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Kunst & Literatur

Kafka - Um sein Leben schreiben

Autor*in:Rüdiger Safranski
Verlag:Hanser Verlag, München 2024, 268 Seiten
Rezensent*in:Doris Schildknecht
Datum:10.03.2024

Zum 100. Todesjahr Franz Kafkas erschien Rüdiger Safranskis Buch über diesen Jahrhundertschriftsteller der Weltliteratur. Safranski schildert Kafkas Leben und analysiert dabei die Motive für sein Schreiben. Insofern grenzt er sich von vielen Interpreten des Dichters im Jubiläumsjahr 2024 ab, die auf die Deutung von Kafkas Werk den Schwerpunkt ihrer Abhandlungen legen.

Franz Kafka wird 1883 als ältestes Kind des jüdischen Kaufmanns Hermann Kafka und seiner Frau Julie (geb. Löwy) in Prag geboren. Zwei seiner Brüder sterben früh, seine drei Schwestern Elli, Valli und Ottla sterben später in Konzentrationslagern. Er besucht das Gymnasium und die Deutsche Universität (Jura und Germanistik) in Prag. 1906 beginnt sein Arbeitsleben, er wird ein erfolgreicher Beamter bei der Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt in Böhmen. Kafka wird mehrmals befördert und aufgrund seiner Tuberkulose-Erkrankung zwei Jahre vor seinem Tod im Jahr 1924 pensioniert.

Früh beginnt Kafka mit der Schriftstellerei, die er bevorzugt abends und nachts realisiert. Während seines Lebens unterhält er vier Frauenbeziehungen, die sein Schreiben beeinflussen. Immer wieder wird dabei der Konflikt zwischen den Impulsen, eine Ehe einzugehen, und seinem Drang, ganz Schriftsteller zu sein, offenkundig: Mit Felice Bauer ist er von 1912-1918 mit Unterbrechungen und zweimaliger Verlobung zusammen; dann folgt die Verlobung und geplante Heirat mit Julie Wohryzek (1919/20). Seine Beziehung mit der Journalistin Milena Jesenska, die ihren Höhepunkt im Sommer 1920 hat, verläuft unglücklich. Jahre später, 1923 bis zu seinem Tod 1924, ist er einigermaßen glücklich mit der Schauspielerin und politischen Aktivistin Dora Diamant liiert.

„Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und ich kann nichts anderes“, schreibt Kafka an seine Verlobte Felice Bauer. Für ihn hat sein Leben jenseits des Schreibens keine Bedeutung. Nur im Schreiben, nicht in einer Beziehung, findet er Erfüllung. Die frühen Schreibversuche in Kindheit/Jugend haben für Kafka einen geringen Stellenwert, da sein Vater und auch sein Onkel abwertende Bemerkungen zu seinen ersten Textversuchen geäußert haben. Während seiner Schul- und Studienzeit wird Oskar Pollak, der spätere Kunsthistoriker, ein treuer, literarischer Begleiter. Er ermöglicht ihm die Teilnahme an der modernen zeitgenössischen Literaturszene in Prag. Max Brod, Schriftsteller und Theaterkritiker, lernt er bereits Anfang seines Studiums kennen; er wird ihm lebenslang sein Freund und Verleger bleiben.

Kafkas erstes Buch Betrachtung, 1912 erschienen, als Kafka 29 Jahre alt war, umfasst eine Textsammlung. Darin enthalten ist auch die Kurzgeschichte Das Unglück des Junggesellen, die aufschlussreich für Kafkas Ringen ums Schreiben ist, wenn er z.B. in seinem Tagebuch notiert, dass das „Junggesellentum … aus der Perspektive des Schreibens womöglich eine notwendige Lebensform [ist], von der bürgerlichen Normalität und von der religiösen Tradition her gesehen aber … Unglück [bedeutet] und … mit Schuldgefühlen belastet [ist]“.

Kafkas erste Buchveröffentlichung ist für ihn mit einem deutlich gesteigerten, literarischen Selbstwertgefühl verbunden; als Schüler und Student fühlt er sich stets als Versager, obwohl er immer einer der Besten ist. Trotz des strengen und bestimmenden Vaters unternimmt Kafka keine Anstrengungen, aus seinem Elternhaus auszuziehen; dieser (der Vater) erwartet von ihm die Fortsetzung des sozialen Aufstiegs und bringt für seine literarischen Interessen überhaupt kein Verständnis auf. Kafka bewegt sich in jüdisch-assimilierten und künstlerischen Kreisen Prags. Bei einer Begegnung mit einer ostjüdischen Schauspieltruppe im Jahr 1911 setzt er sich intensiv mit der jüdischen Religion sowie mit dem Zionismus auseinander. Ein Palästina-Reise wird von ihm geplant, aber nie durchgeführt.

In nur einer Nacht, vom 22. auf den 23. September 1912, schreibt Kafka die Erzählung Das Urteil. Eine Geschichte für Felice B. nieder. In ihr thematisiert Kafka seine Macht-Ohnmacht-Beziehung zum Vater. Der Protagonist Georg suizidiert sich auf Befehl des Vaters nach einem Streit mit ihm. Kafka fühlt sich nach dem Verfassen dieser Erzählung erleichtert, habe das Schreiben doch zu einer vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele geführt. Durch das Schreiben findet Kafka eine gewisse Selbstakzeptanz, „mein Leben besteht und bestand von jeher aus Versuchen zu schreiben …. Schrieb ich aber nicht, dann lag ich schon auf dem Boden, wert, hinausgekehrt zu werden.“ Sein Anderssein wird von seiner Familie verurteilt, was er in seiner Erzählung Die Verwandlung (1915) thematisiert.

