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Rezensionen
ITGG Berlin - Rezensionen
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Kunst & Literatur

Lichtungen

Autor*in:Iris Wolff
Verlag:Klett-Cotta, Stuttgart 2024, 256 Seiten
Rezensent*in:Marlies Frommknecht-Hitzler
Datum:17.10.2024

„Wann kommst du?“ steht auf der Postkarte, die Lev von Kato bekommt. Er lebt in Rumänien, sie zur Zeit in Zürich. Sie hatte ihm fünf Jahre lang aus jedem europäischen Land, in das sie als Straßenmalerin gereist war, eine Karte geschickt. Die Frage wirkt auf ihn wie eine Mahnung, endlich zu ihr in den Westen zu reisen, und er macht sich auf den Weg.

Iris Wolff, die diesen Roman geschrieben hat, stammt selbst aus Rumänien, ist in Siebenbürgen geboren und im Banat aufgewachsen. Als sie acht Jahre alt ist, emigriert die  Familie nach Deutschland. Heute lebt sie als Schriftstellerin in Freiburg. Sie hat schon mehrere Romane veröffentlicht, der letzte war Die Unschärfe der Welt.

In Lichtungen befinden wir uns in der Ceausescu-Zeit und der allmählichen Öffnung Rumäniens. Es wird die Geschichte der Beziehung zwischen Kato und Lev erzählt, eine besondere Beziehung. Kato und Lev lernen sich als Kinder kennen, als Lev, unfähig seine Beine zu bewegen, im Bett liegt. Die Lehrerin hatte Kato zu ihm geschickt, damit er mit dem Schulstoff auf dem Laufenden bleibt. Zuerst hatte sich Lev dagegen gewehrt, dass dieses Mädchen zu ihm kommt, aber bald schon freut er sich auf die Nachmittage mit ihr.

Lev ist ein stiller, in sich gekehrter Junge, der nicht viel spricht, jedoch sehr genau aufnimmt, was um ihn herum geschieht. Während er im Bett liegt, nimmt er intensiv das Leben der Familie wahr, aber wir spüren auch seine Einsamkeit. Kato ist impulsiv, auch sie hat einen genauen Blick auf die Welt um sich herum und setzt das Gesehene zeichnerisch um; immer „kritzelt“ sie, so nennen es die anderen Kinder.

Beide sind Außenseiter. Lev und Kato freunden sich an, und ihr kann er das Trauma erzählen, weswegen er unfähig geworden ist zu gehen. Und später erfahren wir das Ereignis, das ihn aus dem Bett befreit. Kato entscheidet sich spontan, mit einem jungen Mann, der mit dem Fahrrad die Welt erkundet, in den Westen aufzubrechen.

Für Lev ist das schwer zu verkraften, aber er akzeptiert ihren Aufbruch und bewahrt ihren Hausschlüssel auf. Sein Leben spielt sich in Rumänien ab. Er wird zum Militärdienst eingezogen,  verweigert den Eid und wird strafversetzt, beginnt danach als Waldarbeiter wie seine Brüder, und weil er dazu nicht geeignet ist, wird er Gehilfe im Büro des Chefs. Später arbeitet er als rechte Hand seines Chefs in dessen Sägerei.

Das Buch beginnt mit der Begegnung zwischen Kato und Lev in Zürich, mit dem neunten Kapitel, und bewegt sich zurück zum ersten. In bilderreichen Erzählungen werden wir so zum Früheren geführt und mit der Geschichte dieser beiden Menschen vertraut – wie man in einem Tagebuch zurückblättert. Dieses Vorgehen ist etwas gewöhnungsbedürftig. Meine Freundin las deswegen den Roman von hinten nach vorn, und wie die Autorin erzählte, tun das durchaus mehr Leser. Ich konnte mich auf die vorgegebene Schreibweise einlassen. Was mir an diesem Roman imponiert hat, ist die poetische Sprache, die mit feinen Andeutungen eine Person, eine Situation darstellt. Es ist ein liebevoller Blick. Und - wir erfahren auch vom Leben in Rumänien, einem Land, das vielen von uns fremd ist.