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Kunst & Literatur

Monas Augen. Eine Reise zu den schönsten Kunstwerken unserer Zeit

Autor*in:Thomas Schlesser
Verlag:Piper, München 2024, 496 Seiten
Rezensent*in:Ulrich Kümmel
Datum:08.01.2025

Thomas Schlesser ist Kunsthistoriker und Geschichtenerzähler. Er ist Direktor der Fondation Hartung-Bergmann in Antibes, Frankreich. Das Buch ist in Frankreich ein großer Erfolg und steht in Deutschland auf der Spiegel-Bestsellerliste. Schlessers großes Anliegen ist es, Kunst einem breiten Publikum zugänglich zu machen – ein Ziel, das ihm mit der Herausgabe dieses Buches eindrucksvoll gelungen ist.

Monas Augen erzählt die bewegende Geschichte von Mona, einem zehnjährigen Mädchen, das in Gefahr steht, ihr Augenlicht zu verlieren. Mona stammt aus einer gutbürgerlichen Familie. Der Vater, der einen kleinen Antiquitätenladen betreibt, ist allerdings Alkoholiker. Die Eltern – insbesondere die Mutter – sind sehr besorgt und setzen alles daran, die Sehkraft ihrer Tochter zu retten. Auf Empfehlung des Hausarztes wird Mona in einer Spezialklinik von einem renommierten Kinder- und Augenspezialisten behandelt. Es wird schnell klar, dass das Mädchen unter einem traumatischen Kindheitserlebnis leidet, das in der beginnenden Pubertät aktiviert wurde. Worum es sich bei diesem Familiengeheimnis genau handelt, vermittelt der Autor erst zum Schluss seines Buches.

Die Hauptfiguren des Romans sind neben Mona ihr geliebter Großvater Henry, ein hochgebildeter Mann mit tiefem Kunstverständnis. Henry fürchtet, die geliebte Enkelin könnte im Falle ihres Erblindens nur die banalen Bilder ihres Kinderzimmers im Gedächtnis behalten, während ihr die Welt der Kunst und der Schönheit für immer verschlossen bliebe.

Als der Arzt den Eltern rät, Monas Therapie wöchentlich von einem Kindertherapeuten begleiten zu lassen, bietet sich Henry an, diese Aufgabe zu übernehmen. Statt sie jedoch zum Therapeuten zu bringen, besucht er mit ihr jede Woche mittwochs den Louvre, danach das Musée d'Orsay und schließlich das Centre Pompidou. Dabei verfolgt er ein ungewöhnliches Konzept: Auf Wunsch des Großvaters widmet sich Mona nur einem einzigen Kunstwerk. Henry möchte ihre Wahrnehmung für die Schönheit der Kunst schärfen und ihre Sensibilität für das Außergewöhnliche wecken. Er ist überzeugt, dass dies mehr zu ihrer geistigen Gesundung beitragen kann als jede therapeutische Sitzung. In dieser Frage spielt natürlich die gute gegenseitige Beziehung eine entscheidende Rolle.

Im Gegensatz zu den meisten Touristen, die von einem Kunstwerk zum nächsten hetzen, nehmen sich Mona und Henry die Zeit, jeweils ein Kunstwerk in aller Ruhe zu betrachten. Zunächst widmet Mona fünf Minuten der stillen Betrachtung, später sogar bis zu einer halben Stunde. Anschließend diskutieren die beiden über ihre Eindrücke. Gemeinsam entwickeln sie für jedes Werk einen Leitgedanken. Die tiefgründigen Gespräche zeigen Monas außergewöhnliche Wahrnehmungsfähigkeit und ihre zunehmenden sprachlichen Fähigkeiten. Beeindruckend ist ihre Begeisterung für die einzelnen für Laien schwer verständlichen Kunstwerke, selbst bei der Betrachtung moderner Kunst.

Der Vorgang dieser Kunstbetrachtungen mit der Methode einer längeren stillen Auseinandersetzung und einem anschließenden Gespräch könnte als Schulung dafür dienen, in welcher Weise wir in Zukunft an außergewöhnliche Gemälde annähern. Leider fehlen uns bei einer solchen Übung die genaueren Hinweise eines uns begleitenden Experten.

Diese intensiven gemeinsamen Bildbetrachtungen erstrecken sich im Roman über ein Jahr. In den Zwischenzeiten erleben wir Mona nicht nur als kunstinteressiertes Mädchen, sondern auch ihren Alltag mit all den Herausforderungen der Kindheit wie Unsicherheiten, Konflikte im Schulalltag, den ersten Erfahrungen der Liebe. Die Alkoholabhängigkeit ihres geliebten Vaters ist für das sensible Mädchen schwer zu verkraften.

Im Zentrum dieses Buches steht die Bedeutung der Kultur für unsere Entwicklung bis hin zu der Möglichkeit, psychische Erkrankungen zu lindern. Der Leser wird eingeladen, sich auf die detaillierte Auseinandersetzung mit 52 herausragenden Kunstwerken einzulassen – ein Prozess, der Geduld und Hingabe erfordert. Das Besondere und Reizvolle ist die Kombination aus einer erzählerischen Rahmengeschichte und sachlichen Bildbetrachtungen.

Der Großvater Henry vermittelt eine neue Perspektive auf Kunst: Er zeigt, dass der Anblick eines Kunstwerks, wenn man sich intensiv darauf einlässt, unseren Blick auf das Leben erweitern, unsere Sinne für die Schönheit schärfen und unsere Persönlichkeit nachhaltig fördern kann. Henry ist überzeugt, dass uns jeder große Künstler innerlich wachsen lässt, wenn wir die Kraft aufbringen, uns wirklich auf ihn einzulassen. Die enge Beziehung zwischen Mona und ihrem Großvater unterstreicht zudem die Bedeutung liebevoller familiärer Bindungen in schwierigen Lebenssituationen.

Ein kleiner Schwachpunkt der Geschichte liegt in der unrealistischen Darstellung der Vereinbarung zwischen den Eltern und dem Großvater: Besonders die überbesorgte Mutter würde vermutlich kaum so lange darauf verzichten, die Besuche ihrer Tochter beim Kindertherapeuten zu überprüfen. Auch die späte Aufklärung des Familiengeheimnisses wirkt stellenweise etwas in die Länge gezogen. Zudem erscheint die Beziehung zwischen Mona und ihrem Großvater idealisiert.

Trotz kleiner Schwächen überwiegen die Stärken von Monas Augen. Es inspiriert, Kunst auf eine neue, intensive Weise zu erleben, und verbindet eine emotionale Geschichte mit künstlerischer Reflexion. Dieses besondere Buch spricht sowohl Kunstliebhaber als auch erzählerisch interessierte Leser an und empfiehlt sich, in kleinen Portionen gelesen zu werden, um die Tiefe der Betrachtungen zu genießen.