Kafka warnt Felice 1914 vor einer Ehe mit ihm: „[Es erwartet dich] ein klösterliches Leben an der Seite eines verdrossenen traurigen, schweigsamen, unzufriedenen, kränklichen Menschen, der … mit unsichtbaren Ketten an eine unsichtbare Literatur gekettet ist und der schreit, wenn man in die Nähe kommt.“ Kafka erlebt sich nach der Entlobung mit Felice wie ein „Verbrecher nach der Tat“. Dieser Vorgang ist für ihn mit einer sehr kränkenden Auseinandersetzung mit Felice, ihrer Schwester und einer Freundin verbunden. In der Kurzgeschichte Der Prozess (veröffentlicht 1925) spiegeln 3 sich diese Ereignisse wider. Ein Mann wird ohne erkennbare Schuld verhaftet, in einem langen Prozess verurteilt und dann hingerichtet. Die Anklage ist in dieser Geschichte nicht nachvollziehbar, und Kafka greift damit ein latentes Schuldgefühl auf, das er gegenüber Felice, seiner Familie und seiner Arbeit hat. Er weiß, dass er seine Lebenspflichten zugunsten des Schreibens vernachlässigt.

1917 erleidet Kafka zwei Blutstürze. Er selbst interpretiert den Ausbruch seiner Tuberkulose-Erkrankung als Zäsur und hört auf, seine Mängel zu beklagen. Seine niederschmetternden Lebensbilanzen werden u.a. auch durch politische Ereignisse beeinflusst: Der Untergang des Habsburgerreiches und die Gründung eines tschechischen Staates zeichnen sich ab. In Prag kommt es im Winter 1917/18 zu Hungerrevolten und Streiks. Ende April 1918, er kehrt erholt von einer Kur nach Prag zurück, erkrankt Kafka an hohem Fieber und verbringt erneut einen mehrmonatigen Genesungsurlaub in einem nahegelegenen Kurort bei Prag.

Dort lernt er Julie kennen und wird wieder mit dem quälenden Konflikt konfrontiert, einerseits heiraten zu sollen und die gesellschaftliche Rolle als Ehemann und Ernährer einer Familie zu übernehmen, und andererseits seinem Wunsch nachzugeben, sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. In der Verlobungszeit mit Julie vollendet er seinen Brief an den Vater, in dem er mit dem strengen Vater abrechnet. Er gibt ihm die Schuld für seine Unfähigkeit, eine Ehe einzugehen.

1920 verliebt sich Kafka in die selbstbewusste Journalistin Milena. Sie hält sich in der Wiener- und Prager literarischen Szene auf und schreibt Feuilletons für Zeitungen. Im Sommer Juni 1920 kommen beide für kurze Zeit zusammen; sie entscheidet sich, mit Kafka keine Beziehung einzugehen und in ihrer langjährigen Ehe zu bleiben.

In der neugegründeten tschechoslowakischen Republik brechen nationale Unruhen auf, wobei auch Juden verfolgt werden. Ein gewöhnliches Leben kann sich für Kafka in Prag nicht einstellen. Im Januar 1920 beginnt er in einem Ort im Riesengebirge mit dem Verfassen seinem unvollendet gebliebenen Roman Das Schloß. Kafka kostet in diesem Roman die unendlichen Möglichkeiten des Imaginären aus. Im Schreiben ist alles offen, alles hängt von ihm, seinem schöpferischen Einfall ab.

Kafka geht 1922 vorzeitig in Pension. Im Sommer 1923 reist er mit seiner Schwester Elli und ihren Kindern nach Müritz an die Ostsee. Dort lernt er Dora kennen. Sie werden ein glückliches Paar, ihm gelingt endlich die Ablösung vom Elternhaus. Während ihres Zusammenlebens in Berlin und Wien entstehen weitere Erzählungen. 1924 stirbt Kafka an Tuberkulose in einem Sanatorium in der Nähe von Wien.

Rüdiger Safranski stellt Kafkas existentielles Bedürfnis zu schreiben in den Mittelpunkt seiner Analyse. Durch die Verknüpfung von Biografie und Textzitaten von Kafka entsteht ein lebendiges Porträt des Literaten. Safranski schildert eindrücklich Kafkas innere Zerrissenheit, einerseits gesellschaftliche Pflichten in Bezug auf Beruf und Familie erfüllen zu wollen, und andererseits seinen Wunsch, sich dem Schreiben hinzugeben. Kafkas Einsamkeit, seine starken Versagensängste und seine inneren Konflikte zwischen angepasstem und künstlerischem Leben belegt der Autor mit zahlreichen Zitaten aus Kafkas Briefen und Tagebüchern.

Kafka (so Safranski) befreit sich immer wieder von seinen Selbstzweifeln, indem er seine innere Fantasiewelt in Form von Erzählungen für die Öffentlichkeit zugänglich macht. Durch die Herausarbeitung der Schreibmotive ist es Safranski gelungen, einen nachvollziehbaren Zugang zu Kafkas Persönlichkeit zu finden. Seine oftmals surrealen und Albträumen ähnelnden Erzählungen sind heute aktueller denn je - spiegeln sie doch das oftmals groteske und unwirklich-reale Geschehen in unserer Welt wider.