eine Sammlung von 15 Geschichten, mit denen die Autorin 1968 den Durchbruch als Schriftstellerin erzielte. Für viele Leserinnen war Munro mit ihrer Erzählkraft eine der besten zeitgenössischen Schriftstellerinnen. Man las sie als „eine, die in ihren Geschichten gerade das Leben, Leiden und Lieben von Frauen verhandelt“ (NZZ).

Unlängst konnte man allerdings erfahren, dass diese Autorin den sexuellen Missbrauch ihrer damals 9jährigen Tochter durch den zweiten Ehemann vor sich und ihren Mitmenschen verschwieg; das ist irritierend und wirft ein problematisches Licht auf sie. Die Faszination ist umgeschlagen, und inzwischen spricht man von der Entzauberung dieser Schriftsteller-Ikone. Eine Kollegin bemerkte, ob es denn richtig sei, einer Frau, die über Jahre den Missbrauch der eigenen Tochter verschwiegen und den Mann nicht verlassen hat, überhaupt noch Aufmerksamkeit zu schenken.

Ich begann dennoch die Geschichten zu lesen, um mir einen Eindruck vom Werk Munros zu verschaffen. Es sind alltägliche und oft auch sehr ungewöhnliche Szenenfolgen, in denen sich aus hingeworfenen Bemerkungen, lapidaren Bemerkungen, Erinnerungen an Gerüche und Farben, ohne psychologisierende Kommentare eine Welt zwischenmenschlicher Beziehungen vor dem Leser auftut – genauer, misslingender Zwischenmenschlichkeit. Manches davon ist vordergründig komisch, und bald ahnt man, dass die Geschichte unverhofft eine unerwartete Wendung des Geschehens bekommen wird - alles fast normal, scheinbar harmlos, heimlich, manchmal unheimlich, beklemmend.

In diesen Geschichten steht oft etwas Unausgesprochenes im Raum. Es entsteht eine Spannung, die man nicht sofort versteht, und man erwartet irgendwie Tragisches, obwohl es sich keineswegs offenkundig zeigt. Und immer deutet sich als sozialer Hintergrund eine Welt an, in der die Beteiligten um ihren gesellschaftlichen Status kämpfen. Bei Munros Erzählungen gibt es kein glückliches Ende, aber auch kein unglückliches; wir bleiben nachdenklich zurück, dürfen uns unseren eigenen Reim darauf machen und unsere eigenen Erinnerungen dazu überdenken.

Für mein Seminarvorhaben, dessen war ich jetzt sicher, sind diese Geschichten ein ausgesprochen passender Fund. Einerseits erfassen die erzählten Beobachtungen phänomenologisch subtil die Versuche Einzelner, die ihnen gesetzten Grenzen auszuhalten oder doch zu überschreiten und zu durchbrechen. Wie verträgt sich aber andererseits dieser Beobachterblick der Autorin Munro damit, was eben über den Menschen Alice Munro gesagt wurde. Warum blieb bei ihr das Gesehene (Missbrauch) ohne eine entschiedene und verändernde Konsequenz?

Am Beispiel Rotes Kleid – 1946, so der Titel einer Geschichte, soll gezeigt werden, wie die Autorin eine ganze Lebenswelt evoziert. Die ersten Seiten zeigen eine Mutter, die für ihre 13Jährige mit Hingabe mühsam an einem roten Samtkleid näht, um sie für den High-School-Ball auszustaffieren. Doch insgeheim sehnt sich die Tochter zurück hinter die sicheren Grenzen der Kindheit. Die Jugendliche, deren Namen wir nicht erfahren, beschließt: Es musste etwas passieren, damit mir dieser Ball erspart blieb. Sie versucht, sich den Fuß zu verstauchen oder eine Grippe zu provozieren. Es gelingt nicht, sie bleibt vollkommen gesund. Schließlich ist der befürchtete Tag da, und die Mutter betrachtet ihr Werk: Das Kleid war im Prinzessstil, mit sehr engem Oberteil. Ich sah, dass meine Brüste in dem neuen steifen Büstenhalter unter den kindlichen Rüschen des Kragens überraschend und mit steifer Würde aufragten. So angetan, geht das Mädchen mit ihrer Freundin auf den Ball.

Der erste Tänzer, der Held der Schule, muss den Reigen mit ihr beginnen und lässt sie schließlich einfach stehen: Er durchschritt die Korridore mit einer Miene königlicher Verdrossenheit und grausamer Verachtung. Mit einem solchen Niemand wie mir tanzen zu müssen, war für ihn ebenso beleidigend, wie Shakespeare auswendig lernen zu müssen. Während die anderen tanzen, steht sie am Rand und ist überzeugt: Ich hatte etwas Geheimnisvolles an mir, etwas, das sich nicht abstellen ließ … und alle wussten es und ich wusste es auch; ich hatte es die ganze Zeit über gewusst. Aber ich hatte es nicht mit Sicherheit gewusst, ich hatte gehofft, mich zu irren.

Nach dieser demütigenden Erfahrung flieht sie auf die Mädchentoilette, trifft dort auf eine Leidensgenossin und beide beschließen, das Fest zu verlassen. Beim Durchqueren des Tanzsaals geschieht jedoch etwas Unerwartetes: Ein Junge sagte etwas zu mirIch verstand nicht, dass er mich zum Tanzen aufforderte, bis er es wiederholte…Er legte mir den Arm um die Taille, und fast ohne Absicht begann ich zu tanzen… Meine Beine hatten vergessen zu zittern, und meine Hände hatten vergessen zu schwitzen. Dieser Raymond wird sie schließlich auch nach Hause bringen. Die Annährung erreicht ihren Höhepunkt, als ihm in der Winterkälte zunehmend die Nase zu laufen beginnt. Sie teilt mit ihm zögernd ihr angeschmuddeltes Kleenex, das der Schniefende dankend annimmt, sie zuletzt mit einem kurzen Kuss auf den Mundwinkel verabschiedet und nicht ahnt, dass er mit seiner Geste ihr Retter war.

Daheim angekommen, ist die erstaunt-beglückte Bilanz des Mädchens: Ich bin auf einem Ball gewesen, ein Junge hat mich nach Hause gebracht und hat mich geküsst. Es ist alles wahr. Mein Leben ist möglich. Es folgt die Begegnung mit der Mutter, die darauf wartet, dass ich nach Hause kam und ihr alles erzählte… Und das wollte ich nicht, auf keinen Fall. Dann erblickt sie jedoch die Mutter in ihrem ausgeblichenen, fusseligen Paisley-Morgenrock, mit ihrem müden, aber hartnäckig erwartungsvollen Gesicht, da verstand ich, welch eine geheimnisvolle und bedrückende Pflicht ich hatte, glücklich zu sein, und dass ich bei dem Versuch, diese Pflicht zu erfüllen, beinahe gescheitert wäre und wahrscheinlich jedes Mal scheitern würde, ohne dass meine Mutter es ahnte.

Damit endet diese Erzählung und lässt wie die anderen Geschichten im Leser kaum Hoffnung aufkommen, dass Menschen einander wirklich nahekommen. Unterschwellig und zuweilen aber auch in scharfer Unerbittlichkeit zeigt sich die Lebenswelt als Ort potenzieller Bedrohung und Entfremdung, an den die Beteiligten geheimnisvoll gefesselt sind.

Die anfängliche Frage, ob wir mit unserem doch nur recht punktuellen Wissen über Alice Munros biografische Verstrickungen dieser Autorin und ihrem Werk weiterhin Raum der Lektüre und der Reflexion geben sollten, möchte ich mit einem eindeutigen „Ja“ beantworten. Als Psychotherapeuten liegt unsere Aufgabe bei aller nachvollziehbaren ethisch-moralischen Positionierung vor allem im wiederholten Versuch des Verstehens unseres Gegenübers, selbst wenn diesem Gegenüber Verantwortung für höchst destruktive Verhältnisse zukommt. Ein verstehender, erkennender und benennender Zugang zu den problematischen Seiten unserer Mitmenschen (und von uns selbst) anstelle einer exkommunizierenden Haltung bietet auch am ehesten die Chance, die häufig transgenerationale Vererbungskette destruktiver Einstellungen und Handlungen zu unterbrechen und die gesellschaftliche Bewusstheit für Phänomene wie sexualisierte Gewalt zu steigern.